ALBAN BERG
VIOLINKONZERT
"DEM ANDENKEN EINES ENGELS"
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Werkhintergrund:
Alban Bergs Violinkonzert ist dem "Andenken eines Engels" gewidmet. Damit ist Manon Gropius gemeint, die gemeinsame Tochter von Alma Mahler und Walter Gropius. Die junge Frau war 18-jährig an Kinderlähmung gestorben. Ein Tod, der die Wiener Gesellschaft erschütterte.
Er, der etablierte und erfolgreiche Komponist, hatte das Mädchen immer besonders gern gehabt. In den letzten Jahren war sogar so etwas wie Freundschaft zwischen Alban Berg und Manon Gropius entstanden. Häufig besuchte Berg mit seiner Frau Helene Almas prunkvolle Villa auf der Hohen Warte in Wien, deren Hausherrin Mitte der 30er Jahre bereits zum dritten Mal verheiratet war, diesmal mit dem Schriftsteller Franz Werfel. Manon, das erklärte Lieblingskind von Alma, war in dieser Zeit von einem schüchternen Backfisch zum strahlenden Mittelpunkt des mütterlichen Haushalts und damit zum Mittelpunkt des wichtigsten Künstler- und Intellektuellentreffpunktes von ganz Wien herangewachsen.
Alles, was in jenen Jahren dichtete, malte oder komponierte, lag dieser jungen (und man muss es wohl annehmen zauberhaften) Frau zu Füßen – eine Projektion schwärmerischer Männerfantasien, die der Schriftsteller Elias Canetti versonnen eine „Engels-Gazelle vom Himmel“ nannte.
Gerade 18jährig verstarb Manon am 22.4.1935 an der Folgen einer im Italienurlaub zugezogenen Infektion, gelähmt und im Rollstuhl sitzend, hatte sie tapfer aber vergebens gegen die Polio angekämpft. Ihrem frühen Tod verdankt die Musik liebende Menschheit eines der schönsten und ergreifendsten Violinkonzerte.
Der Grund des Entstehens war jedoch ein ganz anderer: Zu Beginn des Jahres 1935 bestellte der noch junge amerikanische Geiger Louis Krasner ein Violinkonzert bei Alban Berg.
Aus zweierlei Gründen nahm Berg die Bestellung gerne an. Erstens war die Arbeit an „Lulu“ gerade ins Stocken geraten und zweitens konnte er die 1500 Dollar, die Krasner ihm bot, sehr gut gebrauchen, denn seine wichtigste Einnahmequelle, die Aufführung seiner Musik in Deutschland, war mit der Machtergreifung der Nazis versiegt.
Mit Eifer machte sich der Komponist an die Arbeit und obwohl für seine gründliche und zeitaufwändige Arbeitsweise geradezu berüchtigt, lag bereits am 11.8.1935 die fertige Partitur vor. Krasner war sich sofort darüber im Klaren, dass er ein Meisterwerk in Händen hielt. Kein anderer Komponist seiner Zeit wäre dazu wohl im Stande gewesen eine auf das höchste komplexe und organisierte Musik gleichzeitig mit tiefster Emotionalität zu erfüllen.
Zu der bruchlosen Vereinigung von Zwölftönigkeit und romantischem Ausdrucksgehalt tritt auf einer weiteren Ebene die - für Berg typische auch in seiner Oper „Wozzeck“ zu beobachtete - Einarbeitung einer innermusikalischen Handlung. Das Thema ist Manons Leben und ihr Tod, der mitten in die Konzeptionsphase der Komposition fiel und dazu führte, dass das Konzert ihrem Andenken, „Dem Andenken eines Engels“, gewidmet wurde.
Nicht wenige Musikwissenschaftler vermuten allerdings darüber hinaus, dass neben Manon auch noch ein zweiter Engel als Widmungsträger gemeint gewesen sein könnte. Dieser war im Jahr 1902 als Küchenmädchen ins Haus der Familie Berg geschwebt – und hatte es im September desselben Jahres schwanger wieder verlassen. Zuvor hatte sich Marie Scheuchl, so der Name des bezaubernden Geschöpfes, in den 17 - jährigen Sohn des Hauses, Alban, verliebt.
Diese Theorie erscheint weder unberechtigt noch unbegründet, denn der zahlen- und horoskopgläubige Komponist war für die kunstvolle Verschlüsselung geheimer Botschaften in seinen Werken bekannt. Musikalische Codes für Widmungen, etwa in dem für seinen Lehrer Arnold Schönberg zum 50. Geburtstag komponierten „Kammerkonzert“, oder tagebuchartiges, wie in der „Lyrischen Suite“ für Streichquartett, hatte der Komponist bereits zu Lebzeiten selbst enträtselt.
Als Requiem konzipiert zeichnet das Violinkonzert in musikalischen Bildern den Charakter Manons und wirft einen Blick auf ihr Leben. Das erschließt sich nicht nur durch Andeutungen in der Partitur, sondern auch durch Selbstaussagen Bergs, die sein Freund und Mitarbeiter Willi Reich später veröffentlicht hat.
So lernen wir im ersten Satz, der sich in ein wehmütig - verschleiertes Andante und ein fast ebenso wehmütiges Allegretto unterteilt, den sanften, liebenswerten Charakter des Mädchens kennen. Seine Stimme leiht ihr dabei das Solo-Instrument, das während des ganzen Konzertes weniger eine Führungsrolle beansprucht, als vielmehr aus dem Orchesterklang hervortritt. Fast wie improvisiert streicht der/die Solist(in) im 2.Takt über die leeren Saiten – ein flüchtiger, schüchterner fast nur hingehauchter Beginn, der nichts mit dem solistischen Auftrumpfen herkömmlicher Virtuosenkonzerte gemein hat. In seiner sinfonischen Verschmelzung des Geigen- und Orchesterparts stellt Berg sein Werk jedoch vollends in die Tradition der Violinkonzerte Beethovens, Schumanns und Brahms´.
Das harmonische Geschehen ist jedoch ungleich komplexer. Die Zwölftonreihe, die dem Stück zugrunde liegt, lässt sich in jeder Form ihres Erscheinens in je zwei Dur- und zwei Moll-Dreiklänge und eine Linie von vier Ganztönen unterteilen. Daraus gewinnt das Violinkonzert eine quasi-tonale Harmonik, die um die Tonarten g-Moll und B-Dur kreist.
Erst im zweiten Satz, der die Katastrophe und den Verlauf der tödlichen Krankheit thematisiert, verschärft sich das Klangbild. Der erste Teil dieses Satzes, ein treibendes, mit kadenzartigen Einschüben der Solovioline angereichertes Allegro, beginnt und gipfelt in einem zwölftönigen Akkord im ganzen Orchester, mit dem Berg – nach Aussage Reichs – die Lähmung Manons und ihren Todeskampf musikalisch symbolisieren wollte. Der nachfolgende Teil, ein ruhiges, verklärtes Adagio, beschreibt schließlich ein stilles, ergebenes Abschiednehmen von der Welt. Aus den letzten vier Tönen der Grundreihe leitet Berg den deckungsgleichen Anfang des Bach-Chorals „O Ewigkeit, du Donnerwort“ ab, der nachdem er zunächst zeitgleich von den verdeckten Bratschenstimmen und der Sologeige eingeführt wird, in Bachs originaler Harmonisierung und mit vier Klarinetten orgel- bzw. harmoniumartig instrumentiert in den Vordergrund tritt. Die Melodiestimmen unterlegt Berg wie Gesangsstimmen mit dem Text des Sterbechorals „Es ist genug! – Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus!“
Auch der erste Satz enthält ein musikalisches Zitat, nämlich die Jodelweise „Ein Vogel auf´m Zwetschgenbaum“ aus Kärnten. Im Vorwort der Partitur als „Kärtnerlied“ bezeichnet.
Hier war der Komponist während eines Sommeraufenthalts im Ferienhaus der Familie Berg zum ersten Mal der kleinen Manon begegnet. Und auch eine andere Begegnung hatte an diesem Ort das erste Mal stattgefunden: die mit dem Dienstmädchen Marie. In verblüffender Weise verknüpft das Volkslied sowohl Hinweise auf die unbeschwerte Kindheit Manons wie auch auf die eigene Jugend des Komponisten. In der Tat will der leicht frivole Text des Liedchens, in dem die Aussicht besungen wird, bei einer gewissen Mizzi im Bett zu übernachten, nicht recht auf die engelsgleich verklärte Manon passen. „Mizzi“ lautete der von Berg gebrauchte Kosename für seine Jugendliebe, die ihn auch als verheirateten Mann noch häufig beschäftigte. Enthält das Violinkonzert einen Abschiedsgruß an die Frau, die in unauffälliger Entfernung zur Familie Berg ein kleines Mädchen mit dem beziehungsvollen Namen Albine großgezogen hatte?
Möglich ist, dass sich der Komponist in dieser seiner letzten vollendeten Partitur intensiv auch mit der eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzte, die ihn in Anbetracht der so plötzlich aus dem Leben gerissenen Manon Gropius erschreckend gegenwärtig sein musste.
Man kann auch oft genug lesen, dass sich Berg mit dem Violinkonzert ein eigenes Requiem schreiben wollte. Dass es mit der eigenen Gesundheit nicht zum Allerbesten stand, hatte er bereits in jungen Jahren erleben müssen. Am 23.7.1908 erlebte er mit 23 Jahren seinen ersten Asthma-Anfall. Dieses Erlebnis hatte ihn so geprägt, dass er die 23 fortan zu seiner persönlichen Schicksalszahl erklärte und ihr in vielen seiner Werke eine Struktur bildende Größe zubilligte. Im Violinkonzert spielt die 23 ebenfalls eine besondere Rolle. Ihre auffälligste Verwendung findet sie im zweiten Satz, der in Takt 23 in den Bläserstimmen ein betont drängendes, totentanzartiges Motiv einführt, mit dem im hinteren Teil des Allegro-Abschnitts die Katastrophe geschildert wird. Der ganze Satz umfasst 230 Takte – als ob sich mit Ende des Werkes auch das Schicksal des Komponisten Alban Berg erfüllt hätte.
Und tatsächlich überlebte Berg Manon nur um wenige Monate. Ein falsch behandelter Furunkel als vermutliche Folge eines Insektenstichs hatte ihn schon über Monate gequält, als er kurz vor Heiligabend des Jahres 1935 ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Furunkel war aufgebrochen und hatte zu einer Blutvergiftung geführt. Nach einer schleunigst durchgeführten Bluttransfusion und kurzzeitiger Besserung verschlechterte sich die Lage. Berg fiel immer wieder ins Koma, wachte nur noch für kurze Momente auf und starb schließlich im Krankenhaus - in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember.
Die Zahlensymbolik lässt sich in diesem Werk jedoch noch weiter treiben, diesmal auf die Zahl 22 fixiert:
Auch die 22 (das Todesdatum Manons: 22. April) wird in seinem Werk nämlich auch sehr häufig mit persönlichen Bezügen verbunden:
- Nach der 22-taktigen Rubato-Kadenz (im 2.Satz) folgt in Takt 23 das Motiv des Todes.
- Die Bach-Choral-Verarbeitung „Es ist genug! so nimm, Herr, meinen Geist“ umfasst bei Berg 22 Takte – bei Bach lediglich 20 Takte.
- Die Widmung Dem Andenken eines Engels hat 22 Buchstaben.
- Das Bach-Motiv erklingt in Takt 222 des 2. Satzes (nacheinander folgen die Töne b, a, c, h).
- Die zehntaktige Introduktion ist in Quinten aufgebaut. Der reinen Quinte liegt das Zahlenverhältnis 3:2 zugrunde bzw. 2:3.
- Die Tempoangabe von 69 Schlägen pro Minute wird mehrfach verwendet (69 = 3 × 23).
- Weiter ist interessant, dass der Schlussakkord aus 18 Tönen besteht, was auf die Lebensjahre Manons hindeuten könnte.
Wenige Monate nach Bergs Tod fand die Uraufführung des Violinkonzertes statt. Louis Krasner spielte mit dem BBC Symphony Orchestra unter Hermann Scherchen, der kurz zuvor für den zurückgetretenen Anton Webern einsprang. Später gab Webern, einer der engsten Freunde und Weggefährten Alban Bergs an, der Aufgabe psychisch nicht gewachsen gewesen zu sein. Später dirigierte er mit Krasner als Solisten die Zweitaufführung des Werkes, dessen Mitschnitt mittlerweile sogar als CD (leider jedoch derzeit noch nicht dem Verfasser) vorliegt.
