Igor Strawinsky 

Le sacre du printemps

Die Frühlingsweihe

Bilder aus dem heidnischen Russland

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Werkhintergrund:

 

„Eine gut gekleidete Dame in einer Orchesterloge stand auf und schlug einem jungen Mann, der in der nächsten Loge zischte, ins Gesicht. Ihr Begleiter erhob sich und die Männer tauschten ihre Visitenkarten aus. Ein Duell folgte am nächsten Tag“, so die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky. Die Dame, ihr Begleiter und der junge Mann waren Zeugen der Uraufführung des Balletts „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky am 29. Mai 1913 im prächtigen Théâtre des Champs-Élysées in Paris. Sie war einer "der größten Skandale in [der] Musikgeschichte" (Volker Scherliess). Die Musik war wegen der Tumulte kaum zu hören, am Ende der Veranstaltung registrierte die Polizei 27 Verletzte unter den Zuschauerinnen und Zuschauern. Die Frage, warum die Menschen derart in Rage geraten waren, ist nicht leicht zu beantworten. Lag es an der als "hässlich" empfundenen Musik? An der Choreografie von Vaslav Nijinsky? An den Bühnenbildern und Kostümen von Nicholas Roerich? Oder vielleicht eher an der Erwartungs­haltung eines ­Publikums, das die vorangegangenen ­Produktionen der Ballets russes, darunter Strawinskys L’oiseau de feu (Feuervogel, 1910) und Pétrouchka (Petruschka, 1911), stürmisch gefeiert hatte?

 

Die Ballets russes mit ihrem Impressario Sergej Djagilew hatten in Paris seit 1909 große Triumphe erlebt: Ihre Ballett-Produktionen trafen den Nerv der Zeit. Denn sie führten höchste Tanzkunst und russisch-orientalische, exotisch anmutende Sujets mit einer reichhaltigen Ausstattung und einer russisch-spätromantischen bis impressionistischen Musik zusammen. Zwar war der Exotismus und Orientalismus in Paris seit dem 19. Jahrhundert beheimatet und sehr beliebt – auf der Opernbühne waren etwa Giacomo Meyerbeers L’Africaine, Léo Delibes’ Lakmé oder Jules Massenets Thaïs mit großem Erfolg zu sehen gewesen. Doch die Weltausstellung im Jahr 1900 in Paris hatte dem kolonialen Blick auf das "Andere" eine "zunehmend authentische Konkurrenz an die Seite gestellt": Tanztruppen und Musik-Ensembles aus dem Nahen und Fernen Osten gaben reale Einblicke in fremde Kulturen und inspirierten dabei durch ihre Fremdheit besonders die Künstler der Avantgarde, die auf der Suche nach neuen Klängen, Formen und Ausdrucksmöglichkeiten waren.

 

„Le Sacre du Printemps“ wurde für dieses Umfeld konzipiert und komponiert: Djagilew kannte das Pariser Publikum gut und hatte ein hervorragendes Gespür dafür, welche Künstler – Choreografen, Tänzerinnen und Tänzer, Komponisten, Maler, Kostümbildner – zusammenzubringen waren, um ein künstlerisches Gesamtkonzept erfolgreich umzusetzen. Und so galt es für die russische Balletttruppe, nach dem Feuervogel, der Scheherazade und anderen orientalisch inspirierten Balletten das Thema der Auseinandersetzung mit dem Fremden erneut aufzugreifen. Dabei beschritten Nicholas Roerich (ein Vertreter des Symbolismus) und Strawinsky mit „Le Sacre du Printemps“ neue Wege. Zwar geht es auch darin um eine fremdartige Kultur, doch ist sie weniger orientalisch als vielmehr archaisch. Zudem hat das Ballett keine Handlung im herkömmlichen Sinne, es reiht vielmehr verschiedene Tänze wie in einem großen Ritual aneinander: Die archaische Gemeinschaft feiert das alljährliche Frühlingsopferfest mit einem Reigen verschiedener Tänze. Die Handlung ist im Grunde genommen sehr makaber, obwohl es Strawinsky schaffte, sie künstlerisch aufzuwerten. „Le sacre du printemps“ lässt sich mit „Die Frühlingsweihe“ ins Deutsche übersetzen. Das Stück handelt von einem sogenannte Frühlingsopfer, welches im heidnischen Russland tatsächlich sehr verbreitet war. Dabei treffen sich verschiedene Stämme, um dem Frühlingsgott jedes Jahr eine Jungfrau zu opfern. Im ersten Teil bezieht sich das Stück in weiten Teilen auf die Zusammenkunft der verschiedenen Stämme, sowie die daraus entstehenden Meinungsverschiedenheiten, welche sehr plastisch dargestellt werden. Erst im zweiten Teil fokussiert sich das Stück auf das persönliche Schicksal der zum Opfer bestimmten Jungfrau. Diese wird zuerst auserwählt, und beginnt dann ihren vernichtenden Tanz, ein Ritual, welches den selbst gewollten Tod herbeiführen soll. Die Musik setzt ruhig ein, doch bereits während der ersten Takte fällt der betonte Einsatz der Pauken auf, welcher eine düstere Atmosphäre schafft. Der Tanz der Jungfrau wird währenddessen immer extatischer, begleitet von lang anhaltenden und sich immer wieder übertreffenden Crescendi des Orchesters. Plötzlich scheint das Orchester, wie auch die Jungfrau, etwas zusammenzusacken, bis sich eine ähnliche Melodik schließlich einen Halbtonschritt tiefer wieder fortsetzt. Das Schauspiel setzt sich fort, die klangliche Atmosphäre wird dabei immer düsterer und düsterer. Schließlich steigert das Orchester die Spannung durch eine starke Ausdünnung der Klänge, bis das Stück mit einem Tutti Schlag aufgelöst wird. In diesem Moment bricht das Mädchen aus der Dynamik heraus tot zusammen.

Es war für das Publikum vollkommen überraschend, dass nicht die Schwüle des Orientalismus, die es bisher gekannt und goutiert hatte, auf die Bühne kam. Vielmehr war die Darstellung des Archaischen brutal und grausam. Das Ritual, das die Auserwählte aus dem Kreis der jungen Mädchen herauslöst, ihr "Heiliger Tanz", der ihren Tod bedeutet, erscheint als unhinterfragbares, unerbittliches Opferritual.

Auch die Ausstattung des Sacre bediente kaum die Erwartungen der Ballettbesucher, die an die luxuriösen Kostüme von Léon Bakst und anderen gewöhnt waren. Diesmal standen die Tänzerinnern und Tänzer in rauen Kitteln auf der Bühne, weder das erotische Flair noch der androgyne Reiz der früheren Produktionen waren zu sehen. Schließlich befremdete die Choreografie: Nijinsky (als Choreograph fast noch ein Anfänger) hatte die Archaik des Rituals in Bewegungen transformiert, die allen Konventionen des klassischen Balletts zuwiderliefen. Mit stampfenden Schritten und scheinbar ungelenken Bewegungen agierten die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne.

"Ich glaube es war weniger die Musik, die den Skandal verursacht hat", meint der Dirigent Philippe Jordan. "Das wird ja immer gern behauptet. Ich glaube das nicht, weil der 'Feuervogel' zwei Jahre davor ähnlich modern klang, und dieses Werk erntete einen riesigen Erfolg. Den großen Skandal beim 'Sacre' verursachten die Kostüme und die Art des Tanzes. Die Schritte, die wirklich weggingen von dem üblichen Tanz: Es wurde auf der Bühne gestampft, man hat die Beine nicht mehr gesehen, und die Kostüme waren bewusst hässlich und primitiv. Ich glaube, das war der eigentliche Skandal. Und natürlich hat man das dann auch auf die Musik übertragen."

Was hörte das Publikum am Abend des 29. Mai 1913? Und warum geriet es über das Gehörte außer Rand und Band? Die Irritationen, die diese Musik 1913 auslöste, sind nun schon fast 110 Jahre nach dem Ereignis nicht mehr unmittelbar nachzuvollziehen, Strawinskys Kompositionen gehören inzwischen zu den Klassikern der Moderne. Helga de la Motte-Haber hat mithilfe einer „Geschichte des Hörens“ einige Gründe für die Vehemenz der Ablehnung benannt. Musik wird nicht voraussetzungslos wahrgenommen und insbesondere die Frage, was als "schön" oder "hässlich" empfunden wird, ist von vielen Faktoren abhängig. Da sich die ästhetischen Normen ändern, kann etwa ein als konsonant wahrgenommener Akkord im Verlauf der Zeit zu einem als dissonant empfundenen Akkord werden – und umgekehrt. Mit den Hörgewohnheiten ändert sich mithin die Wahrnehmung von Musik selbst. Und wenn Musik gegen Hörgewohnheiten opponiert, wird sie zunächst als "fremd", "seltsam", "anders" wahrgenommen. Erst nach mehrmaligem Hören stellt sich eine Gewöhnung an das "Andere" ein, kann dieses schließlich zum "Gewohnten" werden. Jenem Moment aber, in dem Hörgewohnheiten umgestoßen werden, ist etwas Schockartiges eigen, das Irritationen auszulösen vermag.

