Der Klassik-Kompass
Ausgewählte Werke klassischer Musik auf Tonträgern im Spiegel ihrer Interpretationen
Warum gibt es jetzt einen Klassik-Kompass und wozu will er dienen?
Wir sind vor Jahren auf die Idee gekommen, als sich ein junger (wir nahmen damals an, er müsse jung gewesen sein) Redakteur des letzten verbliebenen Klassik-Magazins Deutschlands bei seinem Vergleich der Berwald-Sinfonien despektierlich über Igor Markewitsch äußerte. Dabei differenzierte er nicht, meinte also nicht nur Markewitschs Berwald-Aufnahme um die es eigentlich gehen sollte, sondern den Dirigenten persönlich und mit ihm sein ganzes Aufnahme-Vermächtnis. „…Markewitsch, der ja bekanntlich kein Genie war…“ Dabei ging Monsieur Markewitsch bereits mit zarten 14 Jahren Kompositionsstudien in Paris bei Nadja Boulonger nach und studierte mit ihr Strawinskys "Le Sacre du Printemps" ein. Darüber hinaus hatte der andere Igor, Igor Strawinsky, große Sorge, dass der junge Markewitsch ihm seinen Rang als Komponist streitig machen könnte. Nun über Herrn Markewitsch ließe sich noch viel erzählen, das ist aber jetzt nicht das Thema. Dieses Fehlurteil war jedenfalls die Initialzündung für uns, zu versuchen es zumindest ein klein wenig besser zu machen.
Es wurde uns bewusst, dass da wohl bereits Wissen verloren gegangen ist, d.h., dass der Autor wohl noch nicht in hinreichender Bandbreite mit Igor Markewitschs Aufnahmen zu tun hatte. Will meinen: Er kannte sie, außer der gerade gehörten Berwald-Sinfonie, sehr wahrscheinlich gar nicht oder noch schlimmer: Er kannte sie nicht und wusste sie nicht in die Aufnahmegeschichte einzuordnen und gelangte dennoch zu einem für einen Dirigenten und Musiker dieses Kalibers vernichtenden Falschurteil. Tote erlauben sich nur selten Einspruch zu erheben.
Dies war allerdings nur das auslösende Moment. Andere, die man ihm an die Seite stellen könnte, fanden und finden wir genug. Gerade im Internet mit den leichtfertig angebrachten "Bewertungen" allenthalben. Dem drohenden Verlust an musikalischem Kulturgut könnte man in diesem speziellen Fall nur entgehen, wenn man die verschiedenen Einspielungen eines Werkes in Relation zu anderen setzen und wertend miteinander vergleichen würde, und sich dabei nicht nur mit der gerade erschienenen Neuaufnahme verkürzt auseinandersetzt. Wie zum Beispiel bei unserem Vergleich von Einspielungen von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Wir wollen an dieser Stelle noch nicht verraten, wo Markewitschs Einspielungen dieses Werkes in unserem Vergleich "gelandet" sind. Wer möchte, kann gerne sogleich nachschauen. Nicht selten werden bei dieser Vorgehensweise die gerade so hoch gelobten Neueinspielungen auf den Boden der Realität zurückgeholt und ihnen ein angemessener Platz in der Aufnahmegeschichte des Werkes zugewiesen.
Ein Vorbild für die nunmehr ins Auge gefasste Unternehmung war und ist das Klassik-Prisma Bernd Stremmels. Auf Klassik-Prisma. de lieferte uns der Autor damals genau das richtige Anschauungsmaterial, wie man das Wissen über die Interpretation klassischer Musik am Leben erhalten und die dabei beteiligten Künstler vor Vergessen bewahren könnte. Im regen Austausch konnten wir mit unserem Vorbild und Mentor wichtiges auch über die Art und Weise der Präsentation lernen, wenngleich es uns bisher nicht gelungen ist, die Erkenntnisse und Erlebnisse in so kurze wie treffende Worte zu fassen wie er.
Unser Brevier soll, wie das „Klassik-Prisma“, keine Empfehlungen für augenblicklich vertriebene CDs aussprechen (der Markt verändert sich von Jahr zu Jahr, ist von Land zu Land unterschiedlich), sondern möchte – ganz im Gegenteil - einen Überblick über das ganze Spektrum der Schallaufnahmen von ca. 1930 bis heute geben sowie die Interpretationen bewerten, damit der Leser die Leistungen auch bereits vergessener Größen der Szene einschätzen kann und der um Rat fragende Freund oder die um Rat fragende Freundin klassischer Musik eine Orientierung an die Hand gegeben wird.
Der eine oder andere Sammler wird seine Lieblingsaufnahme vermissen – das liegt in der Natur der Sache – ein einzelner Autor, selbst wenn er immer von "wir" spricht, kann nicht alle Einspielungen kennen. Zu hoffen ist aber, dass noch viele andere CDs oder Downloads durch unsere Empfehlungen zu Lieblings-CDs des Lesers oder der Leserin werden und seine bzw. ihre Sammlung fortan bereichern.
Auch wird der lesende Sammler, Musikfreund oder Musiker hier und da der Meinung des Autors widersprechen wollen. Dass sich der Geschmack und die Auffassung des Lesers und des Autors kreuzen und zu verschiedenen Ergebnissen kommen, ist vorprogrammiert. Einer Interpretation, die z.B. nur die Strukturen der jeweiligen Komposition nachzeichnet, fehlt etwas Entscheidendes, die Atmosphäre. Musik auf Tonträger muss auch die werkimmanente Atmosphäre vermitteln, wenn sie nicht steril erscheinen will.