Um den Blick auf das Werk noch etwas klarer zu machen sei nun dem geneigten Leser noch eine kurze Analyse des Werkes empfohlen, teilweise entnommen der Website „Concerti“ (von Mathias Husmann, in weiten Teilen ergänzt vom Verfasser, der sich unter anderem dazu aus den verschiedenen Booklets der vorhandenen CDs bediente, vor allem dem der Stern/Bernstein-CD und aus der unten genannten Taschenpartitur). Das ist dann der Beitrag für die echten „Spezialisten“.
„Mittels seiner sehr persönlich angewandten Zwölftontechnik gestaltete der Komponist Werden (erster Satz) und Vergehen (zweiter Satz) in unmittelbar ansprechender Weise.
In der Zwölftontechnik legt der Komponist eine Reihenfolge der zwölf Halbtöne fest. Diese Reihe wendet er horizontal – für Melodielinien – und vertikal – für Zusammenklänge – an. Dabei wird die Ur-Reihe rhythmisiert, transponiert, umgekehrt, gespiegelt usw. – Fantasie ist gefordert, der Bezug zur Ur-Reihe gewährleistet jeweils den Zusammenhang.
Bergs Ur-Reihe für sein Violinkonzert baut zunächst acht (große und kleine) Terzen aufeinander, sodass lauter Dreiklänge entstehen: g-Moll, D-Dur, a-Moll, E-Dur. Diese entsprechen der Stimmung der Geige g-d-a-e. Diesen Turm aus Terzen krönen vier Ganztöne, in denen schon der Anfang des Bachchorals („Es ist genug“) enthalten ist, auf den sich das requiemhafte Violinkonzert zu bewegt.
Zu Anfang des ersten Satzes Andante (Werden) bildet sich im Orchester ein feines Klangnetz, während die Geige leise und diskret einmal über die vier leeren Saiten hinauf- und hinabstreift, als wolle der Solist ihre Stimmung überprüfen. Aber die Harfe legt es vor und hat das auch mitbekommen und ihre engelsgleichen Töne animieren die Geige zu einer freien Fantasie über den Charakter von Bergs junger Freundin. Dieses Motiv erklingt vier Mal, jedes Mal dynamisch gesteigert (pp, p, mp und f). Es ist sehr interessant zu beobachten, was Solist(in) und die Harfe daraus machen.
Dann erklingt die Ur-Reihe, erst in großer Ruhe aufsteigend, danach in Umkehrung – absteigend. Dabei wird die erste Variation vorbereitet. Aus den sich entwickelnden Variationen geht ein tänzerisch beschwingtes Andante hervor (Klarinetten über Pizzicato, Doppelgriffe der Geige). Dies geht auch mit dem Wechsel des Metrums vom Zweiermetrum zu einem schwankenden, akzentuierten Dreiertakt eines Ländlers und Walzers über. Anmerkungen wie scherzando, rustico und wienerisch sind nun zuhauf vorhanden: So kommt die lebhafte, schelmische Seite Manons zum Ausdruck. Ganz allmählich verliert sich der Schwung und wandelt sich kurz vor Schluss unmerklich in einem Augenblick von großer Zartheit in eine Kärntner Volksweise, die man – wie eine ferne Kindheitserinnerung oder eine Erinnerung an die erste Liebe (Mitzi) – nun bewegt wahrnimmt (intoniert zuerst vom Horn, dann von der Trompete), während die Geige in hohen Lagen darüber schwebt. Der Satz scheint in pastoraler Nostalgie schließen zu wollen (in Ges-Dur), aber der Walzer kehrt noch einmal zurück und wird erst durch einen ominösen Stimmungsumschwung abrupt beendet.
Der zweite Satz Allegro (Vergehen) beginnt mit einem sich aufbäumenden Zwölftonakkord von schmerzhafter Gewalt – wie die Erkenntnis von oder der Schmerz durch tödliche(r) Krankheit, vielleicht auch beides zugleich. Dann beginnt der Tod in einer taumelnden Sarabande zu wachsen, mit heftigen Akkorden und ausladenden Gesten. Wie in einem albtraumhaften Psychodrama voll wechselnder Gefühle kämpft die Violine dagegen an, schimpft und quält sich. Und doch ist alles vergeblich. Den Anfeindungen und Attacken des Orchesters (die tödliche Krankheit symbolisierend) ist sie nicht gewachsen und kann ihnen letztlich auch nicht entkommen. Ein merkwürdig torkelnder Rhythmus drängt sich in den Vordergrund, der das eine Mal an einen grotesken Stechschritt, das andere Mal an einen stockenden Herzschlag erinnert. Der Höhepunkt (der von Berg auch expressis verbis in der Partitur so genannt wird) ist erreicht, wenn das gesamte Orchester diese Figur durchführt, die Violinstimme abbricht und anschließend insgesamt langsam verebbt.
Nach dem Höhepunkt dieses Totentanzes sammelt sich die Violine quasi inmitten eines Trümmerfeldes mit einer aufsteigenden Ganztonskala, die zum 2.Teil des 2. Satzes überleitet: Es erklingt Adagio der Bachchoral, mit vier Klarinetten harmoniumartig registriert. Eine lange feierliche Entwicklung – wie eine Trauerrede – schließt sich an. Dann erklingt wieder der Bachchoral, diesmal zwölftönig harmonisiert – ein faszinierender Moment, in dem sich zweihundert Jahre Musikentwicklung spiegeln. Zum Schluss kehrt die Musik zu ihrem Anfang zurück: Mit dem über die vier leeren Saiten streifen „wie aus der Ferne“ verklingt das Konzert.“
Zur Einordnung der verschiedenen Darbietungen in ein Bewertungsschema:
Als Hilfe für die Interpreten hat Berg in der Partitur des Violinkonzertes stets angegeben, welche Passage gerade als Hauptstimme (H) und welche gerade als Nebenstimme (N) zu gelten hat. Es wird so sofort klar, dass die Violine eher als Primus inter pares zu gelten hat und keinesfalls immer im Vordergrund stehen sollte. Der/die Solist(in) muss sich also auch uneitel zurücknehmen, wenn dies verlangt wird. Andererseits muss er/sie aber auch bereit sein, das letzte aus der Violine herauszuholen um den Kampf auf Leben und Tod eindrücklich darzustellen. Des Weiteren gibt Berg auch genau an, wann der Höhepunkt der jeweiligen Sätze (bzw. Satzabschnitte) erklingt. So erübrigt sich eigentlich ein eigenes Nachdenken darüber. Trotzdem spürt man in vielen Aufnahmen, dass es gerade hier an der nötigen Aufmerksamkeit oder am nötigen Nachdruck fehlt.
Für die filigranen Verästelungen und Doppelgriffe (und viele technische Grausamkeiten mehr, die Schwierigkeiten sind wohl insgesamt als horrend zu bezeichnen) ist zudem allerhöchste Beherrschung des Metiers erforderlich. Für Dirigent und Orchester gelten im Prinzip ähnliches. Ein Verharren auf einer mittleren Ausdrucksebene wäre viel zu wenig, um dem Gehalt des Werkes vollends gerecht zu werden.
Ist es so zu erklären, dass einige der berühmtesten Virtuosen das Konzert offenbar nicht gespielt bzw. aufgenommen haben? So werden Versionen u.a. von Heifetz, Milstein, Francescatti oder Oistrach vermisst und auf Aufnahmen von Hilary Hahn, Julia Fischer, Viktoria Mullova, Midori, Sarah Chang, Janine Jansen, Joshua Bell, Julian Rachlin, Nigel Kennedy oder Christian Tetzlaff und andere wird man wohl noch warten müssen. Bei Christian Tetzlaff hat das Warten mittlerweile ein Ende gefunden. Seine Einspielung sollten wir möglichst bald sichten und das Gehörte in unserem Vergleich nachtragen.
Hinzu kommt allerdings - und das könnte durchaus der gewichtigere Grund für das Fehlen an weiteren Versionen der Geigenstars in Gegenwart und Vergangenheit (gewesen) sein, dass die Renditeaussichten bei einer Veröffentlichung des Konzertes für die Labels derzeit (und wohl auch schon früher) eher bescheiden (gewesen) sein dürften.
Auffallend beim Vergleich der Aufnahmen war es, dass die ältere Generation der Solisten eine gerafftere, durchweg spannendere, druckvollere Wiedergabe bevorzugt, während die jüngere Generation ihr Hauptaugenmerk auf die genaue Beachtung jeder kleinen Partiturangabe legt und so auch mal den Spannungsfaden verliert, wenngleich ihr auch bisweilen staunenswert ausziselierte Wiedergaben gelingen. Der Hörer müsste dann selbst entscheiden, was ihm wichtiger ist, denn alle Anforderungen in einer Aufnahme realisiert zu bekommen, gelingt selten in Vollkommenheit.
Der Vergleich wurde mithilfe der Philharmonia Partitur Nr. 428 vorgenommen, die auch eine gute Analyse des Werkes enthält. Sie ist in jedem Fall der Lektüre wert, wenn man noch tiefer in das Werk „einsteigen“ will. Es wird dabei – soviel sei schon vorweggenommen - jedoch ziemlich kompliziert, sodass der Rahmen dieses CD-Vergleiches gesprengt werden würde und hier nicht weiter darauf eingegangen werden soll. Die Komposition ist ja in jedem Takt durchstrukuriert und folgt einem raffinierten Bauplan und wäre ein ideales Forschungsobjekt für Musikwissenschaftler. Wie bereits erwähnt hindert sie das jedoch keineswegs daran, eine hochemotionale Wirkung auf den Hörer zu entfalten. Das soll zusammen mit dem hier bereitgestellten Backgroundwissen zunächst für die Rezeption der verschiedenen Aufnahmen einmal ausreichen.
Appendix:
Nun noch ein paar Zitate, ergänzend zum Text, für den Leser, der noch nicht genug hat von der Faszination, die von dem Werk ausgeht. Weitere Facetten werden hier noch kurz beleuchtet:
Der Geiger Kolja Blacher (auf dessen Aufnahme von 2003 mit Claudio Abbado der Verfasser noch gespannt wartet, irgendwann wird er sie noch (hoffentlich, denn sie scheint rar zu sein, d.h. wenig verkauft worden zu sein; oder die Besitzer geben sie einfach nicht mehr her) in die Hände bekommen.
"Das, was man erwartet von dem Stück, ist von A bis Z Trauer und Doloroso. Für mich stimmt das nicht. Für mich ist der erste Satz ein sehr fröhlicher Satz. Da wird das Mädchen beschrieben - eher in seiner Schönheit, als dass es um den Tod geht."
Wie Bach, so glaubte auch Alban Berg an die Symbolik von Zahlen. In der Partitur des Violinkonzerts versteckte er viele solcher geheimer Bedeutungen.
"Das fängt an mit dem Choral: Es ist genug. Herr, wenn es Dir gefällt. So spanne mich denn aus. So bring mich doch um. Im Mezzopiano dolce. Das hat doch fast schon was Zynisches".
Am 23. Dezember 1935 starb Alban Berg an einer Blutvergiftung in einem Wiener Krankenhaus. Heute ist ein entscheidender Tag, hatte er noch gesagt. Hatte er nicht seinen ersten Asthmaanfall an einem 23. gehabt, im Jahr 1923 besondere Erfolge gefeiert?
"Es ist höchst effektive Virtuosität, gemischt mit kompositorischem Können. Dass er einfach überall die Urzelle verwendet, das ist genial."
Willi Reich:
„Die Uraufführung des letzten vollendeten Werks Bergs, des ‚dem Andenken eines Engels‘ gewidmeten Violinkonzerts, bedeutete eine wahre Sensation. Hermann Scherchen, der die Leitung mit ganz kurzer Probenzeit übernommen hatte, vollbrachte eine nachschöpferische Meisterleistung.“
Bergs Violinkonzert wurde seine meistgespielte Komposition. Am Schluss klingt noch einmal der Bach-Choral an, bevor das Werk in sphärischem B-Dur endet. Mit dem Ton B, dem Anfangsbuchstaben seines Namens, hatte Alban Berg das Konzert auch beginnen lassen. Hatte er geahnt, dass es seine letzte Komposition sein würde?
Zur Zensur Bergs in Nazi-Deutschland:
Paul Zschorlich:
„Diese Kokain-Musik bedeutet uns eine Krankheit. Wir erleben den musikalischen Bolschewismus in Reinkultur.“
So verdammte der Musikkritiker Paul Zschorlich Orchesterstücke von Alban Berg, die Erich Kleiber am 30. November 1934 in Berlin uraufgeführt hatte. Die Nationalsozialisten inszenierten einen Skandal, der Dirigent trat von seinem Amt zurück. Musik von Berg durfte seitdem in Hitler-Deutschland nicht mehr gespielt werden, was den Wiener Komponisten in finanzielle Bedrängnis brachte. Er nahm deshalb dankbar an, als drei Monate später der amerikanische Geiger Louis Krasner bei ihm ein Violinkonzert bestellte und als Honorar 1.500 US-Dollar anbot.