Diesen Prozess hat die Musik des Sacre durchlaufen. Über die Uraufführung bemerkte Strawinsky, dass bereits "bei den ersten Takten des Vorspiels" das Publikum "in Gelächter ausbrach und seinem Unmut durch Zwischenrufe Luft machte". Aber schon über die konzertante Aufführung des Sacre im Jahr 1914 schrieb Pierre Lalo: "[…] es gibt nichts in der Musik, an das man sich schneller gewöhnt als an eine neue Dissonanz. Beim ersten Hören schockiert sie, verletzt sie, erscheint sie grell und beinahe grausam; bald aber erscheint sie nur noch verwunderlich; und wenig später schenkt man ihr kaum noch Aufmerksamkeit. Ich will damit nicht sagen, dass man die Dissonanzen des Monsieur Strawinsky jetzt schon nicht mehr bemerken würde und dass die Art, wie er, vor allem in der Partitur des Sacre du Printemps, mit Sekunden die Harmonik gestaltet, nicht Fortschreitungen produzieren würde, die ein bisschen grausam, nicht Reibungen, die ein wenig hart für an normalere Harmonien gewöhnte Ohren sind. Aber in diesen Härten und diesen extremen Kühnheiten steckt das Wesentliche."

Um die Neuartigkeit der Musik des Sacre wahrzunehmen, vor allem auch, um die bei der Uraufführung ausgelösten Irritationen nachvollziehen zu können, müssten wir unser Gehör um rund 110 Jahre zurückversetzen. Wir müssten uns vorstellen, den Sacre zum ersten Mal und vor allem ohne das Wissen um die musikalische Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts zu hören. Gelingen kann das nur mittelbar, indem wir uns die Kontexte vergegenwärtigen: So kann etwa anhand des Avantgarde-Diskurses eine solche "Zeitreise" in Gang gesetzt werden, denn sie legt einige Aspekte offen, die die Zuhörer des Jahres 1913 als besonders irritierend wahrnahmen.

Ist eine Avantgarde ohne Skandal denkbar? Die europäische Musikkultur der Jahrhundertwende verneint diese Frage. Alle neuen Impulse in der Musik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts spalteten das Publikum in Gegner und Befürworter – und beide Gruppen standen sich ebenso verständnislos wie unversöhnlich gegenüber. Beleidigungen, Handgreiflichkeiten und größere Tumulte waren anlässlich der Aufführungen von "neuer" Musik in den Theatern und Konzertsälen daher keine Seltenheit. In Kritiken oder persönlichen Berichten sind diese Skandale überliefert. Auf das Wesentliche fokussiert, gelangte die Kontroverse auch in die Karikatur. Dort wird – in genretypischer Überzeichnung – besonders deutlich erkennbar, was das Publikum verstörte. In der Wiener Zeitschrift Quer sacrum – eine parodistische Antwort auf die von 1898 bis 1903 von der Kunst-Avantgarde herausgegebene Zeitschrift Ver sacrum – war eine Anzeige für „Disharmonische Concerte“ abgedruckt. Sie weist auf die Uraufführung von "Das Ding an sich" einer – fiktiven – "Philosophischen Sinfonie in Mies-Moll" hin.

Die Anzeige greift alle Bestandteile auf, aus denen sich die Skandal-Konzerte jener Jahre zusammensetzten: Das Konzert werde "zu Gunsten des Pensionsvereines für wahnsinnig gewordene Musiker" veranstaltet; der Komponist sei auf pure Effekthascherei aus, behaupte er doch, "diese Tonart eigens für diesen Zweck erfunden" zu haben. Eine überbordende Vielzahl von Mitwirkenden werde verlangt, darunter die Schützenkapelle und die freiwillige Feuerwehr. Schließlich kämen neue Instrumente zum Einsatz: drei Karfreitags-Ratschen, zwei Bischari-Trommeln, 17 Knallerbsen, eine rostige Türangel und eine Dynamitexplosion. Da mit Tumulten zu rechnen sei, werde eine Ambulanz der Rettungs-Gesellschaft während der Aufführung im Saale garantiert. Die Ankündigung: "Die Saaltüren werden während des Musikstücks verrammelt!", dürfte kaum zur Beruhigung des potentiellen Publikums beigetragen haben.

Auch wenn diese Parodie auf die Uraufführung der Achten Sinfonie von Gustav Mahler 1910 abzielte, wird deutlich, welche Aspekte der musikalischen Moderne hier in der Kritik standen: die aus der Dur-Moll-Tonalität ausbrechende Harmonik, der Hang zu enorm großen Besetzungen (Mahlers Achte trug deshalb den Beinamen „Sinfonie der Tausend“) und der Einsatz von neuen, die Lautstärke erhöhenden Klangerzeugern. Flankierend dazu wurde das Bild eines zwischen Wahnsinn und Selbstüberschätzung changierenden Komponisten etabliert sowie das eines hilflosen, durch die Musik buchstäblich bedrohten Publikums – die Metaphern der physischen Verletzung durchziehen die Kritiken jener skandalisierten Aufführungen.

Ein Beispiel: die Uraufführung von Arnold Schönbergs Kammersinfonie op. 9, die genau jene Ingredienzen vereint, die in der Ablehnung der Avantgarde eine zentrale Rolle spielten: "Arnold Schönberg und sein talentloser Anhang feierten die billigen Triumphe des Konzertskandals. Eine 'Kammermusiksinfonie' Schönbergs, in welcher 15 Instrumente die Aufgabe hatten, im stärksten Fortissimo die entsetzlichsten, unmotiviertesten Dissonanzen zu erzeugen und ein widerliches kunstfremdes Unwesen zu treiben, bedeuteten den Höhepunkt, respektive den Tiefstand dieser 'Kunst'. Ich rufe alle Musiker […], ich rufe alle Vernünftigen zu Zeugen auf, dass diese 'Musik', wenn sie nicht ein ungeheurer Spaß sein soll, nur dazu angetan ist, Ohr und Empfindung auf das Gröblichste zu verletzen."

Die musikalische Avantgarde sorgte nicht nur in Wien und Paris, sondern in ganz Europa für Skandale. Denn mit den neuen Klängen wurde nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Kunst und Bürgertum neu verhandelt, das bislang vorwiegend als Einheit gedacht war: Gerade in den repräsentativen Darbietungsformen der Musik – Oper, Konzert, Ballett – hatte das bürgerliche Publikum ein Identifikationsmedium ersten Ranges gesehen. Zu diesen auf die Demonstration des eigenen sozialen Status und auf gesellschaftliche, ästhetische wie moralische Stabilität abzielenden Musikereignissen aber standen die Klänge einer modernen, die Grenzen austarierenden oder überschreitenden Musik im denkbar größten Gegensatz. Daher die starke Metaphorik des Verletzens in den Rezensionen über die "neue" Musik, daher auch die realen Aggressionen, in denen sich die Gegensätze von etabliertem Kunstgenuss und neuem Kunstanspruch Bahn brachen.

In dieses Tableau der Skandale reihte sich die Uraufführung des „Sacre du Printemps“ ein. Die unterschiedlichen Berichte sprechen zwar die jeweilige Sprache des ästhetischen Lagers, aus dem sie stammen – ablehnende Wut oder bewundernde Zustimmung –, ihnen allen aber ist eigen, dass sie vor allem die Publikumsreaktionen beschreiben. So überlieferte etwa Jean Cocteau, der den Verantwortlichen des Sacre nahestand, in seiner programmatischen Schrift „Le coq et l’arlequin“ eine ausführliche, inzwischen berühmt gewordene Darstellung und wandte dabei seine Blickrichtung weg von der Bühne auf den Zuschauerraum: "Bei der Uraufführung des Sacre spielte der Saal die Rolle, die er spielen musste: er revoltierte von Anfang an. Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach und vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und einige Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätten. Der Tumult artete in ein Handgemenge aus. Mit schief gerutschtem Diadem in ihrer Loge stehend, schwang die alte Comtesse de Pourtalès ihren Fächer und schrie mit hochrotem Gesicht: 'Zum ersten Mal seit 60 Jahren wagt man es, sich über mich lustig zu machen!' Die gute Dame meinte es aufrichtig; sie glaubte an eine Fopperei."

Übrigens kippte die Situation endgültig als der Komponist und Kritiker Florent Schmitt (bekanntestes Werk: „La Tragédie de Salomé“) in den Saal brüllte: „Die Huren aus dem 16. Bezirk sollen schweigen“ (genauer übersetzt: „...sollen ihr Maul halten“). Der 16. Bezirk war damals (wie auch heute) nicht etwa der Rotlichtbezirk, sondern das mondänste Viertel der französischen Hauptstadt...Während Strawinsky, Cocteau, Nijinsky und Djaghilew mit der Kutsche durch den Bois de Boulogne fuhren, um frische Luft zu schnappen und Djaghilew dabei weinend Pushkin rezitierte, wurde der Polizeibericht über 27 Verletzte aufgenommen.