Die auf CDs, LPs oder Dateien festgehaltenen Interpretationen lassen gewiss nicht nur eine Sicht zu, das macht Musikhören und Vergleichen so interessant und spannend und regt gleichzeitig an, sich mit der jeweiligen Komposition noch intensiver zu beschäftigen.
Die Zeitangaben beziehen sich nicht auf die Angaben der Hersteller (Booklet, Hülle oder CD-Box), sondern beziehen sich auf die Nettospielzeit, d.h. die unterschiedlich langen Pausen zwischen den Sätzen oder Beifallskundgebungen werden nicht mit gemessen.
Nicht immer konnte der genaue Zeitpunkt einer Aufnahme ermittelt werden. Bei Produktionen der letzten Jahre wird er meistens vermerkt, in älteren Ausgaben sowohl bei LPs als auch CDs fehlt er sehr oft. Hier findet man dann das Jahr der Veröffentlichung angegeben, z. B.: (P) 1974. Oder gar nichts.
Dieser Überblick über CDs und LPs, "Dateien", die vielleicht noch auf CD erscheinen werden, soll von Zeit zu Zeit mit neuen Veröffentlichungen erweitert und auch aktualisiert werden. Es lohnt sich also, regelmäßig oder von Zeit zu Zeit hier herein zu schauen. Sie werden unter „Neu im Klassik-Kompass“ vorgestellt. So wenigstens der Plan.
Wir haben versucht, die Aufnahmen zu charakterisieren, mit anderen uns zur Verfügung stehenden Interpretationen zu vergleichen und schließlich zu bewerten. Die Frage, "ist es schön gespielt?", ist nachrangig, zunächst muss geklärt werden, ob der Interpret, die Interpretin, der Dirigent den Anforderungen des Notentextes, der Partitur, in der Aufnahme gerecht wird. Die Bewertung erfolgt in einer Skala von 5 bis 1 (siehe nächste Seite: „Die Crux mit der Bewertungsskala“), dabei ergibt sich eine ungefähre Reihenfolge von der besten bis zur schlechtesten Interpretation, wobei wir festhalten möchten, dass eine Interpretation, die den letzten Platz einnimmt, nicht unbedingt auch schlecht sein muss, da das Interpretationsniveau manchmal ausgesprochen hoch ist. Bei vielen Aufnahmen innerhalb einer Bewertungskategorie müssten die meisten in der Tabelle nebeneinander und nicht untereinanderstehen, das ist jedoch technisch nicht möglich, d.h.: die Interpretation, die vorne gelistet wird, ist nicht a priori besser als die dahinter platzierten. Im Großen und Ganzen ist jedoch schon ein gewisses Qualitätsgefälle an der Reihenfolge abzulesen. Wir versuchen immer die Einordnungen mittels eines Textes zu begründen. Wir versuchen auch erzeugte Emotionen einfließen zu lassen, denn was wäre Musik ohne Emotionen? Allerdings ist es völlig offen, ob der Leser bei Anhören der betreffenden Einspielung ähnliche oder gar dieselben Emotionen empfindet. Das bleibt subjektiv.
Man kann den Standpunkt vertreten, dass eine Bewertung von Musikaufnahmen ein Widerspruch in sich sei, da jede Interpretation ihren eigenen unverwechselbaren Wert besitzt, der sich auf der jeweiligen Realisation des Notentextes sowie des Geschmacks des/der Ausführenden gründet. Dem kann man schwerlich widersprechen. Nur die Resultate, die uns auf Tonträgern entgegentreten, fallen nun einmal einfach recht unterschiedlich aus. Beim Blick in den Notentext werden dann doch Stärken und Schwächen offenbar, insbesondere dann, wenn verschiedene Interpretationen desselben Werkes nebeneinander gehört werden.
Die Bewertung haben wir nach einem Punktesystem vorgenommen, sicher ist dies subjektiv und kann keineswegs die Besonderheit der betreffenden Aufnahme widerspiegeln.
Die Zahl der besprochenen Werke und ihrer Einspielungen sind noch überschaubar. Wir sind noch im Aufbau eines umfänglicheren Portfolios begriffen. Das kostet leider sehr viel Zeit, die sich jedoch kaum einsparen lässt. Dabei sind wir bemüht, dass sich das Repertoire nicht mit Klassik-Prisma.de überschneidet, um dem geneigten Leser und der geneigten Leserin einen reichhaltigeren Gesamtfundus an die Hand zu geben. Wenn also das Lieblingswerk fehlt – mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es auf Bernd Stremmels Klassik-Prisma. de längst zu finden. Erst kürzlich wurde dort Geburtstag gefeiert: 20 Jahre Klassik-Prisma!
Nun viel Spaß (und Durchhaltevermögen) bei der Lektüre, verbunden mit dem Wunsch, die Faszination an der musikalischen Interpretation der Werke klassischer Musik zu entdecken oder zu intensivieren. Jede gute Interpretation setzt das Werk in ein besonderes Licht und gewinnt ihm neue Facetten ab oder dringt tiefer in seine Geheimnisse ein.
Dass es bei uns manchmal etwas ausführlicher zugeht als im Klassik-Prisma möge man uns verzeihen. Genauso wie die gewiss nicht wenigen Tippfehler.
Noch ein Hinweis zum bisweilen umstrittenen Gendern: Falls uns einmal eine ausschließlich männliche Form oder Schreibweise durchgeflutscht sein sollte, geben wir zu Protokoll, dass wir die weibliche Form oder Schreibweise stets mitgedacht haben. Das gilt ebenso für alle anderen denkbaren Formen und Schreibweisen.