Fertig zusammengestellt am 20.6.2020

Alban Berg 1927, Fotografie von Georg Fayer
Vergleichende Rezensionen der gehörten Einspielungen:
5*
Isabelle Faust
Claudio Abbado
Orchestra Mozart
Harmonia Mundi
2012
27:41
Den Beteiligten gelingt eine in allen Belangen herausragende und beeindruckende Wiedergabe. Auch der mit dem Werk vertraute Hörer meint es hier fast zum ersten Mal zu hören. Faust beherrscht ihren Part traumwandlerisch sicher und agiert im höchsten Maß ausdrucksvoll, anscheinend von keinerlei manuellen Barrieren gehemmt. Feinste Schattierungen gelingen mirakulös und immer in den richtigen Zusammenhang gestellt. Ihre Farbpalette ist reich und reicht im 2. Satz bis ins Grimassieren und Verzerren des üblichen Geigentons. Die einzelnen Passagen werden so erheblich leichter erfassbar als in den allermeisten Vergleichsaufnahmen. Das heikle Zusammenspiel mit dem Orchester gelingt eng verzahnt und die Solistin agiert mit dem Dirigenten wie aus einem Geist heraus. Der Duktus im ersten Satz ist luftig und leicht aber auch kräftig und schonungslos zupackend, wenn es die Partitur erfordert. Das Orchester fügt sich gleichwertig in das bewegte und bewegende Geschehen ein. Die Bläsersoli gelingen ausgesprochen klangschön, die Phrasierungen wirken ausgesprochen geistvoll, weil jeder Solist weiß, was er spielt und auch die kleinste Spielanweisung umsetzt. So werden hier auch – und das erscheint in diesem Vergleich einmalig – Elemente der HiP bruchlos in dieses Werk des 20. Jahrhunderts integriert. Beispiele könnten zuhauf genannt werden und würden den hier vorgesehenen Rahmen dann doch sprengen. Eine sei genannt: Das Spiel der Flöten (T.155 – 160 im ersten Satz) bei der Spielanweisung espressivo unterscheidet sich genau von der ohne espressivo nur alleine durch den Einsatz eines speziellen Vibratos. Auf kleinsten Raum. Die anderen gehen da gleichgültig darüber hinweg.
Der Beginn des 2. Satzes erklingt im (recht klein besetzten) Orchester mit schneidender Vehemenz und Bedrohlichkeit. Alle Instrumente werden von Abbado herausgefordert und gehen hier, nach dem Kennenlernen bereits vieler Vergleichsaufnahmen endlich einmal aus sich heraus. Faust antwortet darauf mit Entäußerung und verlässt dafür auch einmal das Primat des Schönklangs mit Verfremdungen des klassischen Violinklangs, um die Lebensgefahr, den Schmerz und das schreckliche Gefühl der Lähmung auszudrücken. Ihre große Kadenz (T. 44 – 95), der es übrigens an Vehemenz bei den Einwürfen des Orchesters nicht mangelt, ist absolut brillant gespielt und ausgesprochen gefühlvoll, ja sie durchlebt geradezu einen Todeskampf mit Reminszenzen an die Vergangenheit. Die Klimax (T. 104 – 125 bis Höhepunkt des Allegro) ist tatsächlich eine solche. Bis zum Erreichen des Adagios (T.136) mit dem Choral lässt die berstende Spannung nicht nach. Die Klarinetten klingen wie eine Orgel und wirklich religioso. Ab T. 170 verschmilzt der Geigenton der Solistin nach und nach und geht schließlich vollends in den Streichern des Orchesters auf, als ob die Seele Manons aufgenommen und mitgenommen wird. Das wird hier sinnfällig dargestellt (aber das gelingt der Vollständigkeit halber sei es erwähnt auch sehr schön auch in einigen anderen Aufnahmen). Die Choralbruchstücke, - variationen und -umkehrungen im Orchester, die Berg extra in der Partitur durch ein CH markiert, werden hier für den Hörer auch ohne Partitur leicht fassbar. Die Gestaltung des Schlusses - man braucht es kaum noch zu erwähnen – gelingt in absoluter Meisterschaft.
Hier liegt eine Referenzaufnahme vor, die in jeder Hinsicht beim Hörer sowohl Begeisterung als auch Betroffenheit auslöst, was sich ja nicht ausschließen muss. Sowohl Faust als auch das von Abbado herausragend eingestellte Orchester gelingt eine expressionistisch bis zum technisch machbaren ausgereizte, meisterliche Wiedergabe, die man schon als ein Durchleben der Partitur bezeichnen muss. Die Klangtechnik fördert das Ergebnis nicht unmaßgeblich. Sie stellt das Orchester mit größtmöglicher Präsenz und Dynamik in den Raum und wahrt alle Relationen, sowohl innerhalb des Orchesters und was hier ja besonders wichtig ist auch in der Relation der Geige zum Orchester. Beide sind absolut gleichgewichtig und beide kommen gleichermaßen unbehindert zu Wort. Dass das Orchester (bisweilen auch die Rolle der Krankheit und des Todes einnehmend) der Solistin schwer zu schaffen macht, ist Absicht und vom Komponisten so gewollt. 5 Sterne mit Hochglanzpolitur.
5
Thomas Zehetmair
Heinz Holliger
Philharmonia Orchestra London
Teldec
1991
27:07
Schon über 20 Jahre zuvor versuchten Thomas Zehetmair und Heinz Holliger in ihrer Wiedergabe allen Aspekten der Komposition gerecht zu werden. Bereits in der zehntaktigen Introduktion wird das deutlich. Das sich in der Dynamik steigernde Motiv (jeweils 1x pp, p, mp, f) wird demgemäß akribisch von Solist und Orchester ausformuliert. Die auch im weiteren Verlauf auffallende Werktreue gefällt ebenso wie die immensen technischen Ressourcen, das hohe Maß an Ausdruck und die Einlösung des hohen geistigen Anspruches, der von dem Werk ausgeht. Auch das Orchester agiert mit größter Transparenz, Plastizität und Sorgfalt. Zehetmair und Holliger beherzigen auch die noch so kleine Spielanweisung. Zehetmair lässt dabei seinen klaren silbrigen Ton hören, dem es nicht an Flexibilität mangelt. Beide Partner haben sich bestes aufeinander abgestimmt. Das Orchester ist dieses Mal mit das beste in diesem Vergleich. Im heiklen 2. Satz ist es sehr eindringlich und genauso wie Zehetmair ungemein ausdrucksvoll. So weit wie Faust und Abbado gehen sie dabei jedoch nicht. Die Kadenz bewältigt der Geiger souverän mit klarem Verlauf der Stimmen. Der immanente Kanon (T.78 – 89) kommt hier mit am besten heraus. Der Stimmenverlauf wird bestens herausgearbeitet und somit auch ohne Partitur leicht verfolgbar. Die Beschäftigung mit der HIP scheint sich auch hier positiv auszuwirken. Der Vortrag wirkt ausgesprochen verständlich (wenn man so will: gestenreich). Auf dem Höhepunkt des Allegro macht das Orchester die Geige akustisch geradezu „platt“, was dem Sinn der Passage genau entspricht, was den meisten Aufnahmen aber dennoch nicht gelingen will. Im Adagio (dem zweiten Teil des 2.Satzes) mit dem Choral zu Beginn klingen die Klarinetten ganz vorzüglich. Nach und nach atmen sie mit dem Solisten, zunächst jedoch jeweils nacheinander. Die Phrasierung und die Artikulation sind exzellent. Sehr erfreulich ist im letzten Abschnitt auch die hohe Präsenz der Bläser, die hier gegen die Streicher stehen und wichtige motivische Arbeit leisten, die bei minderen Versionen leicht untergehen.
Hier liegt eine extrem partiturgenaue dabei aber keineswegs blasse oder langweilige Aufnahme vor, die auch von der Klangtechnik mit guter Staffelung, Dynamik und Frische hellhörig unterstützt wird. Die Elemente der Verzweiflung und Resignation werden trefflich dargestellt wirken aber nicht wie hautnah durchlebt wie bei Faust/Abbado.
5
Edith Peinemann
Rudolf Kempe
BBC Symphony Orchestra
BBC Live
1976
28:24
Live. Aus der Live-Situation heraus lässt es sich vielleicht verstehen, dass die Dynamikabstufung in der Introduktion nicht haarfein dargestellt wird. Das Folgende profitiert dann in hohem Maße von der erstaunlichen Gestaltungskraft der vom Plattenmarkt offensichtlich nicht hinreichend beachteten Solistin. Sie geht mit relativ hohem Bogendruck und ziemlich viel, aber nicht aufdringlichem Vibrato mit großem, offensivem Ton und auf ausgesprochen expressive Art zu Werke. Sie wirkt mal kurzatmig mal langmütig, wie es die Situation gerade erfordert. Ihr liegt die große Linie besonders am Herzen, eine ausziselierte Wiedergabe deutlich weniger. Unterstützt wird sie dabei von einem plastischen, transparenten und hellhörigen Orchester, das auch mal voll zulangen darf. So gelingt eine ausgesprochen expressionistische Wiedergabe. Leider gerät das Orchester bisweilen aber nur leicht in den Hintergrund, aber für eine Live-Aufnahme dieser Zeit wurde sehr gute Arbeit geleistet. Der Reigen (Allegro ab T. 104) erklingt bei Peinemann und Kempe ausgesprochen vital, geradezu neckisch. Der ganze erste Satz wirkt wie eine erlebnisreiche, fast abenteuerliche Erkundung des Lebens der jungen Manon.
Im 2.Satz geht die Geigerin an ihre Grenzen, sie holt alles aus ihrem wertvollen Instrument heraus und schont es dabei nicht. Das Orchester bringt hier den erforderlichen Druck, schließlich geht es um Leben oder Tod. Im Höhepunkt des Allegro (T. 125) knüppelt das Orchester die Geige geradezu nieder, die sich zuvor noch mit aller Kraft aber letztlich erfolglos gewehrt hat. Beim Choral intonieren die Klarinetten sehr schön einheitlich und besänftigen so das zunächst mit größtmöglichem aber noch geschmackvollen Vibrato angereicherte Spiel der Geige, das sich dann deutlich abschwächt. Leider fällt im Folgenden die Choralumkehr in der Harfe unter den akustischen Tisch, sicher eine Folge der Live-Situation. Der Höhepunkt des Adagios ist hervorragend plastisch und eindringlich. Der Choral in Posaune 3 und Tuba anders als bei der Harfe dann wieder ausgezeichnet herausgearbeitet. Auch das kleine Posaunenglissando (T. 200) ist pointiert herausgearbeitet (springt da die Seele in den Himmel?). Überhaupt lässt Kempe hier Kammermusik machen und das Orchester der Uraufführung, dem in diesem Vergleich auch die weitaus meisten Aufnahmen zu verdanken sind, fühlte sich hier zu besonders inspirierter Leistung herausgefordert.
5
Henryk Szeryng
Rafael Kubelik
Sinfonieorchester des BR
DG
1971
24:31
In dieser Aufnahme hat der 1.Satz nichts düster Verhangenes, sondern erscheint vielmehr im Gestus fließend, unverzärtelt, lebendig und Licht durchflutet. Das Andante zu Beginn zeigt schon, dass der Geiger keinen großen Wert auf die geringen Lautstärken legt. Sein pp ist eigentlich durchweg viel zu laut. Er steht dabei in der Tradition der vorherigen Generation (in diesem Vergleich vertreten von Krasner und Szigeti). Also der Generation, die es noch genau wissen müsste, wie das Konzert zu spielen ist. Der „Reigen“ zu Beginn des Allegretto (zweiter Teil des 1. Satzes) sucht in der hier erreichten fast schon fröhlichen Keckheit der Gestaltung seinesgleichen. Geigerisch erreicht Szeryng eine makellose Leichtigkeit der Phrasierung bei absoluter Intonationssicherheit und großer Leuchtkraft des Tons, allerdings wie bereits erwähnt mit einem etwas robusten Zugriff bei der dynamischen Gestaltung. Den traumwandlerisch sicheren Zugang des Solisten, der das Werk mit einer Geläufigkeit in den Fingern hat, wie andere ein Mendelssohn-Konzert, findet man auch bei Kubelik und seinem Orchester, das dem Orchesterpart eine ganz besondere Expressivität verleiht. Von der Klangtechnik wird es auch transparent (in der Tiefe jedoch nicht gerade exemplarisch) und vor allem ausgesprochen präsent eingefangen. Ein ums andere Mal jagt es dem Hörer einen Schauer über den Rücken. Mit Szeryng und Kubelik musizieren hier zwei Temperamentsmusiker zusammen, allerdings sehr eng verzahnt und perfekt aufeinander abgestimmt.