Die Musik des Sacre überschritt offensichtlich eine Grenze. Man empfand sie als Verhöhnung des bislang Gehörten. In der erwähnten Spott-Annonce war etwa von Klangerzeugern die Rede, die das Geräuschhafte in die Musik einbrachten. Die Abkehr vom ästhetischen Wohlklang konkretisierte sich in der Parodie zu Knallerbsen, einer rostigen Türangel und einer Explosion. Ein Blick auf die Besetzung des Sacre freilich zeigt, dass hier zwar ein großes Orchester vorgesehen ist, aber keine besonderen Klangerzeuger, wenn man vielleicht vom „Guero“, der Ratschgurke absieht. Wenn mithin die Musik als "rau" und "grausam" wahrgenommen wurde, lag dies nicht am Einsatz zusätzlicher Klangerzeuger, sondern in der Komposition selbst.

Die Besetzung: Das Orchester besteht aus fünf Flöten (dritte auch, vierte nur Piccolo, fünfte Altflöte), fünf Oboen (vierte auch, fünfte nur Englischhorn), fünf Klarinetten (drei in A und B, dritte auch, fünfte nur Bassklarinette, vierte in Es und D), fünf Fagotten (viertes auch, fünftes nur Kontrafagott), acht Hörnern (siebtes und achtes auch Tenor-Wagnertuba), fünf Trompeten (vier in C, vierte auch Basstrompete in Es, fünfte in D), drei Posaunen (dritte Bassposaune), zwei Basstuben, fünf Pauken (zwei Spieler), Schlagwerk (Große Trommel, Tamtam, Triangel, Tamburin, Becken, Crotales („antike Zimbeln“) in As und B, Guero und Streichern.

Und vielleicht war es auch die Evokation einer archaischen, vor-zivilisatorischen Gesellschaft, die das Publikum an Strawinskys Ballett verunsichert und provoziert hatte. "Es geht um starke Gefühle der Menschen in einer prähistorischen oder altrussischen Zeit", sagt Philippe Jordan. "Im zweiten Teil nimmt dann der Ritus, der in dem Werk geschildert wird, barbarische Züge an: Eine Jungfrau opfert sich für den Frühling, für ein gutes Jahr, eine gute Ernte, und tanzt sich zu Tode. Dieser grausame Akt spiegelt sich natürlich stark in der Musik wider: Die Musik, so modern und komplex auch immer sie klingt, ist eigentlich eine sehr einfache und starke Musik. Es sind altrussische Melodien, die sich ständig wiederholen und dadurch diesen rituellen Charakter erhalten. Es gibt ja keine motivisch-thematische Arbeit. Die kommt nicht vor. Deswegen wirkt die Musik so elementar und direkt."

"Anbetung der Erde" und "Das Opfer" - so heißen die Titel der beiden Teile von "Le sacre du printemps". Die Anbetung der Erde wird durch einen Frühlingsreigen, durch männlich-protzige Wettkampfspiele und durch rituelle Tänze zelebriert. Am Anfang jedoch steht eine ganz einfache Phrase des Solofagotts. "Dieses Fagottsolo am Anfang ist ein Zitat", so Philippe Jordan. "Es ist eine altrussische Melodie, die damals auch zu Hochzeiten gespielt wurde. Und Strawinsky hat sie dem Fagott gegeben in einer Lage, die wirklich nicht nach einem Fagott klingt. Es sollte so klingen wie ein Urinstrument - ein Urhorn oder eine Urflöte vielleicht. Und das macht diesen Anfang so besonders. Es symbolisiert für mich diesen ersten Keim des Frühlings, wo der Samen aufgeht und plötzlich die Natur erwacht. Das ist einfach schlichtweg genial."

Aus diesem ersten zaghaften Aufkeimen der Natur erwachsen in raffinierter Klangdramaturgie die verschiedenen Stadien des Opferrituals. Strawinsky war eigens in sein Heimatland gereist, um Material für den "Sacre" zu sammeln. In dem Dorf Talaschkino bei Smolensk, einem Zentrum für russische Volkskunst, fand er Hinweise auf altes Brauchtum, notierte ein paar Volkslieder und entwarf damit sein Stück, das er "Bilder aus dem heidnischen Russland" nannte.

Der zweite Teil des Balletts, in dem das eigentliche Opferritual vollzogen wird, beginnt sehr verhalten. Quasi als Ruhe vor dem Moment, in dem das Mädchen ausgewählt wird, beschreibt die Musik diverse rituelle Handlungen, bevor sich das Opfer schließlich in wilder Ekstase zu Tode tanzt. Am Schluss von "Le sacre du printemps" werden die immer gleichen musikalischen Strukturen in ständiger Steigerung wiederholt. "Als ob man sich dreht und dreht und dreht bis einem dann plötzlich die Luft wegbleibt", beschreibt Philippe Jordan diesen Effekt. "Das ist ja von Strawinsky am Schluss genial gemacht, wenn plötzlich die Musik nochmal inne hält im vorletzten Takt, und dann in einem grauenhaften Akkord zum Schluss das Guillotine-Beil fällt. Man beachte die Noten in den Bässen des Orchesters im letzten Takt: Es sind die Töne D-E-A-D, also 'Dead', ein Symbol für den Tod. Das ist einerseits natürlich sehr spielerisch. Aber es hat auch eine Grausamkeit, die ihresgleichen sucht."

Das Werk noch etwas genauer unter die Lupe genommen, offenbart seine Geheimnisse, zumindest teilweise. Ein Beispiel: Nach der mit dem Fagott-Solo beginnenden, in agilen Arpeggien sich im Tempo rubato entwickelnden Introduction bricht mit dem Satz Les augures printaniers. Danses des adolescentes der gerade entwickelte, obertonreiche Klangraum abrupt ab, es folgt ein Tempo giusto mit gleichbleibenden, hart phrasierten Achtel-Akkorden in den Streichern. Dieser Kontrast wäre an sich bereits stark, doch Strawinsky steigert die Kontrastwahrnehmung, indem er die immergleichen Streicherakkorde durch eine vollkommen irreguläre Betonung aus ihrer Monotonie reißt.

Dazu kommt der clusterähnliche Tonvorrat der hämmernden Akkorde: Der Es7-Akkord in zweiter Violine und Bratsche bildet mit dem Fes-Dur der tiefen Streicher eine starke Sekundreibung. Bitonal stehen die beiden Akkorde aufeinander, ohne aber ihre Spannung aufzulösen. Volker Scherliess weist daher zu Recht darauf hin, dass der Klang "fürs Ohr nicht als harmonisches Gebilde [wirkt], sondern als spezifische Farbe", zu der sich neben der harmonischen Klangballung noch die tiefe Lage als verunklarendes Element gesellt. Der irreguläre, stampfende Rhythmus schließlich, den Strawinsky bereits in den ersten Skizzen des Sacre notiert hatte und später nicht mehr veränderte, lässt weder Taktart noch einen anderen "Puls" erkennen. Zugleich entsteht durch die Spielanweisung der Streicher (jedes Achtel mit Abstrich) ein wenig streichertypischer Klangeindruck, die Streicher werden hier vielmehr als Quasi-Schlagwerke verwendet.

Dieser Satzbeginn konterkariert all die Hörerwartungen, welche sich im Rahmen eines Balletts an den ersten Auftritt der Tänzerinnen und Tänzer stellen: keine Entfaltung eines klar erkennbaren Rhythmus, keine erkennbare Melodik, keine von Strawinskys früheren Ballettkompositionen bekannte subtile Instrumentation. Stattdessen eine blockartige, wenig gestische, ruppige Klangstrecke. Die musikalischen Mittel, die Strawinsky zur Erzeugung dieses "rauen" Höreindrucks verwendet, sind vergleichsweise einfach: eine achttaktige Phrase im 2/4-Takt mit gleichbleibendem Tonvorrat, der aus zwei ineinander verschränkten Drei- bzw. Septklängen besteht (bitonal), die zueinander in Sekundreibung stehen, instrumentiert mit Streichern sowie die irregulären Betonungen verstärkenden Hörnern. Auffallend daher, dass es weder eines besonderen Instrumentariums noch einer "eigens für diesen Zweck erfunden[en]" Tonart bedurfte, um die irritierende Klangwahrnehmung zu provozieren.