Im 2. Satz kommt der Aufnahme die perfekte Transparenz besonders zugute auch die Präsenz des hellwachen Orchesters bricht sich hier Bahn. Der Todeskampf wird besonders eindringlich, allerdings anders als bei Faust auf mehr traditionelle Art. Die Kadenz lebt von der glasklaren Gestaltung und den leuchtenden Spitzentönen Szeryngs. Bei ihm hört man selbstverständlich keinen hässlichen Ton. Steigerungen des Ausdrucks erlebt der Hörer nur durch noch schönere, leuchtendere Töne. Auch ein völlig legitimer Ansatz, wenn die dramatische Gesamtgestaltung nicht unterschlagen wird. Schließlich repräsentiert die Geige ja die Stimme eines schönen Mädchens. Berührend ist diese Gestaltung in jedem Fall auch. Das Orchester erreicht auch im ersten Höhepunkt (des Allegro) Bestnoten. Es verliert in keiner Sekunde klangliche Konsistenz und bleibt hoch konzentriert. Der zweite Höhepunkt (nun des Adagio) ist äußerst bewegt gestaltet. Besonders gelungen ist die Reprise des Kärtnerliedes aus dem ersten Satz (nun in Es-Dur), das im neuen Zusammenhang nun wie eine Oase der Ruhe und Nostalgie wirkt und hier deutlich herausgestellt wird und eine viel bessere Wirkung zeitigt als in den anderen Aufnahmen.
Diese Aufnahme stand unter einem guten Stern, zeigen sich doch alle Beteiligten von ihrer besten Seite (bestens vorbereitet und hoch motiviert) aus dem vollen Reservoir ihres Könnens schöpfend. So ähnlich hätte es wahrscheinlich auch geklungen, wenn Heifetz eine Aufnahme des Konzertes gemacht hätte. Sehr virtuos, unverstellt zum Kern vordringend, sachlich in der Herangehensweise und das Werk trotzdem als hochromatisch dargestellt, nur eben mit den klanglichen Mitteln des musikalischen Expressionismus. Von dieser eindrucksvollen Aufnahme kann man sich sehr leicht begeistern lassen. Große Empfehlung.
5
Josef Szigeti
Dimitri Mitropoulos
NBC Symphony Orchestra
Documents
1945
24:48
Live. Dem Aufnahmedatum geschuldet muss der Hörer hier in Kauf nehme, dass die Dynamik stark nivelliert ist. Verblüffend jedoch ist die erreichte Transparenz. Und das gilt sowohl für die Geige als auch weitgehend für das Orchester. Die Remastering-Ingenieure haben hier offensichtlich gute Arbeit geleistet. Zu Beginn steht der Geiger groß und deutlich separiert vor dem Orchester. Man hört sogleich, dass hier ein Ausdrucksmusiker par excellence zu Werke geht. Das Crescendo in der Einleitung wird gut, aber nicht minutiös nachgezeichnet. Er nimmt die Anweisungen des Komponisten auch weiterhin ernst. Sein Ton ist dabei blühend, sehr lebendig, ausdrucksvoll und enorm zupackend. Es ist die Lesart eines von keinen manuellen und geistigen Schranken zurückgehaltenen souveränen Virtuosen, der einfach alles kann. Auch die schwierigsten Passagen gelingen hier mit einer seltenen Verve mit einer breiten Farbpalette, wo andere nur noch „blass aussehen“. Bergs Anweisungen, wie zum Beispiel die wechselnden H (Hauptstimme) und N (Nebenstimme) werden genauestens beachtet. Trotzdem gelingt es Szigeti seinen Vortrag teilweise wie neu erfunden (improvisiert) klingen zu lassen, was er natürlich nicht ist, denn nur die hohe Kunst des freien Vortrages, wie er sie erreicht hatte, lässt diese Wirkung beim Hörer entstehen.
Im zweiten Satz steigert sich der Ausdruck noch weiter. Jugendliche von heute würden sagen, Szigeti „geht voll ab“. Er tut das Menschenmögliche, um die Krankheit, die von Manon Besitz ergriffen hat wieder abzuschütten, die Schmerzen und Qualen der Lähmung werden buchstäblich handgreiflich aber das ausdrucksvolle Orchester unter Mitropoulos´ animierender Leitung lassen auch ihm keine Chance. Das Orchester knüppelt auch ihn (partiturgemäß) buchstäblich nieder. Die Kadenz wird höchst eindrücklich gestaltet, teilweise geradezu klaustophobisch. Selbstverständlich nutzt ein Virtuose wie Szigeti in jedem Fall den schwieriger zu spielenden Part der Kadenz. Wohl um die Akzeptanz unter den Geigern zu fördern, gab Berg zu besonders schwierigen Teilen der Kadenz jeweils eine entschärfte Alternative hinzu, von der in diesem Vergleich aber nur wenige Geiger Gebrauch machen. Die Klarinetten im Choral können die hier leider mit zu starkem Vibrato agierende Geige kaum beruhigen. Wie ein Ruf vom Himmel wirken sie in dieser Aufnahme nämlich nicht. Die Assimilation der Geige im Streicherchor gelingt hingegen wieder sehr gut, wie auch die Umkehrung des Chorals in der Harfe sehr gut hörbar wird.
Wäre der historische Klang der Aufnahme ein modernerer und vor allem die Dynamik zeitgemäßer, wäre diese wohl expressionischste Aufnahme im Vergleichsfeld wohl auch mit fünf Hochglanz-Sternen zu versehen, wie die von Isabelle Faust.
5
Louis Krasner
Fritz Busch
Stockholmer Philharmoniker
Guild
1938
25:08
Diese Aufnahme, noch einmal 7 Jahre älter als die Szigetis, leidet noch mehr unter der historischen Aufnahmequalität. Ihr Klang ist stumpf, flach und topfig. Die Geige jedoch ist gut heraushörbar. Ihr größtes Plus ist natürlich ihre Authentizität. Krasner war ja der Auftraggeber der Komposition und Geiger der Uraufführung. Er hat Berg sowohl beraten als auch seinen Part zumindest in Teilen mit ihm einstudiert. Und das hört man dieser Aufnahme auch an. Der Geiger verfügt zwar nicht über die geigerischen Fähigkeiten eines Szeryng oder Szigeti, so erscheinen Lagewechsel bisweilen nicht ganz ungefährdet und (allerdings ganz selten) entsteht ein Ton mal etwas ungelenk, aber auch er verfügt über einen substanzreichen, ausdrucksvollen, leuchtenden Ton und es stehen ihm sehr viele Ausdrucksnuancen und Klangfarben zur Verfügung. In den „Begleitstellen“ des Orchesters (die es eigentlich in diesem Werk gar nicht gibt, aber nennen wir sie trotzdem einmal so, weil die Geige hier die Hauptrolle einnimmt) erscheint das Orchester in den Hintergrund zu rücken und an Durchzeichnung zu verlieren. Der 2. Satz, d.h. insbesondere der von antagonistischer Dramatik geprägten ersten Teil Allegro, gelingt - nicht zuletzt auch angetrieben von einem „Wahnsinnstempo“ und trotz dieser technikbedingten Einschränkungen - ganz herausragend, wobei dem Dirigenten eine zentrale Rolle zukommt. Es gelingt - trotz der von der Klangtechnik nicht zu gewährleistenden, wünschenswerten Durchschlagskraft des Orchesters - eine klaustophobische Stimmung (hervorgerufen von der Lähmung des Mädchens) von seltener Eindringlichkeit. Ebenso eindringlich ist der Überlebenskampf des Mädchens durch die Geige geschildert, der Klang wirkt hier enorm dramatisch aufgeheizt. Ein Alleinstellungsmerkmal bekommt diese Aufnahme durch die Gestaltung des Höhepunktes des Allegro (ab. T 125), wo man nicht nur endlich einmal (und danach nie mehr wieder) die Piccolo-Flöten nicht nur überhaupt einmal hört, sondern sie erzeugen einen Klang wie bei einem schmerzhaften hohen Tinnitus. Erst in dieser Aufnahme erschließt sich der Sinn dieser Stelle vollends als die schreckliche Wirklichkeit eines stechenden Schmerzes, herbeigeführt wie von einem zustechenden, Tod bringenden Messer. Auch die Flageolets des Solisten werden hier deutlicher als sonst als verzweifelte Todes- oder Schmerzensäußerungen verstanden, weil es ihm gelingt, sie mit Ausdruck aufzuladen. Diese Fähigkeit ist den heutigen Solisten mitunter verloren gegangen.
Der geneigte Leser sei darauf hingewiesen, dass in der 4-5 Sterne Kategorie die qualitativen Unterschiede bisweilen sehr gering sind. Daher möge er sich die einzelnen Aufnahmen mehr nebeneinander gelistet vorstellen als nacheinander. Im Text versucht der Verfasser trotzdem, wie üblich, die Unterschiede der einzelnen Aufnahmen zu charakterisieren. Hier könnten auch einzelne persönliche Vorlieben für den einen oder anderen Klang eines Geigers oder einer Geigerin bereits durchaus den Unterschied in der eigenen Rangfolge verändern.
4-5
Anne Sophie Mutter
James Levine
Chicago Symphony Orchestra
DG
1991
27:33
Für den Leser mag es vielleicht überraschend sein, den Namen von Anne Sophie Mutter gleich als erste in dieser Kategorie gelistet zu sehen. Sie hat es sich jedoch verdient und wenn sie noch eine wenig mehr aus sich heraus gekommen wäre oder den Pfad des nur schön Spielens zugunsten einer noch sprechenderen Rhetorik verlassen hätte, wäre ihr der Einzug in die 5 Sterne Kategorie nicht zu verwehren gewesen.
Der Hörer fragt sich zunächst, warum sie - trotz der im Folgenden zu hörenden herausragenden geigerischen Fähigkeiten – in der Introduktion bei einem Dynamiklevel bleibt. Berg dachte sich doch etwas dabei, immer dieselbe Figur mit vier immer stärker werdenden Lautstärken zu versehen. Kommt es aus der Ferne immer näher? Wird es klarer und sieht man es dann besser? Wird es aus der Erinnerung aus dem Unbewussten geholt und immer bewusster? Oder soll mit der Lautstärke auch der Nachdruck gesteigert werden? Jedenfalls darf es nicht vier Mal gleich sein, zumal die Figuren zudem auch noch in einem Crescendo eingebettet sind. Wie dem auch sei: Der Rest des Stückes wird von allen Beteiligten erheblich differenzierter gestaltet und wirkt sehr überzeugend. Der Hörer kommt in den Genuss eines vollen, weichen und auch sehr ausdrucksvollen, durchaus auch differenzierten Geigentones. Souverän und völlig ungefährdet. Levine, der auf die immensen Ressourcen des amerikanischen Eliteorchesters zurückgreifen kann, stellt zunächst besonders den Schönklang heraus. Eine Anforderung, die vom Orchester auf makellose, mannigfach schillernde, feinfühlige, einfach perfekte Weise umgesetzt wird. Auch die Balance stimmt, auch zur Solistin. Auch der Inhalt bleibt nicht auf der Strecke: Walzeranklänge im Reigen werden schon im Ansatz erstickt, jedoch – und so ist es wohl auch gedacht – überwiegen die positiven Eindrücke, gewonnen während eines ziemlich unbeschwerten Landlebens im meist klaren und feundlichen Sonnenschein.
Im zweiten Satz ändern sich kompositionsbedingt die Verhältnisse, das Orchester wirkt mächtiger und bedrohlicher, die Geigerin kleiner und unterlegen. Die Kadenz hat nichts Aufgesetztes und wird sehr spannend gestaltet. Im Choral wäre vielleicht etwas weniger Vibrato seitens der Solistin eindringlicher gewesen, schließlich ist die Lebenskraft eigentlich schon gebrochen. Die vier Klarinetten klingen exzellent und Trost spendend. In T. 159 ist das Choralzitat unklar, die Umkehrung des Chorals in der Harfe passt dann aber wieder. Der Höhepunkt im Adagio (T.186) ist sehr eindringlich gestaltet. Die weiteren Entwicklungsstufen werden von Mutter eindrucksvoll nachgestaltet (Assimilation, Verwandlung, Vergeistigung bzw. Auferstehung bzw. die Genese eines Engels ganz am Schluss).
Mutter gelingt mit ihrem schlackenlosen, leuchtenden Ton eine völlig unverkitschte Darstellung des Werkes, wobei ihr ein in jeder Hinsicht perfektes, schlagkräftiges Orchester assistiert, wobei ein Claudio Abbado am Pult vielleicht noch mehr Nuancen hervorgeholt und noch durchdringendere Akzente gesetzt hätte. Jedenfalls im Jahre 2012. Die hellhörige Klagtechnik ist die beste des ganzen Vergleiches mit der besten Balance, einem ausgesprochen breitbandigen Klang mit audiophilen Klangfarben und einer sehr guten Dynamik.
4-5
Daniel Hope
Paul Watkins
BBC Symphony Orchestra
Warner
2003
29:09
Hope dagegen gestaltet die Introduktion mit dem gewünschten Crescendo und wie so oft (aber nicht immer) weist dieses kleine aber nicht unwichtige Detail bereits den Weg für die folgende Wiedergabe. In diesem Fall folgt eine Wiedergabe voller Details und vielfältigen Ausdrucksschattierungen. Ein Beispiel: bei T. 63 lässt Hope trotz eigenem f dem Horn (nur mf) den akustischen Vortritt genau wie der Komponist es wollte. Er erscheint wie ein einfühlsamer Erzähler, dem kein Detail entgeht. Rubato ist in diesem Werk oft auch direkte Spielanweisung. Hope macht daraus wahre Kabinettstückchen. Das geht nur, weil er sich auf eine souveräne Beherrschung des Notentextes und des damit verbundenen Ausdrucks verlassen kann und er Partner an seiner Seite hat, die perfekt mitgehen können. Dem Orchester fehlt es - obwohl eigentlich untadelig – dennoch gegenüber dem Orchestra Mozart, um nur ein Beispiel zu nennen, etwas an Präsenz. Die Aufnahmetechnik mag daran die Hauptschuld tragen, ist sie doch eher auf Weiträumigkeit getrimmt.
Besonders zu Beginn des 2.Satzes ist dies zu bedauern, dem Orchester fehlt es hier zwar nicht an Aufmerksamkeit aber an Biss. Hope gestaltet geigerisch exzellent mit vielen Valeurs und einer immer wieder bestechenden Piano-Kultur. Die Kadenz setzt Hope unter Hochspannung, Der Choral wird von den Klarinetten schön orgelhaft intoniert. Am Ende, wenn die Geige gen Himmel strebt (besonders beim letzten langen Liegeton) wirkt der Ton der Geige leicht flackrig, der reine weiß leuchtende Charakter (der Auferstehung?) wird so etwas gemindert.
Ansonsten lässt Hope geigerisch keine Wünsche offen. Seine Version klingt ausgesprochen eloquent und gedankenklar. Der Orchesterpart wird ebenfalls detailgenau dargeboten, es fehlt ihm jedoch an den entscheidenden Stellen aber an Eloquenz und zupackendem Biss. Die Detailgenauigkeit braucht allerdings auch ihre Zeit. Man folgt den angebotenen Details jedoch gebannt, sodass keine Langeweile aufkommt.
4-5
Gidon Kremer
Sir Colin Davis
Sinfonieorchester des BR
Philips
1983
28:24
Anders als A.S. Mutter und ähnlich wie Daniel Hope überzeugt auch Gidon Kremer mit exakter dynamischer Abstufung der Eingangsmotive und gibt damit sogleich seine Visitenkarte ab. Kultiviertheit, exakte Artikulation, exquisites Legato, flexible, volle und klanglich abgerundete Tongebung kommen hier zusammen und treffen sich mit einer ausdrucksgeladenen, lebendigen und spannenden Gestaltungsweise. H und N werden genau beachtet, die Präsenz der beiden Partner Solist und Orchester ist ausgewogen. Dennoch steht die Geige trotz aufnahmetechnischer Gleichbehandlung im Fokus, was wahrscheinlich an der Persönlichkeit Kremers liegt. Das Orchester steht dem aber kaum nach und übernimmt in großer Klarheit mit vollem, rundem Klang und deutlichem Spiel die Hauptcharakterzüge des Kremerschen Spiels.
Im 2. Satz, der einen höchst präsenten, wie um sein Leben spielenden Kremer zeigt (hier ist es ja auch Programm!) antwortet das Orchester plastisch, wuchtig und gut bassgrundiert. Auch die große Trommel kann hier gleichsam mit Schicksalsschlägen ihren Beitrag leisten. Insgesamt bleibt sein Beitrag aber doch kalkuliert und beherrscht. Es könnte wilder und herausfahrender klingen. Die Kadenz wird von Kremer äußerst klar und offen artikuliert, der Todeskampf bewegt geschildert, aber nicht ganz so miterlebt wie bei Faust. Der Choral klingt jedoch wie aus einer anderen Welt und das Orchester nimmt die Violine mit auf ihre weitere Reise. Die Geige hat dabei durchaus magische Momente. Die Herausarbeitung der Choralzitate (dazu gehören auch die Variationen und Umkehrung) überzeugt restlos. Was der Aufnahme insbesondere im Vergleich zu den Aufnahmen der 5 Sterne Kategorie fehlt, ist die letzte dramatische Zuspitzung und die gerade auch im Vergleich zur Kubelik-Version mit demselben Orchester die reduzierte Brisanz und Direktheit im Orchesterpart insbesondere im Allegro des 2.Satzes.
4-5
Pinchas Zukerman
Pierre Boulez
London Symphony Orchestra
CBS – Sony
1984
26:54
Auch in der Darstellung Zukermans ist das Eingangsmotiv dynamisch sehr gut gestaltet, was auch für den durchweg von größter Präzision getragenen Orchesterpart gilt. Der Solist spielt im weiteren Verlauf das schwierig zu bewältigende Stück differenziert mit vollem, bratschenähnlichem, geradezu aufblühenden Ton. Manche würden sogar sagen, er wäre schon mehr als blühend und nach der Blüte kommt bekanntlich die Frucht. Also wäre der Ton schon als fruchtig zu bezeichnen, was in jedem Fall als hohe Auszeichnung zu verstehen ist. Die Artikulation ertönt klar, stets souverän und mit der diesem Geiger eigenen fast stoisch zu nennenden Gelassenheit. Manche jedoch meinen Zukermans Höhe würde nicht zu seinem tiefen Register passen. Dem kann sich der Verfasser nicht anschließen. Er empfindet beides als sehr wohl zueinander passend und ausgewogen. Schwierigste Verläufe wirken zudem wie mühelos aus dem Ärmel geschüttelt. Auch das Orchester spielt in Topform mit größter Klarheit und üppigem Klang. Es klingt in jeder Hinsicht besser strukturiert und voller als das ebenfalls von Boulez geleitete NPO in der Menuhin-Aufnahme 16 Jahre zuvor. Es scheint, dass der Dirigent über die Jahre noch an Souveränität gewonnen hat.
Auch im 2. Satz nimmt Zukerman mit seinem üppigen Ton für sich ein, der von jeder technischen Gemeinheit ungerührt bleibt. Darin mag aber auch ein kleines Problem dieser Aufnahme liegen, die durchweg und in jeder Hinsicht von großer Meisterschaft getragen wird. Ist Zukermans Ton nicht vielleicht in seiner stämmigen Ungerührtheit im Todeskampf unpassend? Der Verfasser möchte die Beantwortung dieser Frage jedem selbst überlassen. Er empfindet jedoch auch die Kadenz als expressiv und fein abgerundet gestaltet, der Kampf auf Leben und Tod ist anschaulich, jedoch wird auch die Verzweiflung auf unerschütterlich robuste Weise hingestellt. Der Höhepunkt des Allegro T. 125 ff wird vom LSO als erschütternd dargestellt, wie es von Berg gedacht war. Das Adagio mit dem Choral zeigt eine wunderbar abschattierte Geige und orgelähnliche Klarinetten. Die Verschmelzung, das Aufgehen der solistischen Geige im Streicherkorps gelingt in Vollkommenheit. Auch am Höhepunkt des Adagios gibt es nicht das Geringste auszusetzen. Zukerman brilliert auch mit Dämpfer mit reichhaltigen Farbvaleurs ohne jede Schärfe.
Eine perfekte Aufnahme mit Geigenkunst auf höchstem Niveau, mit einem perfekt vorbereiteten und geleiteten und fast schon holografisch klar aufgenommenem Orchester also? Durchaus, wenn man den Klang der Violine in dem Umfeld dieser Komposition nicht schon als zu schön um wahr zu sein empfindet.
4-5
Renaud Capucon
Daniel Harding
Wiener Philharmoniker
Virgin
2011
27:19
In dieser Version steht die Geige zumeist im Vordergrund des Geschehens. Harding lässt ihr den Vortritt, was nicht immer im Sinne der Komposition scheint, denn in dem bereits genannten T. 63 ist das Horn gegenüber der Geige durchaus nicht führend, wie die Partitur es möchte, genauso verfährt man in T. 70 bei Trompete und Geige. Manchmal ist das Orchester trotz Forte nicht wirklich lauter als die Violine. Der Solist ist aber ausgesprochen sicher und souverän unterwegs, verbleibt aber bei großer Klangschönheit eher in einer gewissen Milde, was die Dramatik seines Parts anlangt. Jederzeit bleibt er dem Schönklang verpflichtet.
Auch im 2.Satz könnte das Orchester durchdringender agieren. Der Höhepunkt ist obwohl fff zu schwach gestaltet. Auch hier herrscht eine gewisse nostalgische Milde und Abgeklärtheit vor. Bei großer Klangschönheit des durchaus motivierten Orchesters erscheint das Stück wie in Pastell gehüllt. Ein sehr hohes Gesamtniveau ist der Darstellung keineswegs abzusprechen. Die Aufnahmequalität ist sehr gut. Schön weiträumig und transparent mit einem guten Bassbereich. Die Balance ist etwas zugunsten des Geigers verschoben und vom Charakter her weich gerundet und sehr homogen. Sie lädt den Hörer zum Genießen ein und auch sie verschont ihn vor Ausdrucksextremen.
4-5
Kyung Wha Chung
Georg Solti
Chicago Symphony Orchestra
Decca
1984
25:36
Ganz anders verhält es sich bei der Aufnahme von Kyung Wha Chung und Georg Solti. Beide beachten das Crescendo zu Beginn vorbildlich. Chungs Tongebung ist stets expressiv und mit ihrem etwas nervös wirkenden schnellen Vibrato scheut sie auch nicht vor einem weniger schönen Ton zurück. Ihr Klang ist zwar keinesfalls spröde, kommt aber nicht an die Geschmeidigkeit eines Capucon oder die Süße eines Zukerman heran. Dafür bringt sie eine gewisse Fragilität und Zerbrechlichkeit mit ein, die dem Werk sehr gut ansteht. Solti gelingt eine nahezu perfekte Äquilibristik zwischen Geige und Orchester, die H und N Stimmenverteilung wird jederzeit beachtet. Auch die Partiturtreue ist sehr hoch. Die Höhepunkte werden beherzt herausgearbeitet, aber bei einem dreifachen Forte könnte das CSO hier durchaus noch stärker dreinfahren. Das CSO klingt in dieser Aufnahme kompakter als bei Levine oder die Wiener bei Harding. Die Polyphonie wird gleichwohl hervorragend herausgearbeitet. Am Ende gelingt Chung eine magische Schlusswirkung, obwohl der Ton leicht zu flackern beginnt. Insgesamt eine hochwertige durchaus individuelle Wiedergabe des Violinkonzertes mit einem besonderen, vielleicht besonders gut zu einem jungen Mädchen passenden, weiblichen Akzent..
4-5
Arthur Grumiaux
Igor Markevitch
Concertgebouw Orchestra Amsterdam
Philips
1966
24:41
Für eine lange Zeit galt diese Aufnahme als die Referenzaufnahme des Stückes. Sie verbindet aus heutiger Sicht, die ältere Generation mit der neueren Generation der Geiger und Dirigenten. Sie wirkt noch in der Auffassung des Tempos gerafft und expressionistisch geschärft wie es den besten der älteren Generation noch gelang, aber auch schon differenziert und fein gezeichnet, wie es die heutige Generation der Geiger bevorzugt. Grumiaux gelingt gemeinsam mit dem ungemein hellsichtigen Markevitch schon in der Introduktion eine gute dynamische Abschattierung. H und N werden auf vorbildliche Art deutlich gemacht. Sowohl was die innerorchestrale Balance als auch die Balance zwischen Solist und Orchester anlangt kann nur das Beste attestiert werden. Man geht nahtlos aufeinander ein. Auch das Orchester hat einen sehr guten Tag, denn es klingt nicht wie sonst in Aufnahmen der 60er Jahre im Holz trocken und dünn, sondern hier bereits weich und abgerundet. Die Transparenz ist für das Aufnahmejahr vorbildlich, zudem weiträumig und die Instrumente sind bestens ortbar. Der Satzcharakter ist wie zumeist bei der älteren Generation ausgesprochen lebendig, also nicht unbedingt, wie man es von einem Requiem erwarten würde: Durchweg doloroso.