Ist dieser Beginn der Augures printaniers fast provokant einfach gestaltet, so war es andererseits gerade die besondere Komplexität der Partitur, die als "hässlich" und "barbarisch" wahrgenommen wurde. Wohlgemerkt: Komplexität – etwa polyphone Satztechniken, eine dichte thematisch-motivische Arbeit oder auch ein differenziert eingesetzter Orchesterapparat – war dem Publikum durchaus vertraut und wurde insbesondere von der Musikkritik als Ausweis der besonderen Könnerschaft des Komponisten verstanden. Offenbar aber lag im Sacre eine andere, bislang ungewohnte Form von Komplexität vor, denn gerade sie wurde als Indiz für das "Barbarische" angeführt: Der Kritiker Paul Schwers etwa schrieb 1922, dass Strawinsky zwar über "eine erstaunliche Gewandtheit in der Handhabung orchestraler Mittel" verfüge, die "ihm die Möglichkeit zur Entfaltung von Klangorgien" gebe, "die den Hörer ebenso verblüffen wie bei längerem Hören verdrießen". Aber in "dieser übersteigerten Art äußerlich virtuoser Musikmacherei offenbart sich letzten Endes unsagbar geistige Einseitigkeit, seelische Brutalität. Diese Musik ist im Grunde krasse Unkultur, sie hört da auf, wo die Kunst im eigentlichen Sinne […] erst beginnt".

Ein Blick in die Partitur verdeutlicht diese andere Form von Komplexität. Im weiteren Verlauf des bereits angesprochenen Satzes Augures printaniers türmen sich verschiedene Klangschichten bis zum Kulminationspunkt auf, dem Beginn des folgenden Satzes Jeu du rapt. Dieses Auftürmen der Schichten geschieht sukzessiv – und zwar sowohl horizontal (die Schichten werden länger ausgedehnt) als auch vertikal (die Schichten werden übereinander auf immer mehr Stimmen verteilt und ausdifferenziert). So entstehen etwa aus den beiden schlichten Zweitonmotiven der fallenden Terz und der fallenden Quarte, die lose durch verschiedene Instrumente geschickt werden (Piccolo, Oboe, Trompete, Posaune, Violinen), verschiedene Ostinati: in den Trompeten und Hörner solo staccato / marcato, in den Violinen in Sechzehnteln, später auch augmentiert (Sexten) und aufwärtsgerichtet. Und aus den Vorschlägen, die in den (Piccolo-)Flöten liegen, entwickeln sich rasche Figuren, bald als Vorschläge, bald als Arpeggien, bald als chromatische, bald als diatonische Läufe, bald mit Trillern kombiniert.

Diese flirrenden Ostinati tragen zur Dichte des Klangeindrucks wesentlich bei. Und da sie höchst flexibel durch alle Instrumente wechseln und jederzeit durch andere Klangschichten unterbrochen oder überlagert werden können, entsteht der Eindruck einer sich immer höher auftürmenden Klangmasse. Strawinskys formales Prinzip, dass vielfach als Montage bezeichnet oder auch mit dem Kubismus verglichen wurde, ist nicht das herkömmliche Prinzip thematisch-motivischer Arbeit, sondern basiert auf der Idee, dass musikalische Muster sich verdichten, aneinanderreihen oder gegenseitig überlagern. Dass freilich jede einzelne der daraus entstehenden Schichten einem Urprinzip zugeordnet werden kann (etwa der fallenden Terz oder dem Vorschlag) und die Vielfalt der Klangfarben(schattierungen) von einer wohldisponierten Steigerung zeugt, war für einen Großteil des Publikums der Uraufführung gar nicht wahrnehmbar. Hier überwog der Eindruck, dass in dieser Musik kein Prinzip erkennbar sei, woraus abgeleitet wurde, dass sie nicht nur hässlich, sondern vor allem unkultiviert, ja barbarisch sei. Der Kritiker Adolf Weissmann jedenfalls war überzeugt, in Strawinskys "brutalen" Klängen "ein Stück Barbarentum" wahrzunehmen.

Diesem Vorwurf entgegnete Lalo in seiner Kritik bereits im Jahr 1914: " […] nichts ist plump oder vulgär oder verdorben, nichts ist gemein, platt oder link. Mit einem Wort: nichts ist hässlich. […] Die Partitur […] ist im Ganzen von einem außerordentlich kultivierten Musiker geschrieben, kultiviert was die Feinfühligkeit und was den Geschmack anbelangt, der alle Mittel seiner Kunst besitzt und der nichts einem wie auch immer gearteten Ideal der primitiven Rohheit opfert."

Die Diskussionen über das "Barbarische" des Sacre hielten noch eine Weile an und kamen vor allem in Zeiten politischer Auseinandersetzungen immer wieder zum Vorschein. So trug der Vorwurf des Primitivismus, vor allem in der deutschen Presse nach dem Ersten Weltkrieg, deutlich nationalistische Untertöne. Strawinsky wurde als Person und als Schöpfer einer "monströse[n] Musik" als barbarisch abqualifiziert: Sacre sei für "Mitteleuropäer" nichts als "Unkultur", "sie ist ein Kunstprodukt für Kalmücken und Kirgisen".

In der "Geschichte des Hörens" sind wir inzwischen an einem anderen Punkt angelangt. Die Irritation, die durch die Bitonalität, die kräftigen Rhythmen, den Klangfarbenreichtum und die Komplexität des Sacre ausgelöst wurde, ist einer andauernden Faszination gewichen, die sich freilich noch immer an der Tatsache festmacht, dass die Musik das Neue und Vertraute zugleich zu hören gibt. "Für viele ist Sacre du Printemps", so der britische Pianist und Musikwissenschaftler Peter Hill, "das erste Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, das vollständig mit der Vergangenheit brach. Das Paradoxon aber ist, dass es gleichzeitig diejenige Komposition ist, die tiefer in der Tradition wurzelt als alle anderen Werke Strawinskys."

(Quellen: Florian Heurich, Das starke Stück, BR, 2016, Melanie Unseld, Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Übrigens nannte Strawinsky selbst sein Werk „Vesna Sviaschénnaiya“ (Heiliger Frühling) und war nie glücklich mit Léon Bakst einprägsameren Titel. Seiner Meinung nach hätte „Die Krönung des Frühlings“ die ursprüngliche Bedeutung besser getroffen als das „Das Frühlingsopfer“.

Auch wenn es die Distanz von nun fast schon 110 Jahren erlaubt, den Sacre in seinem historischen Umfeld zu hören – Debussy, Rimski - Korsakow, aber auch Mussorgsky haben hörbar Pate gestanden – muss eine Einspielung (oder Aufführung) nicht nur das Werk an sich realisieren, sondern auch seinen geschichtlichen Stellenwert vermitteln und das bedeutet: Das Neue von einst muss als solches erkennbar bleiben, bei Strawinsky genauso wie bei beispielsweise von Beethovens 3. Sinfonie Es-Dur, der „Eroica“.

Gustavo Dudamel meint zu den besonderen Anforderungen des „Sacre“ an die Interpreten: Es gibt in dem Werk eine große rhythmische Linie vom Anfang bis zum Ende. Und genau diese Linie im Auge zu behalten, ohne dabei jemals an Energie einzubüßen, die Farben aus den Augen zu verlieren oder gar die rhythmische Präzision, das wäre die größte Herausforderung.

Leonard Bernstein erzählte bei den Proben mit einem Jugendorchester, dass man bei dem Stück auch die blühenden Bäume und aufknospenden Blumen hören soll, als ob man die Welt, diesen Neuanfang, diesen magischen Frühlingsmoment umarmen möchte. Die Musik ist nicht abgetrennt vom Leben.

Francois - Xavier Roth meint, dass man dem Orchester das Abenteuer, an die Grenzen des instrumental Möglichen zu gelangen auch anhören soll. Es sagt im Beiheft zu seiner Einspielung: „Auch die Kräfteverhältnisse im Orchester, wenn er z.B. ein Horn zum Brüllen bringt. Im „Heiligen Tanz“ lässt Strawinsky das Orchester als Ganzes rhythmische Gebilde spielen, die man vorher nie gehört hatte. Er erfindet eine neue kollektive Virtuosität, kein anderer Komponist hätte gewagt, was er wagte.“

Dem Dirigenten aber stellt sich auch ein philologisches Problem, denn der Notentext des Sacre ist alles andere als gesichert. Nicht nur hat Strawinsky 1943 eine Überarbeitung der „Danse sacrale“ vorgenommen und dabei die Instrumentierung und die Taktierung geändert, sondern er hat Zeit seines Lebens bei den verschiedensten Aufführungen und Einspielungen immer wieder kleine Retuschen vorgenommen. Er war neugierig und immer zu Experimenten aufgelegt, hörte auf Empfehlungen von Monteux oder Ansermet, ließ andererseits offenkundige Fehler, auf die ihn z.B auch Pierre Boulez hingewiesen hatte, in den Noten stehen, um einen ungewohnten Klang zu erzielen. Die Retuschen tangieren aber nie die Substanz des Werkes. So bietet die von uns zum Zwecke des Vergleichs verwendete Taschenpartitur von Boosey & Hawkes, 1947, re-engraved Edition 1967, zwar ein übersichtliches Bild, entspricht aber nicht immer der Aufführungspraxis (zumal der zuvor entstandenen Einspielungen). Wir wollen die philologischen Aspekte nicht über Gebühr weiterverfolgen, da sie für unseren Vergleich nicht gerade von allergrößter Relevanz sind.