Wie bei den meisten Geigern der neuen Generation kann man eine gewisse ästhetische Zurückhaltung bemerken. Er geht, was besonders im 2. Satz auffällt, mit seiner Gestaltung und Expessivität nicht über die Gesetze seines Klangideals hinaus. Feine Ziselierung scheint ihm wichtiger zu sein. Er bleibt dabei stets distinguiert. Zu Beginn des Satzes könnte das Orchester noch brutaler an die Geige herantreten, die Partitur gäbe es her. In der Kadenz (T. 44 – 95) gestaltet Grumiaux dicht und mit angenehm wenig Vibrato. Markevitch sorgt dafür, dass im weiteren Verlauf das heftige Gegeneinander im Todeskampf sehr gut zur Geltung kommt. Am Ende dominiert elegische Wehmut und die große Ausdruckskraft am Ende bleibt haften. Letztlich ist es absolut nachvollziehbar, dass diese Aufnahme sehr hohes Ansehen genoss (und nach wie vor genießt), die Leichtigkeit und Geschmackssicherheit der Darstellung im Violinpart begeistert noch heute, etwas mehr vielleicht noch die weitgehend dramatisch aufgeladene und dennoch klare Darstellung des Orchesterparts durch Markevitch. Jedoch sind andere mittlerweile im einen oder anderen Teilbereich vorbeigezogen, insbesondere die Inspiration in der Faust/Abbado-Version bleibt auch hier unerreicht.
4-5
Isaac Stern
Leonard Bernstein
New Yorker Phiharmoniker
CBS – Sony
1959
25:10
In Stern und Bernsteins Lesart ist die dynamische Abstufung in der Introduktion mehr fühlbar als hörbar. Ansonsten kann sie zumindest im 1.Satz begeistern. Die Partner sind perfekt aufeinander abgestimmt und gehen des Satz mit Verve, Temperament und einem merklichen Zug dahinter an. Nebenstimmen bekommen stets ihr richtiges Gewicht und wirken sinnfällig. Besonders im Allegretto erfreut die beschwingte Herangehensweise. An manch eine dröge Realisierung aus heutiger Zeit mag man hier nicht denken. Die Kärntner Volksweise klingt vorbildlich, fast fühlt der Hörer sich während dieser Passage buchstäblich persönlich in diesem Landstrich versetzt. Bernsteins besondere Fähigkeit auch den Sinn hinter den Noten zu suchen und darzustellen kommt diesem Satz besonders zugute. Stern überzeugt hier – wie in fast allen seiner älteren Aufnahmen – mit einem warmen, differenzierten Ton, der auch in der Höhe perfekt sitzt und einem völlig freien Vortrag. Das Orchester ist hier bestens präpariert.
Im 2.Satz ändert sich das Bild jedoch. Bei Stern fällt nun ein gewisses Manko in der Expessivität der Gestaltung (er wurde aber auch im direkten alphabetischen Umfeld insbesondere mit Szigeti verglichen) vor allem aber fehlt es dem Orchester hier erheblich an Nachdrücklichkeit. Ab T. 23 wird es dann wieder spürbar besser. Vermutlich haben hier aber nicht die Philharmoniker geschlafen, sondern der Aufsprechpegel beim Aufnahmegerät wurde nicht geprüft. In der Kadenz wiederum spielt das Orchester endlich einmal keine Rolle im Schatten, sondern es duelliert sich hier mit dem hier ausgezeichneten Stern, während in anderen Aufnahmen der Geiger meist zu dominant ist. Der Höhepunkt des Allegro wird vom Orchester wieder zu zurückhaltend angegangen. Im Choral klingen die Klarinetten hier nur wie ein Harmonium, nicht wie eine feine, füllige Orgel. Stern überzeugt mit Dämpfer vollends, schöner geht es kaum noch, während auch der Höhepunkt des Adagio zwar sehr transparent aber wieder zu zurückhaltend, vor allem nicht dynamisch vom Orchester dargeboten wird. Hatte man Angst vor einer Übersteuerung? Man muss bedenken, dass wir uns hier im Jahr 1959 befinden, was es schon erklären könnte. Der Schluss ist wieder ausgesprochen intensiv und auch vom Orchester besonders hellhörig und klangschön gestaltet. Der letzte lange Liegeton Sterns ist überhaupt der schönste in diesem Vergleich, ohne jedes Flackern mit vollendeter Klarheit und Reinheit entschwebt er ins Nichts. Wenn die Technik im 2.Satz keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte, wäre hier vielleicht eine 5 Sterne Aufnahme zustande gekommen.
4-5
Itzhak Perlman
Seiji Ozawa
Boston Symphony Orchestra
DG
1980
25:51
In dieser Aufnahme ist die Abgabe der Visitenkarte (die zehntaktige Introduktion) erfreulich, denn die Artikulation ist exakt und differenziert. Perlman ist bisweilen etwas zu sehr im Vordergrund, das Orchester demgemäß auch einmal in den Hintergrund gestellt. Generell ist er jedoch Primus inter pares. Sein Spiel ist zumeist makellos, temperamentvoll und romantisch geprägt. Das BSO klingt zwar plastisch aber weniger brillant als das CSO in der Mutter-Aufnahme.
Im 2. Satz ist es angemessen agressiv. Perlman wehrt sich in dieser Szenerie tapfer auf eine ausdrucksvolle, expessive Art. Der arhythmische Herzschlag bei T. 104 ff gelingt anschaulich, der Höhepunkt des Allegro vorzüglich. Perlman lässt die Leiden spürbar werden, was ihm bei dem vorhandenen technischen Potential nicht schwer fällt. Er verfügt aber auch über das Wissen, wie sich Lähmung anfühlt, ist er doch selbst davon betroffen. Im Choral lässt er sehr starkes, fast bebendes Vibrato hörbar werden, darüber ließe sich streiten. In der Partitur steht zunächst espressivo, dann doloroso. Eigentlich ist zu diesem Zeitpunkt keine Kraft mehr da, um noch zu beben zu können. Es waren in diesem Vergleich Aufnahmen zu hören, die hier mit weniger mehr erreicht haben. Das Orchester mit Harmonium – Klarinetten-Ton kontrastiert sehr stark mit bewusst kühlem Trost. Die Sublimierung des Geigentons gelingt nicht, ohne dass Perlman zunächst noch aus dem Gesamtklang der Streicher heraushörbar bleibt. Später ist es dann aber auch soweit. Im weiteren Verlauf ist das Orchester bestens durchgezeichnet..
Dies ist eine besonders durch Perlman warm getönte, den romantischen Gehalt des Werkes betonende sehr gute Alternative mit einem sehr gut spielenden BSO, das von Ozawa feinfühlig und hellhörig geführt wird, allerdings in wichtigen Teilen des Werkes etwas zu weit entfernt aufgenommen wurde.
4-5
Leonidas Kavakos
Andrew Davis
BBC Symphony Orchestra
BBC Music
2000
26:49
Live. Kavakos agiert hier völlig als Gleicher unter Gleichen. Aufnahmetechnisch erscheint sein Ton ziemlich klein geregelt, zumindest nicht hervorgehoben, was aber die phänomenale Deutlichkeit in keiner Weise berührt. Die hochklassige, rein geigerisch exzellente Vorstellung lässt den Hörer staunen. Auch er spürt, darin Hope sehr ähnlich, jeder Nuance nach, bleibt aber dabei noch mehr als dieser dem durchgehenden Schönklang verpflichtet, was umso mehr auffällt, da er verbunden ist mit der „kleinen“ Abbildung im Gesamtklang. Es stellt sich so eine ausgesprochen zarter noch über die Fragiliät einer Chung hinausgehender Gesamtduktus ein. Man wird kaum behaupten können, dass diese Gestaltung bei diesem Werk unangemessen wäre. Er fügt dem Charakter Manons eine ätherische Komponente hinzu. Wie sollte es anders sein bringt diese etwas einseitige Betrachtung auch ihre Kehrseite mit. Die temperamentvollen Aufschwünge (Walzer, rustico) wirken so weniger prononciert, gerade wenn man den Wahlverwandten Daniel Hope im Ohr hat, der ja zudem auch noch mit demselben Orchester (der Uraufführung) musiziert, nur ein paar Jahr später. Das BBC SO hinterlässt auch hier einen ausgesprochen kompetenten, versierten Eindruck. In den orchestergeprägten Teilen wirkt die Violine dann auch schon einmal zu sehr eingebettet, so als ob ihr schon beinahe die Solistenrolle nicht mehr gegönnt wird. Vielleicht hat es sich Berg aber genau so vorgestellt? Am Dirigent scheint es aber nicht zu liegen. Er ist aufmerksam und einfühlsam bei der Sache. Das bemerkt man auch im 2.Satz, der von einem gut profilierten Orchesterpart (noch mehr als bei Hope/Watkins) profitiert. Aus der Kadenz, die wie das ganze Stück von keinerlei Intonationstrübungen gestört wird, macht Kavakos ein Psychogramm des Leidens und Aufbegehrens. Emotional und bestens abschattiert, jederzeit souverän und bestens durchgeformt. Bei allem erscheint das Spiel, so absolut souverän es auch anmutet, jedoch etwas einfarbig. Im Orchester werden alle Stimmen plastisch und sinnfällig herausgebracht. Das Klangbild ist fein aufgelöst, transparent und gut gestaffelt. Eine Aufnahme, die genauso wie die Daniel Hopes und trotz oder gerade wegen des etwas „ätherischen“ Blickwinkels, eine Veröffentlichung bei einem Label verdient gehabt hätte.
4-5
Frank Peter Zimmermann
Gianluigi Gelmetti
RSO Stuttgart
EMI
1990
25:44
Auch Zimmermanns Version hat viel mit denen von Hope und Kavakos gemeinsam. Er ist ebenfalls sehr textbezogen und geht in die Details. Schon in der Introduktion kommt er als einer der ganz wenigen tatsächlich schrittweise zu einem richtigen Forte. Jedoch erscheint sein Ton zu Beginn noch ein klein wenig steif und spröde, was sich im Verlauf aber ins Gegenteil verkehrt (!). In T. 47 animato wird er jedoch nicht bewegter, wie es anderen Solisten bereits gelang. Der Klang der Aufnahme ist nicht übermäßig brillant auch die Tiefenstaffelung könnte ausgeprägter sein. Im 2.Satz steigert Zimmermann auch den Ausdruck in seinem Spiel, der zuvor noch ziemlich zurückhaltend erschien. Dem Orchester fehlt zu Beginn etwas Spannkraft. In der akkurat gespielten Kadenz gelingen dem Solisten ausdrucksvolle, wie schmerzhaft wirkende Flageoletts (T. 51), die Spielanweisung „hier gewöhnlich“ bringt er am besten. Die Vielstimmigkeit des Kanons während der Kadenz bringt er mit höchster Deutlichkeit. Im Verlauf des 2.Satzes gewinnt auch das RSO an Profil. Im Höhepunkt des Adagios klingt es präsent und durchdringend. Die Streicher schimmern später in den schönsten, schillernden Farben. Die Coda in der lydisch gefärbten Kirchentonart wird ebenfalls mit herausragenden Verhältnissen der Beteiligten untereinander offengelegt und ausgezeichnet phrasiert. Dem Gesamtklang ist jedoch eine ganz leichte Härte zu attestieren. Insgesamt hinterlässt die Aufnahme einen etwas heterogenen Eindruck. Zu Beginn wirkt sie noch etwas glatt und technikorientiert, während sie später auch klanglich und emotional an Wärme und Anteilnahme gewinnt.
4-5-
Baiba Skride
Andris Nelsons
Berliner Philharmoniker
Mitschnitt vom RBB, unveröffentlicht
2010
27:34
Live. Dieser bereits mehrfach vom RBB gesendete Mitschnitt profitiert besonders durch eine souverän und frei aufspielende Solistin. Er wurde in den Vergleich mit aufgenommen, weil sehr viele Aufnahmen, die der RBB von den Philharmonikern gemacht hat und die den Redakteuren offenkundig gefallen sehr oft wiederholt werden, um den regelmäßigen Sendeplatz mit den Philharmonikern aufzufüllen. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie sich der Musikfreund, wenn er den Programmplatz bei RBB Kulturradio beobachtet (er wechselt jährlich von Samstagabend mit Sonntagabend ab) auch einmal selbst anhören kann.