Neuerdings gibt es dankenswerter Weise zumindest zwei Einspielungen, die sich explizit auf die Originalpartitur (die im Paul-Sacher-Museum in der Schweiz als Strawinskys Manuskript vorliegt) von 1913 beziehen (Francois-Xavier Roth, David Zinman). Die Unterschiede zur heute gebräuchlichen Fassung von 1947/67, fasst David Zinman, der sowohl Einspielungen der Fassung von 1913 als auch von 1967 vorgelegt hat, folgendermaßen zusammen: „Es gibt sehr viele Unterschiede, die vor allem die Orchestrierung, die Takteinteilung und die Aufführungsanweisungen betreffen. So hat zum Beispiel das berühmte eröffnende Fagott-Solo im Gegensatz zur Fassung von 1967 keine Dynamikangabe, wodurch diesbezüglich ein gewisser Interpretationsspielraum offenbleibt. Und für die hämmernden Akkorde in Les augures printaniers werden keine Abstriche vorgeschrieben, sie sind also weniger aggressiv notiert als später. Es gibt aber auch Unterschiede, die die musikalische Substanz an sich betreffen. Bei Zf. 28 zum Beispiel weist die Partitur 18 Takte auf, die später durchgestrichen werden und auch nicht in die späteren Fassungen eingegangen sind. Warum dies so ist, kann ich nicht sagen, jedenfalls werden wir sie spielen. Große Unterschiede finden sich überdies in der rhythmisch komplizierten Danse sacrale.“

Charles Dutoit legt eine Version von 1921 vor, die David Zinman überall vergeblich suchte. Man bemerkt bei ihr allenfalls, dass da einmal ein pizzicato mehr, da mal eines weniger erklingt, ansonsten kann man der vor allem klanglich misslungenen Einspielung kaum anderes oder gar neues abgewinnen.

Der Einspielung von Francois-Xavier Roth kommt das Verdienst zu, die Fassung von 1913 auch mit dem damals gebräuchlichen Instrumentarium eingespielt zu haben. Roth meint, dass „man den Eindruck hat, dass Strawinskys Werk mittlerweile zu dem Glanz der modernen Instrumenten gehört. Mit historischen Instrumenten entdeckt man eine andere Musik, man hört mit anderen Ohren. Streicher mit Darmsaiten und Blechbläser mit kleiner Bohrung werden mit modernen Instrumenten nicht mithalten können beim Volumen, dafür aber bei der Diktion der Musik und was die Farben betrifft; man wird sich klar darüber, was Strawinsky damals ausdrücken wollte. Man findet ein dumpfes, bedrohliches Zittern vor Angst, aber auch Gewalt. Das Orchester schreit manchmal, wie in die Enge getrieben. Für die Instrumentalisten ist das alles andre als das komfortable Spiel, das man auf modernen Instrumenten haben kann. Heute spielen Fagottisten die Introduktion des „Sacre“ mit Leichtigkeit. Damals gab es jedoch noch keine Klappen, die den Zugang zu den hohen Lagen erleichtert hätten. Die Klappen kamen praktisch nach dem „Sacre“ dazu.“

Strawinsky scheute sich lange Jahre, den „Sacre“ selbst zu dirigieren, selbstverständlich wusste er um die exorbitanten Schwierigkeiten der Partitur. Die erste Aufnahme machte er bereits 1929, als er hörte, dass Monteux den „Sacre“ zum ersten Mal aufnehmen wollte. Er wollte ihm wohl die Ehre der ersten Einspielung nicht alleine überlassen. Die ersten Rundfunkaufnahmen mit dem Sacre machte er Anfang der 40er Jahre in den Vereinigten Staaten; wenig später entstanden dann auch zwei Schallplatten-Einspielungen, die Strawinsky wegen ihrer schlechten Qualität allerdings nie freigab. Der Vertrag, den die amerikanische Schallplattenfirma Columbia zu Beginn der 40er Jahre mit dem Komponisten abgeschlossen hatte, war ungewöhnlich: Strawinsky sollte sukzessive alle seine Klavierkompositionen einspielen. Ein Vertrag, der wenig später auch auf die Orchestermusik ausgeweitet wurde. Es war die erste Schallplatten-Gesamteinspielung, die einem lebenden Komponisten zuteil wurde; ein wirtschaftlich waghalsiges Projekt, das auch in Künstlerkreisen auf vehemente Kritik stieß: Was war schon an Strawinsky Besonderes, was nicht auch andere Komponisten hätten leisten können? (Wolfgang Lempfrid, Manuskripte bei KölnKlavier) Die chronologisch dritte Einspielung, die auch 1929 begonnen, aber erst im Jahr 1930 fertiggestellt wurde, stammt von Leopold Stokowski. Diese ist die älteste in unserem Vergleich.

Über Strawinsky als Dirigent gibt es die unterschiedlichsten Berichte von Orchestermusikern. Er muss im Umgang und bei den Proben (da sind sich alle einig) ein überaus liebenswürdiger Mensch gewesen sein, - aber darüber hinaus? Die einen empfanden sein Dirigat als inspirierend, andere (darunter auch die Aufnahmeleiter) bezweifelten, ob der Komponist von "Petruschka", "Feuervogel" und dem "Sacre" überhaupt bis Drei zählen könne. Wir hörten in einer Rundfunksendung bei Deutschlandradio Kultur von Michael Stegemann auch, dass sich Strawinsky eine Version von „Sacre“ im 4/4 Takt angefertigt hätte.

Den Einspielungen Strawinskys jedenfalls hört man es nicht an, dass er Schwierigkeiten gehabt hätte. Bei der „Sinfonie in drei Sätzen" nicht und auch beim Sacre nicht. Was allerdings auffällt: wie zurückhaltend und objektiv-sachlich der damals über 70-jährige Strawinsky mitunter seine frühen Werke interpretiert hat. Das hängt wiederum auch an seiner Einstellung zur musikalischen Interpretation im Allgemeinen ab. (Siehe letzter Vergleich: Strawinsky: „Sinfonie in drei Sätzen“) Die Musik spricht durch sich selbst und bedarf keiner Interpretation, heißt es da, grob zusammengefasst. Dennoch ergibt sich über die Jahrzehnte ein mannigfach schillerndes Bild über die einzelnen Einspielungen hinweg.

 

 

 

Zitatsammlung:

 

Strawinsky selbst: „Als ich in St. Petersburg die letzten Seiten des ,Feuervogel‘ niederschrieb, überkam mich eines Tages – völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen Dingen beschäftigt – die Vision einer großen heidnischen Feier: Alte angesehene Männer („Die Weisen“) sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das zufällig ausgewählt wurde und geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. Das wurde zum Thema von „Le Sacre du printemps.“

Pierre Monteux in seinen Memoiren über Strawinskys Vorspiel seines Klavierentwurfs von Sacre:

„Mein Kopf schmerzte heftig und ich kam ein für allemal zu dem Schluss, dass die Sinfonien von Beethoven und Brahms die einzig richtige Musik für mich sei – und nicht die Musik dieses verrückten Russen. Ich muss gestehen, dass ich keine einzige Note von „Le sacre du printemps“ verstand. Mein einziger Wunsch war, aus diesem Raum zu fliehen und eine ruhige Ecke zu finden, um meinen schmerzenden Kopf auszuruhen. Dann drehte sich mein Direktor (Djaghilew - Anm.) zu mir um und sagte mit einem Lächeln: “ Dies ist ein Meisterwerk, Monteux, das die Musik vollkommen revolutionieren und Sie berühmt machen wird, denn sie werden es dirigieren“ und tatsächlich, ich tat es.“

 

Strawinskys besonderen Respekt erwarb sich der Uraufführungsdirigent Pierre Monteux damit, dass er bei der Uraufführung auch unter tosenden Buhrufen durchhielt. „Ich saß in der vierten oder fünften Reihe, und das Bild von Monteux' Rücken ist mir lebendiger in Erinnerung geblieben als das Bühnenbild, berichtete Strawinsky später. „Er stand dort scheinbar unzugänglich und ohne Nerven wie ein Krokodil. Es ist für mich immer noch fast unglaublich, dass er das Orchester wirklich bis zum Ende durchbrachte.“

 

David Zinman über das Verhältnis von Pierre Monteux, dessen Assistent er die letzten Lebensjahre gewesen war, und Igor Strawinsky: „Es war ein etwas zwiespältiges Verhältnis. Monteux mochte Strawinskys Musik, aber er schätzte seine Persönlichkeit nicht so sehr, denn Strawinsky war – in der Art, wie es damals sehr verbreitet war – Antisemit und Monteux war jüdischer Abstammung. Es gibt deshalb einige abfällige Bemerkungen von Strawinsky über ihn. Monteux fühlte sich aber auf jeden Fall von Strawinskys Anerkennung geschmeichelt und blieb ihm stets dankbar dafür, dass er den Beginn seiner Karriere so gefördert hat.“

 

Strawinsky, der nach dem Durchfall der Uraufführung beträchtlich litt, in einem Zitat aus der New York Times vom 8. Juni 1913: „Das ist offenbar alles, was man uns gibt, nach 100 Probedurchläufen und einem Jahr harter Arbeit. Zweifellos wird man eines Tages verstehen, dass ich einen Überraschungscoup auf Paris gelandet habe, Paris aber unpässlich war. Bald wird es seine schlechte Laune vergessen.“

 

Nach dem letzten Takt signierte Strawinsky die Partitur und er vermerkte das Abschlussdatum: 4. April 1913. In die obere rechte Ecke schrieb er später: „Wer immer diese Musik hört, soll nie die Schmach erleben, der ich im Frühjahr 1913 im Théatre du Champs-Elysées zu Paris ausgesetzt war und die ich miterleben musste.“ (Igor Strawinsky, Zürich, 11. Oktober 1968.)

 

 

Claude Debussy:

„Wissen Sie, dass ganz in der Nähe, in Clarens (Schweiz, Anm.), ein junger russischer Musiker lebt, Igor Strawinsky, der das instinktive Genie für Klangfarbe und für Rhythmus hat? Ich bin sicher, dass er und seine Musik ihnen grenzenlos gefallen werden (...)  Seine Musik trägt die vollen Orchesterfarben unmittelbar auf eine Zeichnung auf, die sich nur über das Wagnis der Gefühle beunruhigt. Er übt darin weder Vorsicht noch Anmaßung. Das ist kindlich und wild. Dennoch ist die Anlage seiner Musik äußerst delikat.“ (C. Debussy, Lettres à deux amis, Paris 1942, S. 129f, geschrieben allerdings am 18.11.1911, also vor dem „Sacre“)

 

 

Claude Debussy spielte einmal mit Strawinsky den "Sacre" am Klavier in einer Version zu vier Händen durch, doch blieb ihm die Komposition fremd. Später schrieb er dem Kollegen: "Für mich, der ich den anderen Hang des Hügels hinabsteige, bedeutet es eine Genugtuung zu sehen, wie weit Sie die Grenzen des Erlaubten im Bereich der Töne verschoben haben."

 

 

Ein letztes Mal Claude Debussy:

„Ich habe neulich Strawinsky gesehen. Er sagt: mein Feuervogel. Mein Sacre. Wie ein Kind, das mein Kreisel, mein Reifen sagt. Und genau das ist er, ein verzogenes Kind, das manchmal seine Finger in die Nase der Musik steckt. Er ist aber auch ein junger Barbar, der knallige Krawatten trägt, den Frauen die Hand küsst und sie dabei auf den Fuß tritt. Im Alter wird er unerträglich sein, das heißt: Er wird überhaupt keine Musik ertragen, aber im Augenblick ist er unerhört! Er rühmt sich meiner Freundschaft, weil ich ihm geholfen habe, eine Stufe der Leiter zu erklimmen, von deren Höhe er Granaten wirft, die nicht alle explodieren. Aber: er ist unerhört!“ (das war nach dem „Sacre“.)

 

 

Arnold Schönberg wählte ungalantere Worte: "Es gibt keine sackere Gasse als Sacre!" Bei anderer Gelegenheit sagte der Tonsetzer, Strawinskys Werk erinnere an die "wilden Negerpotentaten".

 

 

Ein Augen- und Ohrenzeuge aus der Uraufführung am 29. Mai 1913 :

„...Der junge Mann, der hinter mir in der Loge saß, stand  im Verlauf des Balletts auf, um besser zu sehen. Die starke Erregung, die ihn gefangen hielt, äußerte sich darin, dass er sogleich anfing, mit seinen Fäusten im Takt auf meinen Kopf zu schlagen. Ich selbst war so außer mir, dass ich die Schläge lange Zeit nicht spürte..." (Kann man das glauben? Anm.)

 

 

David Zinman über „Le sacre du printemps“:

„Für die Kompositionsgeschichte war das Werk sehr wichtig, so wurden etwa die Ostinatostrukturen später von den Minimalisten übernommen. Zudem ist es orchestrierungstechnisch ein Novum, das weit über das hinausgeht, was sich Strawinskys Vorbilder Rimski-Korsakow oder Skrjabin je hätten träumen lassen. Sehr bemerkenswert ist auch der Umgang mit russischer Volksmusik. Seine Vorlagen hat Strawinsky dahingehend bearbeitet, dass sie nicht mehr als Volksmusik erkennbar sind und als Bestandteil von etwas Neuem erscheinen. Dennoch tragen diese Vorlagen zum unmittelbar Russischen des Werkes entscheidend bei. So gesehen vermittelt Strawinsky zwischen zwei Welten, seiner eigenen modernen und der ursprünglich-russischen, die der „Sacre“ programmatisch beschwört und die das Pariser Publikum so faszinierte; der „Sacre“ ist somit eine Art“ Meta-Music“.

Heute ist er definitiv ein Klassiker, und er wird Musiker und Zuhörer weiter faszinieren, und zwar nicht zuletzt, weil es sich einfach um ein ausgezeichnetes Werk handelt, in dem keine schwache Note steht. Seit den 1960er-Jahren hat der „Sacre“ Eingang in das Repertoire vieler großer Orchester gefunden und stellt seit dann auch eine Art Visitenkarte für Dirigenten dar, auf der sich persönlich künstlerische Haltungen abbilden lassen. Man denke zum Beispiel an Leonard Bernsteins legendäre gewaltig-orgiastische Interpretation.“

 

 

Gefragt nach den persönlichen Erfahrungen mit dem Werk antwortet David Zinman:

„A kind of terror – ich fühle eine Art existentieller Angst, wenn ich den „Sacre“ dirigiere. Insbesondere der zweite Teil und der unmittelbare Schluss des Werkes fordern mit ihren Ostinati sowohl von den Musikern als auch vom Dirigenten alles, und wenn man zum letzten Teil kommt, erhöht sich der Puls aller an der Aufführung Beteiligten. Auch wenn man alles gewissenhaft memoriert und geübt hat, kann man sich nie sicher sein, ob nicht noch etwas schiefgeht. Ich glaube, dass Strawinsky absichtlich so komponiert hat. Der „Sacre“ thematisiert diese Art von Angst also nicht nur, sie ist ihm auch eingeschrieben.“

 

 

Pierre Lalo in „Le Temps“, 1913 über den „Sacre“:

„Der Kult der falschen Note ist niemals mit so viel Eifer und Hartnäckigkeit ausgeübt worden wie in dieser Partitur; vom ersten bis zum letzten Takt kommt niemals eine Note, die man erwartet, sondern die daneben.“

 

Markus Hötzel, Tubist beim NDR Elbphilharmonieorchester meint zu dem Stück: Auch an die Tuba stellt Strawinsky besondere Aufgaben. Sie hat oft sehr kurze Töne, wie eine blasende Pauke. Nur selten schreibt ihr der Komponist melodischen Passagen.“ Er hat Strawinskys "Sacre" schon mehrfach unter verschiedenen Dirigenten aufgeführt. Aus dem ehemaligen Skandalstück ist längst ein Orchesterhit geworden. Und zwar völlig zu Recht, meint Markus Hötzel. "Man hat es so wahnsinnig oft gespielt - aber die Musik erschöpft sich überhaupt nicht", sagt er. "Es ist so toll und genial komponiert, dass man der Musik nicht überdrüssig wird."

 

Maurice Perrin, der Strawinsky als Lehrer erlebte: Er sagte nicht etwa: “Nimm diesen oder jenen Akkord“, nein er spielte einen Akkord, lauschte, änderte eine Note, lauschte wieder, änderte eine andere Note, ging auf den früheren Akkord zurück, änderte wiederum eine bestimmte Note usw., immer mit angestrengtester Aufmerksamkeit hinhorchend; es war nie bloß eine intellektuelle Überlegung, die da entschied, sondern einzig das Vergnügen oder die Befriedigung des Ohres, die er durch die Versuche und die Fehler am Klavier erzielte. Akkorde gehörten für ihn nicht zu vorbestimmten Kategorien, auch hatten sie für ihn keine vorbelasteten Funktionen (...) Im Ganzen genommen sprach er äußerst wenig. Er war nicht gekommen, eine Serie von Lektionen zu erteilen (...) Aber alles, was er sagte, eröffnete uns neue Horizonte. (Erinnerung an einen Kompositionskurs, den Nadja Boulanger und Strawinsky im Winter 1935/36 an der École normale de musique in Paris abhielten. Aus M. Perrin, Lehrer Strawinsky, in: Strawinsky, Wirklichkeit und Wirkung, Musik der Zeit, Bonn, 1958, S.87)

 

 

Strawinsky in „Musikalische Poetik“, 1942:

„Ein Komponist präludiert, wie ein Tier wühlt. Was treibt ihn dazu? Es ist nichts als die Suche nach seinem Wohlbehagen. Ursprung jeder schöpferischen Tätigkeit ist der Appetit, der den Vorgeschmack des Entdeckens bildet. Dieser Vorgeschmack begleitet die Eingebung des Unbekannten, das man in sich hat, aber noch nicht greifen kann, und das erst klare Gestalt annimmt durch eine wachsame Technik. Danach, und wirklich erst danach, entsteht erst jenes Gefühl, das der Inspiration zugrunde liegt...“