Ihre Darbietung ist farbig und – andres als viele andere – zunächst überhaupt nicht requiemartig matt oder fahl, sondern ausgesprochen lebendig. Das animato (T.47) geht hier mit einer fast rasanten Temposteigerung einher. Dies vermisst man bei der ebenfalls von Nelsons dirigierten Aufnahme mit Arabella Steinbacher. Skride nutzt auch einen sehr großen dynamischen Ambitus. Beeindruckend ist auch ihr pp. Die Philharmoniker geben hier durchaus ihre verschwenderische Farbigkeit und Klangfülle preis, wenngleich man mit der für den Rundfunk immer noch typischen Einebnung der Dynamik leben muss. Die einzelnen Stimmen werden gut aus dem Gesamtklang herauspräpariert. Die gebotene Auflösung ist zur Gewährleistung eines gut aufgefächerten Gesamtklangs ausreichend. Gegenüber ihrer Live – Aufnahme von 1960 erweisen sich die Philharmoniker als mittlerweile völlig vertraut mit dem Bergschen Idiom, die Herangehensweise und Perfektion lässt nun auf große Selbstverständlichkeit schließen
Im 2. Satz macht die Kompression der Dynamik dem heftigen Ausdruck des Orchesters ein wenig zu schaffen, es wirkt heruntergeregelt. Die Kadenz ist meisterlich gegeigt und ausgesprochen spannend. Der Kanon wirkt „schmerzgebeutelt“. Die Höhepunkte gelingen sehr eindrücklich. Im Choral spielt Skride ganz ohne Vibrato, sodass sich die Erschöpfung, die keinen Widerstand mehr kennt, wie von selbst einstellt. Brava! Die Klarinetten antworten in schönster Eintracht und versuchen Trost zu spenden. Die Harfe mit der Choralumkehr kommt sehr gut durch. Erstmalig werden auch die Saxophone einmal mit ihrer neuen Klangfarbe hörbar, sie gehen sonst immer im Gesamtklang unter. Skride lässt ihren Geigenton sehr gut im Klang der Philharmoniker-Streicher aufgehen, auch das Ende gelingt ausgesprochen ausdrucksvoll. Gespannt wartet der Verfasser auf eine CD-Aufnahme mit ihr. Ein Video ebenfalls mit Nelsons am Dirigentenpult aus Leipzig liegt bereits vor. Mit besserem, vor allem dynamischerem Klang, wäre eine Höherstufung unabdingbar.
4-5
Arabella Steinbacher
Andris Nelsons
WDR Sinfonieorchester Köln
Orfeo
2008
27:08
Auch hier weist die Introduktion bereits den Weg durch das gesamte Stück. Die Dynamik wird recht gut differenziert, aber lange nicht so deutlich wie unter anderem bei Zimmermann. Steinbachers Ton ist als weich getönt, homogen, intonationssicher und gut abgerundet zu beschreiben. Ihr Farbspektrum erscheint hier etwas monochrom. Das WDR SO klingt wesentlich präsenter als, um einmal in derselben Stadt zu bleiben, das Gürzenich - Orchester unter Conlon. Ihm gelingt unter Nelsons eine gute, ausgewogene Darbietung. Nichts fällt aber aus dem Rahmen. In der Kadenz bleibt Steinbacher souverän, tonschön und recht spannend. Die Höhepunkte sind in Ordnung. Der des Adagios könnte allerdings durchaus etwas mächtiger oder nachdrücklicher klingen. Die Klarinetten im Choral klingen sehr gut. Die Assimilation der Geige gelingt perfekt.
Eine gefällige, ja durchaus gelungene Aufnahme, der man wenig Schlechtes nachsagen kann, die aber auch nicht sonderlich berührt. Wenn man beide Aufnahmen Nelsons´ direkt vergleicht, so würde der Verfasser die ungleich überraschendere, lebendigere mit Baiba Skride wählen, wenn sie denn verfügbar wäre.
4-5
Reiko Watanabe
Giuseppe Sinopoli
Staatkapelle Dresden
Teldec
1995
28:40
Einige Gemeinsamkeiten zur Aufnahme mit Steinbacher bietet die Aufnahme mit Reiko Watanabe. Hier ist das Crescendo in der Introduktion gut gelungen. Auch ihr Spiel ist sehr exakt, emotional eher zurückhaltend und tendenziell einfarbig. Bei Watanabe wird aber auch einmal ein Bindebogen unterbrochen. Wie bei Kavakos wird die Violine Watanabes sehr klein und fragil abgebildet, während das Orchester sie in seiner ganzen Größe quasi komplett einschließt. Das animato (T. 47) um nur mal eine Spielanweisung im 1.Satz herauszugreifen hat überhaupt keinen Zug.
Im 2. Satz ist die Balance besser gelungen. Zu Beginn fehlt es auch hier dem Orchester an Nachdruck und Aggressivität. Die Kadenz ist technisch gelungen, muss aber ohne die volle Expressivität und Spannung auskommen. Der Höhepunkt des Allegro gelingt hier allerdings vor allem seitens des Orchesters vorbildlich. Vor allem kommt endlich einmal das fff (dreifaches Forte!) der großen Trommel zu seinem Recht. Das ist der Schicksalsschlag, den nur ganz wenige Aufnahmen vermitteln. Das Adagio wirkt etwas gedehnt, das sehr saubere, sichere und auch flexible Spiel der Solistin emotional etwas gebremst, was hier aber keinesfalls deplaziert wirkt. Die Assimilation der Stimme der Solistin gelingt gut. Gegen Ende, bei der Verwandlung des toten Mädchens in einen Engel kommt die gute Transparenz gepaart mit der typischen Wärme und Rundung des Klanges der Staatskapelle der sanften Gesamtwirkung sehr zugute.
4
Josef Suk
Karel Ancerl
Tschechische Philharmonie Prag
Supraphon
1964
25:59
In dieser Aufnahme gefällt das Orchester besser als der Solist. Fällt zu Beginn noch die differenzierte Gestaltung und das gelungene Crescendo des vier Mal intonierten Motivs positiv auf, so groß empfindet man den Unterschied von Suk zu einem Zukerman oder einer Mutter. Er verfügt zwar über einen tragenden Ton, dem zumeist aber ein aufblühen verwehrt bleibt. Die leuchtenden Spitzentöne eines Szeryng in Topp-Form vermisst man auch. Suks Ton wirkt leicht aufgeraut und spröde und er greift auch zu sehr auf ein starkes Vibrato zurück. Einen guten Spannungsverlauf kann man der Aufnahme aber sehr wohl zusprechen. Das Orchester unter Ancerls umsichtiger Leitung trägt viel dazu bei. Die beiden Höhepunkte im 2. Satz stellen vollauf zufrieden. Die Kadenz gelingt Suk ganz gut, jedoch nervt sein Dauervibrato hier ein wenig. Die Assimilation mit den anderen Streichern gelingt hervorragend, wobei aber teilweise die gleichfalls motivisch sehr wichtigen Bläser ein wenig zurückgedrängt werden. Das aber hat die Aufnahme mit den allermeisten anderen gemein. Suks Ton gewinnt mit Dämpfer übrigens ganz erheblich an Verführungskraft, nun klingt seine Geige traumhaft weich und rund. Das aus dem 1. Satz bekannte Kärtnerlied, das gegen Ende des 2. Satzes, nun in Es-Dur gewandelt, wiederkehrt (.T. 200 ff) wird hier sehr deutlich und wie von Berg gewünscht wie aus der Ferne und viel langsamer als das erste Mal artikuliert. Am Schluss stört nur der etwas wackelnde Liegeton Suks das sanfte Entschweben des Engels.
4
Ivry Gitlis
William Strickland
Pro Musica Orchester Wien (Wiener Symphoniker)
Vox (Überspieling einer LP der Bibliothèque de France)
1954
24:40
Gitlis ist vor allem Ausdruckmusiker. Der unbedingt zu wahrende Schönklang hat bei ihm keine Priorität. Um den Ausdruck auf die Spitze zu treiben nutzt es seine ausgeprägte Virtuosität, eine strahlende Höhe, ein starkes mitunter sogar aufdringliches Vibrato und setzt zum Teil recht hohen Bogendruck ein. Dabei geht er über zahlreiche Spielanweisungen besonders über die leisen Töne ziemlich nonchalant hinweg. Er spielt in dieser Aufnahme eindeutig die Hauptrolle, während das Orchester in den Hintergrund gerückt erscheint. Das mag weniger dem ausgeprägten Ego des Solisten geschuldet sei, als der hier wenig subtilen Mono-Aufnahmetechnik. So werden viele Instrumente im Orchester (Horn T.63) die die H- Markierungs Bergs tragen (Hauptstimme) von Giltlis überdeckt, erst die Trompete kann sich gegen ihn behaupten. Ein Aufnahmeteam ausgerüstet mit mehreren Mikros hätte hier gegensteuern können. So werden hier vor allem die Holzbläser zu den akustischen Verlierern. Im 2. Satz agiert das Orchester über weite Strecken nachdrücklich, wirkt aber durch die akustische Benachteiligung trotzdem etwas zu harmlos und unterbelichtet. Die Technik verwehrt ihm ein echtes ff. Eigentlich hätte Gitlis den Kampf mit ihm locker für sich entscheiden können, wenn die Partitur nichts anderes mit ihm vorgehabt hätte. Die Kadenz ab T. 44 wird virtuos hingestellt. Ihm nimmt man den Kampf jederzeit ab, holt er doch alles aus seinem bemitleidenswerten Instrument heraus. Im Choral intoniert er mit soviel Vibrato, dass sein Ton schon weinerlich wirkt. Die Antwort der Klarinetten ist weniger sakral, da sich kein echter Zusammenklang ergibt, als weltlich- beliebig, jeder Klarinettist folgt seiner Stimme ohne auf den Mitspieler zu achten. Das Spiel mit Dämpfer gelingt Gitlis anrührend. Beide Höhepunkte werden jedoch ziemlich verschenkt. Eine Aufnahme, die Ihren Wert vor allem durch den unbedingten, expressiven Ausdruckswillen des Solisten gewinnt, dessen Ton man aber mögen sollte. Besser als das blasse Einerlei anderer Versionen ist dieser Zugang aber allemal.
4
Ulf Hoelscher
Hiroshi Wakasugi
WDR Sinfonieorcheter Köln
Deutsche Harmonia Mundi - RCA
1977
27:09
Die Introduktion ist dynamisch gelungen. Hoelschers Ton ist ziemlich frei, ausdrucksvoll, voll und bisweilen mit viel Vibrato versehen. Bei Wakasugi verschwinden schon einmal ein paar Hauptstimmen des Orchesters im Nichts aber zumeist ist ein gut vorbereitetes, klangsattes Orchester zu hören. Die Gewichtung von Solist und Orchester ist hier wieder ausgewogen. Auch klanglich passen beide sehr gut zusammen. Im 2. Satz erscheinen die sfz des Orchesters etwas zu schwach, da hätte mehr Energie investiert werden müssen. In der Kadenz kommt der sonst durchaus brillant spielende Solist etwas in Bedrängnis, zumindest ist die Intonation hier gefährdet und er spielt möglicherweise um der Sicherheit den Vorzug zu geben die von Berg etwas entschärfte Alternative. Der Klang der Aufnahme ist transparent, voll bis opulent und weich klingend und verfügt über einen auffallend profunden Bassbereich. In dieser Version treibt der Solist den Ausdruck nicht in Grenzbereiche, er bleibt auch klanglich in den Bahnen eines Brahms-Konzertes. Die Verwandtschaft der beiden Konzerte, die ja nicht von der Hand zu weisen ist, wird hier besonders deutlich.
4
Christian Ferras
André Cluytens
Paris Conservatoire Orchestra
EMI
1963
25:19
Die spezifische Dynamik der Introduktion wir hier kaum beachtet. Ähnlich wie bei Gitlis, wenn auch nicht ganz so extrem, wird hier dem Geigenstar die akustische Dominanz zugebilligt. Von der intendierten Gleichberechtigung kann man hier als nicht reden. Entsprechend wirkt das Orchester nicht immer strukturiert genug. Manche Stimme mit H- Charakter bleibt unterbelichtet oder geht verloren. Melodien werden aber wie selbstverständlich, fast eingängig, jedenfalls für den Hörer sehr gut erfassbar präsentiert. Ferras nutzt den gewonnenen Focus mit sicherer Intonation, hoher Expressivität und viel Temperament. Er geht das Konzert wie ein hochromantisches an und ist darin mit Cluytens einer Meinung. Im 2. Satz fehlt dem Orchester wieder einmal die Durchschlagskraft, die lösen nur wenige Versionen wirklich ein. Ferras geht hier fast bis zum überhaupt technisch möglichen und quält sein Instrument. Das gilt auch für die Kadenz, in der das Orchester auch einen hohen gestalterischen Wert erhält. Der Choral zeigt die Klarinetten mehr in Einzelstimmen als im orgelähnlichen Mischklang. Dynamikanweisungen werden ziemlich oft nicht korrekt umgesetzt, besonders wieder die geringen Lautstärken. Generell steht in dieser Aufnahme der Ausdruck vor der akribischen Partiturgenauigkeit. Das Orchester könnte offener klingen und es fehlt auch noch etwas klanglicher Brillanz.
4
Christian Ferras
Josef Keilberth
Berliner Philharmoniker
Orfeo
1960
24:51
Live. Eine ähnliche Darbietung lieferte Ferras bereits drei Jahre zuvor in Salzburg. Auch hier musiziert er ausdrucksvoll, mit relativ reichlich Vibrato und ganz frei, aber leider auch ziemlich großzügig über die Dynamikanweisungen hinweg. Er möchte sicher im großen Konzertsaal nicht überhört werden. Keilberth ist es wohl zu verdanken, dass in der Introduktion besser dynamisch abgestuft wird als in Paris. Das Orchester verbleibt akustisch zu oft und zu sehr im Hintergrund. Das Hervorheben der Hauptstimmen kommt so nur unzureichend zur Geltung. Auch vernimmt man kleinere Unsicherheiten, die verraten, dass diese Musik dem Orchester damals noch nicht innig vertraut war. Ein paar Proben mehr hätten wohl nicht geschadet. Zu Beginn des 2.Satzes kommt es erneut viel zu schwach ins Bild. Die Kadenz in der Ferras sein ganzes Können zeigen kann sind die Beiträge des Orchesters allerdings sehr ausdrucksvoll. Im Höhepunkt des Allegros zeigen Orchester und Dirigent einen wesentlich beherzteren Zugriff. In Choral zeigen die Klarinetten, dass sie zu den besten ihres Metiers gehören und sie mühelos zu einem absolut einheitlichen Klang finden. Das ist einfach meisterlich. In den leiseren Partien blitzen sogar durch den mangelhaft aufgenommenen Klang immer wieder die auch damals schon üppig schillernden Klangfarben des Orchesters auf. Es klingt hier durchweg ausdrucksvoller auch noch im 1.Satz. Das größte Handicap dieser Einspielung ist der ziemlich lustlose Klang und die sehr stark eingeschränkte Dynamik. Naturgemäß bietet der Monoklang wenig Transparenz, aber etwas mehr hätte das Aufnahmedatum schon erwarten lassen. Die Interpretation ist lebendig und bewegend, bietet aber keine akribische Partiturtreue.
4
Manfred Scherzer
Herbert Kegel
Dresdner Philharmonie
BC
1980
25:00
Hier hört man in der Introduktion vorbildlich die notierte Dynamik. Das Orchester klingt zwar nicht über jeden Zweifel erhaben, es unterlaufen ihm durchaus ein paar kleine Malheure, aber als ganzes wirkt es regelrecht durchleuchtet. Die Souveränität eines CSO bei Levine oder des LSO mit Boulez erreicht es bei weitem nicht. Scherzers Ton will nicht so recht aufblühen, auch kommt es zu keinen leuchtenden Spitzentönen. Bisweilen wirkt sein Spiel mehr bemüht als erfüllt und die Intonation erscheint verunsichert. Ein schöner, souverän erzeugter, natürlich schwingender voller Ton, wie bei den ganz großen des Fachs, will sich nicht einstellen. Manche Phrasierungsanweisung wird auch nicht vollends umgesetzt. Die Verschmelzung des Solisten mit den Streichern des Orchesters im Adagio des 2. Satzes will auch nicht bruchlos gelingen. Scherzer bleibt als Solist immer hörbar. Die Verwandlung entbehrt so der wichtigen übersinnlich erscheinenden Komponente. Dafür ist die Gestaltung aber zumeist ziemlich spannend und das Klangbild von großer Transparenz.
4
Rebecca Hirsch
Eri Klas
Nederlands Filharmonisch Orkest
Naxos
1999
26:25
Frau Hirsch agiert technisch nicht ganz unangefochten aber klar und intonationssicher. Sie verbleibt in einem recht geringen dynamischen Ambitus, betont aber anders als vor allem die Virtuosen der älteren Generation nicht die lauten, sondern die leisen Töne. Der Ausdruck bleibt so mitunter seltsam neutral. Dennoch dominiert sie gegenüber dem Orchester, auch wenn dieses die Hauptstimme hat. Das gilt zum Beispiel für den Abschnitt der Kärtner Volksweise, in der das Horn führen soll, sie aber viel zu laut spielt, um ihm eine Chance zu lassen. Generell herrscht aber paritätisches Miteinander vor. Im 2. Satz bleibt das Orchester hinter dem gebotenen Bedrohungspotential zurück. Lässt der Geige stets die Dominanz. Statt expressionistischer, greller Töne dominieren hier eher die Pastelltöne. In der Kadenz fehlt es der Solistin bisweilen an der explizit geforderten Brillanz. Der Kanon (T. 78 - 83) war für den Verfasser nicht als solcher zu erkennen. Hier hörte man eine eher schräge Homophonie. Den arhythmischen Herzschlag bringt sie dagegen ausgesprochen eloquent zu Gehör (ab T. 104). Den Höhepunkt des Allegro ab T. 125 bringen Klas und Hirsch viel zu langsam (a tempo, ma molto pesante sollte er sein). Der Höhepunkt des Adagios bleibt seitens des Orchesters die erforderliche Dynamik schuldig. Verwandlung, Entrückung (Auferstehung) gelingen der Solistin sehr schön. Die Klangtechnik ist deutlich und das Orchester klingt sehr gut gestaffelt in Breite und Tiefe. Als Ganzes ist dieses „Requiem“ eher spannungsarm, der expressionistische Tonfall abgeschwächt.
4
Vladimir Spivakov
James Conlon
Gürzenich Orchester Köln
Capriccio
2001
25:59
Der Beginn ist wenig dynamisch differenziert. Dem Solisten reißt sogar der Ton kurz ab. Im weiteren Verlauf herrscht ein stets mit Vibrato versehener eher fahler als farbiger Einheitston vor. Der Vortrag erscheint aber technisch und von der Intonation her abgesichert. Es fehlt jedoch an der rechten Expressivität. Er steht zumeist im Vordergrund, während dem Orchester eine Statistenrolle zugebilligt wird. Zudem erscheint es auch nicht höchstgradig engagiert. Ihm fehlt der rechte Biss. So gerät der 1.Satz zu einer ziemlich zähen Angelegenheit und man wünscht sich Zukermans Schmelz oder Mutters klare Brillanz. Dieser Eindruck setzt sich auch im 2.Satz fort. Dem Orchester fehlt es an prononcierter Durchschlagskraft, bisweilen läuft es wie nebenher und ist nicht wie es sein sollte, ein grausamer Antagonist, die todbringende Krankheit symbolisierend. Spivakov spielt die Kadenz ausdrucksvoller, aber immer noch differenzierungsarm und greift ebenfalls auf die entschärfte Version zurück (zumindest T. 85 – 89).Das Orchester berappelt sich für die Klimax zum Höhepunkt des Allegros, aber letztlich hat auch hier die Violine die akustische Vorfahrt. Die Klarinetten machen ihre Sache im Choral gut, auch die Assimilation gelingt gut, Den Höhepunkt des Adagios hat man dann jedoch schon eindringlicher gehört. Der Verfasser wird den Verdacht nicht los, dass sich die Protagonisten dieser Aufnahme nicht besonders tief mit dem Stück befasst haben.
4
Yehudi Menuhin
Pierre Boulez
New Philharmonia Orchestra London
EMI
1968
26:27
Auch hier findet in der Introduktion kaum eine Differenzierung der Lautstärke statt. Menuhins Spiel zeigt mitunter Probleme bei Lagenwechsel und wirkt wenig souverän. Es ist auch wenig Farbe im Spiel und wirkt auch im 1.Satz bereits gequält, was aber weniger als interpretatorische Finesse zu gelten hat. Zudem kommt er bisweilen zu laut ins Spiel und verdeckt das eigentlich sehr transparente Orchester. Boulez wirkt aufmerksam und hellhörig, er erreicht aber in keiner Weise die hohe Präsenz und Wucht seiner Aufnahme mit dem LSO. Da wird er auch nicht hinreichend von der Technik unterstützt, der ja mit dem LSO ein Musterbeispiel an Dreidimensionalität gelang. Im 2.Satz agiert er zu zurückhaltend. Hier quält Menuhin seine Geige und entlockt ihr nur einen ziemlich dünnen, bisweilen wie heiser wirkenden Ton. Im weiteren Verlauf stellen sich wieder Eintrübungen ein. Menuhin scheint nun keine Gelegenheit mehr für differenzierte Gestaltung zu finden und sein Vibrato wirkt ziemlich fest. Das Orchester wirkt in den Höhepunkten etwas zu sachlich. Die Klarinetten klingen im Choral homogen. Bei der Assimilation mischt sich die Solovioline zunächst nicht gut mit den Streichern des Orchesters (ab T. 170).
Bei dieser Aufnahme hat man den Eindruck, dass der Solist sehr wohl genau weiß, was er spielt, es ihm aber an den Möglichkeiten fehlt, dieses Wissen punktgenau umzusetzen. Das Orchester wirkt weitgehend sattelfest, das Dirigat durchaus differenziert. Hier musste eine Mischbewertung vorgenommen werden.
3-4
Erica Kiesewetter
Leon Botstein
American Symphony Orchestra, New York
Eigenlabel
2010
28:26
Live. Auch die ehemalige Konzertmeisterin des Orpheus Chamber Orchestra und des ASO und jetzige Professorin des renommierten Bard College (Konservatorium für Musik) hätte die Steigerung der Lautstärke in der Introduktion besser beachten können. Im weiteren Verlauf des Stückes erweist sich diese Einstellung zum Notentext als Programm. Die dynamische Differenzierung entfällt fast völlig, der Zugriff ist durchweg zaghaft. Sie ist zwar auf einen schönen Ton bedacht, die Gestaltung wirkt aber einfarbig und geradezu monoton. Die letzte Präzision wird ebenfalls vermisst. Das Orchester hingegen wirkt farbiger und wird von der Technik auch sehr gut aufgefächert präsentiert. Die klanglichen Verhältnisse sind hier etwas zu Gunsten des Orchesters verschoben. Im 2. Satz fehlt es dem Orchester, wie bei fast allen Versionen im hinteren Bereich der Tabelle, an Brisanz. Die Kadenz wird von der Solistin sehr langsam genommen, der Duktus wirkt zumeist schleppend, ohne dass das als Moment einer aktiven Interpretation empfunden wird, vielmehr spürt man die Grenzen der Gestaltungskraft. Im Höhepunkt des Allegro kommt das Orchester trotz fff im Blech überhaupt nicht auf Touren, auch scheinen hier die artikulatorischen Mittel auszugehen, kurze crescendi und decrescendi unterbleiben ganz. Im Großen und Ganzen breitet sich ein lähmendes Tempo aus, das zumindest dem Hörer, der schon andere Aufnahmen im Kopf hat, nicht als gestalterisches Element versteht, was in diesem Zusammenhang durchaus plausibel hätte sein können, sondern vielmehr als ein nicht schneller und vor allem nicht intensiver können. So ergibt sich eher eine Meditation ohne jeden Biss über Manons Krankheit und Sterben, als eine direkte Darstellung ihres Kampfes auf Leben und Tod. Botstein übertragt so die Spielanweisung bei der Reprise des Kärtnerliedes ab T. 200 auf weite Teile des letzten Satzes. Die Geige müht sich unterdessen weiterhin zwar durchaus klangschön aber letztlich trotzdem nahezu impulsfrei und fast langweilig ab. Das Beste an dieser Live-Aufnahme ist ihr sehr transparentes und breitbandiges Klangbild, ansonsten ist dieser bei den einschlägigen Anbietern herunterzuladende Mitschnitt wohl eher als Andenken für die damals Anwesenden gedacht.
Wie immer dankt der Verfasser Herrn Bernd Stremmel für die generöse Überlassung wichtiger Vergleichsaufnahmen, ohne die dieser Vergleich deutlich ärmer ausgefallen wäre.