 

 

Pierre Boulez im Begleitheftchen zur CD:

„Es war das frische Blut der „Barbaren“, eine Art von elektrischem Schock, der ohne Vorbereitung bleichsüchtigen Organismen verabreicht wurde. [.. .1 Harmonische Beziehungen und melodische Bildungen sind [im Sacre] auf schlagkräftige, leicht zu behaltende Formeln gebracht, die eigentlich fast nur dazu dienen, eine rhythmische Erfindungskraft zu lancieren, wie sie die westliche Musik bis dahin nicht gekannt hatte. [...] Zweifellos enthielt auch schon die Musik Westeuropas die Keime zur Vorherrschaft des Rhythmus? Vor allem in ihren Anfängen. Aber bei der Suche nach Lösungen wurde in den Epochen der Polyphonie, der melodischen Homophonie und der entwickelnden Formen die Rolle des Rhythmus mehr und mehr auf die einer unumgänglichen Grundlage reduziert.
Bei Strawinsky aber kehrt sich dieses Verhältnis fast um: die überragende Bedeutung des Rhythmus schlägt sich nieder in der Reduktion von Polyphonie und Harmonik auf untergeordnete Funktionen. [...].
Strawinsky hat die Richtung des rhythmischen Impulses geändert. Bis dahin beruhte Musik wesentlich auf einem Grund-Metrum. Innerhalb dieses gleichförmigen Ablaufs wurden „Konflikte“ produziert: Überschneidungen, Überlagerungen und Verschiebungen rhythmischer Formeln, die meist untrennbar mit melodischen Einfällen und harmonischen Funktionen zusammenhingen.
So ergab sich eine Art Ordnung und Regelmäßigkeit, die durch momentan auftretende Fremdkörper gestört wurde. Bei Strawinsky hingegen, und besonders im Sacre, existiert zunächst nur ein fast körperlich wahrnehmbarer Grundpuls. [. . . Dieser Grundpuls, der einer vorgegebenen Zählzeit entspricht, wird nun vervielfältigt, teils regelmäßig, teils unregelmäßig. Dabei entstehen natürlich die erregendsten Wirkungen durch die unregelmäßige Folge, das Phänomen des Unvorhersehbaren innerhalb eines vorhersehbaren Zusammenhangs“.

 

 

Abschließend noch drei kleine Anekdoten, in denen sich Ernest Ansermet an Strawinsky erinnert. In späteren Jahren kam es dann zu einem Streit zwischen den beiden befreundeten Musikern (im Hintergrund zum Vergleich: Strawinsky: „Sinfonie in drei Sätzen“ steht darüber noch ein wenig mehr), unter anderem da sich Strawinsky nach Schönbergs Tod doch noch der Zwölftonmusik zuwandte, was Ansermet befremdete:

„In jeder neuen Wohnung nahm er zunächst große Veränderungen vor, ließ die Wände mit lebhaften Farben anstreichen und stellte altmodische Möbel auf, die er hatte aufarbeiten lassen. In Morges plünderte er buchstäblich ein Geschäft mit Puppen und altem Hausrat, das ihm empfohlen worden war, und als er mich später in Genf besuchte, lief er von einem Antiquitätengeschäft zum anderen. Er feilschte, handelte, bettelte und erhielt zum Schluss immer alles, was er haben wollte, und zu dem Preis, den er zahlen wollte. Nichts und niemand hat je seinen Wünschen und seinem eisernen Willen widerstehen können (...)

Er arbeitete viel am Klavier und suchte dort Orchesterklangfarben zusammen, die er übrigens auch – darin hatte er eine besonderes Talent – mit seiner Stimme imitieren konnte. Musik war für ihn etwas Konkretes, Fassbares, das er mit dem ganzen Körper erleben musste. So suchte er auch seine Rhythmen mit Trommeln und einem ganzen Schlaginstrumentarium zusammen, das er nach und nach erworben hatte (...)

Auf unseren gemeinsamen Reisen, bei denen wir oft in einem Hotelzimmer zusammenwohnten, und während meiner Besuche bei ihm in Morges, Nizza und anderswo machten wir es uns zur Gewohnheit, unsere Morgengymnastik ebenfalls gemeinsam zu betreiben. Als er sich eines Morgens nach unseren Übungen zurückgezogen hatte, um Toilette zu machen, entdeckte ich, dass er in einem anderen Raum seine Übungen wieder aufnahm, nur um mir gegenüber im Vorteil zu sein. Manchmal beendeten wir unsere Gymnastik mit einem Ringkampf, bei dem ich, da er muskulöser und beweglicher war als ich, nur auf mein Gewicht zählen konnte. Es war wie ein Kampf zwischen einem Füllen und einem jungen Stier.“

(Eine Erinnerung an die Schweizer Jahre, E. Ansermet und J.-C. Piguet, Gespräche über Musik, München, 1973, S.38f)

 

 

 

Appendix:

Nur für unermüdliche Leser nun noch die komplette Handlung des Balletts (und passender musikalischer Hinweise), entnommen weitgehend Wikipedia, der freien Enzyklopädie. Wir haben die Handlung zusätzlich noch mit den entsprechenden Ziffern aus der Partitur versehen, weil wir im Vergleich häufig auf die Ziffern Bezug nehmen.

Das Ballett beschreibt ein Frühlingsopfer im heidnischen Russland. In diesem Ritual wird eine Jungfrau dem Frühlingsgott zur Versöhnung geopfert. Das Ballett teilt sich in zwei Teile. Im ersten Teil, der Anbetung der Erde, wird das rituelle Opfer vorbereitet: Verschiedene Stämme kommen zusammen. Das eigentliche Opfermotiv ist in diesem ersten Teil noch ausgespart, stattdessen werden die rivalisierenden (Kampf-)Spiele zwischen den Stämmen und Geschlechtern dargestellt und vertont. Erst im zweiten Teil, überschrieben mit Das Opfer, wird der Blick auf das Schicksal einer einzelnen, auserwählten Jungfrau fokussiert, die sich nach einem Verherrlichungs- und Ahnenritual zu Tode tanzt.

Strawinsky selbst meinte dazu:

„Im ‚Sacre du Printemps‘ wollte ich die leuchtende Auferstehung der Natur schildern, die zu neuem Leben erweckt wird […], die Auferstehung der ganzen Welt.“

Teil 1: Die Anbetung der Erde

Die Introduktion (Zf. 1 bis 12) zum ersten Teil überrascht durch ein hohes Fagottsolo, zu dem sich nach und nach die übrigen Holz- und Blechbläser gesellen. Anfangs ruhig, steigert sich das Klanggeschehen zu einem undurchschaubaren Vorhang von Klangfetzen, der plötzlich abreißt. Das anfängliche Fagottsolo schwebt, nun einen Halbton nach unten transponiert, in der Leere. Aus einem ruhigen Übergang bricht jäh das zweite Stück, die Vorboten des Frühlings – Tanz der jungen Mädchen (Zf. 13 bis 36), mit hämmernden Streichern und zerbrochener Rhythmik hervor. Heftige Einwürfe von Blechbläsern zerreißen immer wieder die Luft; überraschend kommt der Wirbel zum Erliegen, während Pauken und große Trommel sich krachend hervortun.

Nach diesem Einschnitt staut sich die Stimmung erneut auf und mündet in ein rasendes Durcheinander, das unmittelbar in die Entführungsspiele (Zf. 37 bis 47) übergeht. Wuchtige Schläge der großen Trommel und markante Paukenrhythmen dominieren diesen straffen Teil. An ihn schließt sich eine flatternde Überleitung an, bestehend aus Streichern und Tutti-Einwürfen des Orchesters. Sie kommt nach vier Schlägen zum Erliegen und macht Platz für eine ruhige Klarinettenmelodie, die durchgehend von Trillern in den Flöten untermalt wird. Diese Phase der Entspannung wird anschließend von den Frühlingsreigen (Zf. 48 bis 56) aufgegriffen. Sie verkehren die vorangehende Heiterkeit in schwere, düstere Rhythmik; diese wird – mehr symbolisch denn tatsächlich hörbar – von Mezzoforte-Schlägen der großen Trommel auf den Hauptzählzeiten untermalt. Das Thema, das nur aus einem dreifach wiederholten Akkord mit ansteigender Bassuntermalung besteht, wird von den Streichern zu den Blechbläsern und wieder zurückgegeben, ohne seine Dynamik zu verändern. Dann brechen ohne Vorwarnung die Pauken durch und peitschen das Thema jäh zum Tutti-Fortissimo hoch, das die vorherige düstere Grundstimmung zur Rage verwandelt. Schrill verbeißen sich die Blechbläser in das Thema, während die Pauken immer wieder mit ihren vier heftigen Crescendo-Schlägen das Orchester vorantreiben.

Gerade als sich das Thema zu erschöpfen beginnt, schließt sich die bereits vorher gehörte Überleitung etwas variiert an und bricht auch hier wieder in die Klarinettenmelodie zusammen. Anders als zu Beginn der Frühlingsreigen jedoch könnte der Kontrast durch die folgenden Spiele der rivalisierenden Stämme (Zf. 57 bis 66), die plötzlich einsetzen, nicht krasser sein: Auftakt und hervorstechendes Merkmal dieses Stückes sind die Pauken, die mit unbarmherziger Härte und quasi solistisch eine Tonfolge hämmern. Das parallel entwickelte Thema des Orchesters mündet nach kurzer Verarbeitung und einem vorläufigen Höhepunkt in spannungsgeladene, langgezogene Töne der tiefen Blechbläser. Gleichzeitig setzt die große Trommel mit wuchtigen Akzenten und eigensinnigem Rhythmus ein: Unbeirrbar setzt sie einen Dreivierteltakt gegen den übrigen Viervierteltakt. Dieses Beharren auf dem eigenen Metrum und das Hinzutreten des Tam-Tam in der bis zum Zerreißen gespannten Atmosphäre bereitet die Prozession des alten Weisen (Zf. 67 bis 71) vor, die mit schneidenden Schreien der Trompeten einsetzt. Im selben Moment, da dieses roh klingende Tutti hervorbricht, wechselt der Takt zu 6/4. Die dominierenden Blechbläserstimmen sind darin synkopisch verschoben, und das Schlagwerk stolpert in Duolen und Quartolen unter dem Metrum. Die Krönung bildet die Verwendung eines Guiro, einer Ratschgurke, als Orchesterinstrument. Es untermalt das wirbelnde Geschehen der Blechbläser mit gleichmäßiger, nervenzerfetzender Geräuschkulisse.

Nachdem die Prozession jäh abgebrochen ist, herrscht für einen Moment Ruhe – der Kuss der Erde oder der Weise (Zf. F 71)wird mit tiefen, ruhigen Liegetönen der Fagotte, Pizzicati im Solo-Kontrabass und verhaltenen Schlägen auf der Pauke untermalt, während sich der alte Weise auf die Knie herablässt und die Erde küsst. Gebannt und regungslos bleibt die Kulisse, bis dieses Ritual vollbracht ist. Dann leitet ein Wirbel der großen Trommel den Tanz der Erde (Zf. 72 bis 78) ein, der mit stetigen Pauken, scharfen Crescendi des Tam-Tam und einem „aufwärts stolpernden“ Orchester auf einen Höhepunkt zustrebt, diesen erreicht und jäh abreißt. Die drückende Stille verkündet das Ende des ersten Teils.

 

Teil 2: Das Opfer

Die Introduktion (Zf. 79 bis 90) zum zweiten Teil beginnt mit gequälten Orchesterpassagen. Ruhig, aber lamentierend wird ein Thema entwickelt, das eine Weile lang mit teils karger Orchestrierung im Verdeckten gehalten und im darauf folgenden Mystischen Reigen der jungen Mädchen (Zf. 91 bis 103) von den Violen im sechsfachen Divisi aufgegriffen und weitergesponnen wird, bis die Holzbläser eine zweite, zarte Melodie einzuwerfen wissen. Ohne sich gegenseitig zu durchdringen, werden beide Themen beibehalten. Plötzlich wagen gedämpfte Hörner einen Einwurf, der das erste Mal ohne Erfolg bleibt, beim zweiten Mal jedoch das Orchester in einem aufwärts gerichteten Crescendo kollabieren lässt.

Es folgen elf kraftvolle Schläge des Schlagwerks und der Streicher, die die Verherrlichung der Auserwählten (Zf. 104 bis 120) bis einleiten: Eines der vorher tanzenden jungen Mädchen wird plötzlich in die Mitte des Kreises gestellt und zum Opfer erwählt. Die Darstellung dieses Rituals findet kaum Zeit zur Entwicklung nennenswerter Themen. Klangfetzen und wiederholte Motive bauen die Kulisse dieses zerstörerisch anmutenden Teils auf, der nach der mehrminütigen Ruhe zum alten Stil des Sacre zurückführt. Zwischenzeitlich zieht er sich in ein unterdrücktes Pizzicato der Streicher zurück, während die Pauken mit einer markanten Repetition Platz finden. Dann jedoch kehrt er zurück zu seinem Anfang und vollzieht ein zweites Mal die gleiche Abfolge von Rhythmen und bruchstückhaften Motiven.

Plötzlich gerät dieses Ritual ins Stocken. Das Orchester zerschlägt in der Anrufung der Ahnen (Zf. 121 bis128) mit langgezogenen, dumpfen Bassstimmen, mit Wirbeln und Schlägen der großen Trommel und der Pauken die Stille. Das einzelne Thema dieses Abschnitts ist markant; es beschränkt sich auf rhythmisch charakteristische Sekundschritte. Nach einem letzten Aufbäumen sinkt die brutale Dynamik in sich zusammen und leitet die Rituelle Handlung der Ahnen (Zf. 129 bis 141) ein, die mit Tamburinschlägen und Aufwärtsskalen tiefer Holzbläser beginnt. Die verhaltene, unheimliche Stimmung wird durch ein einfaches Thema in gedämpften Trompeten unterstützt. Mit gesteigerter Dynamik wird es von der gesamten Blechbläsergruppe intoniert. Ein gedehnter Zwischenteil verzögert die Entwicklung kurz, bis schließlich das gesamte Orchester in einem kraftvollen, pulsierenden Stampfen das Hauptthema zum Höhepunkt treibt. Dann fällt es in die verhaltene Stimmung zusammen, die zu Beginn des Stückes herrschte.

Nach einer kurzen tiefen Überleitung der Klarinetten beginnt das eigentliche und finale Opfertanz (Zf. 142 bis 201): Die Auserwählte, die ihre eigene Anbetung und die Ahnenbeschwörung bis dahin noch regungslos als Mittelpunkt aller Handlung verfolgt hat, beginnt ihren Opfertanz. Zuerst zeigt dieser noch eine zerbrochene Rhythmik. Das Thema wird hauptsächlich durch scharfe Crescendi des Orchesters und rhythmisch markante Terzen in den Pauken aufgebaut. Nach einer ersten vollständigen Entwicklung dieses Themas fällt die Stimmung erneut zusammen. Die chaotisch rhythmische Struktur des Stückes bleibt erhalten, indem ein gleichbleibender Streicherakkord ohne erkennbare Ordnung mit Pausen aneinandergereiht wird. Ein schneidender Einwurf der Trompeten und Posaunen gipfelt in harten Paukenschlägen, die an jene in den Vorboten des Frühlings im ersten Teil erinnern.

Streicherakkorde und Einwürfe werden mit wechselnder Dynamik weiterentwickelt, bis das Orchester nach einem wirbelnden Höhepunkt urplötzlich zum Stillstand kommt. Es schließt sich erneut der Tanz der Auserwählten an, einen Halbton nach unten transponiert ähnlich der Introduktion des ersten Abschnitts. Obwohl der Beginn des Opfers bereits den Höhepunkt des Chaos darzustellen scheint, indem sich beispielsweise im Tanz der Auserwählten unmittelbar 2/8- mit 3/8- und 5/16-Takten abwechseln, wird bei der nun folgenden zweiten Hälfte des Opfertanzes klar, dass bis dahin mehr der Ritus als das Menschenopfer dominierte. Es folgt ein verheerendes Tutti, in dem das Schlagwerk mit erbarmungslosem Einsatz eine Kulisse von Vernichtung schafft. Themenfetzen des vorherigen Opfertanzes sind noch enthalten, doch sie haben nicht mehr die sachliche, rituelle Bedeutung wie noch zu Beginn, sondern charakterisieren in ihrer puren Ekstase nunmehr tatsächlich das Opfer, den gewollten und selbst herbeigeführten Tod des Mädchens. Scheinbar erschöpft bricht das Orchester nach kurzer Zeit etwas zusammen, staut sich erneut auf und wird von durchgehenden Schlägen des Schlagwerks in einem finalen Crescendo zu einem Höhepunkt getrieben. Eine einzelne Flötenstimme hält die Spannung der jähen Unbeweglichkeit noch für einen Moment und löst sich dann selbst auf. Ein mächtiger Tutti-Schlag des gesamten Orchesters stellt den barbarischen Schluss des gesamten Werkes dar: Das junge Mädchen bricht tot zusammen und wird von den Weisen gerade noch aufgefangen und somit davor bewahrt, dass es die Erde berührt. Sonst wäre der Ritus nach Strawinskys Vorstellung unwirksam.

"Als die Auserwählte erschöpft niedersinkt, ergreifen sie die Ahnen und heben sie zum Himmel empor. Der Zyklus der Kräfte, die wiedergeboren werden, um zu vergehen, um sich in der Natur aufzulösen, ist erfüllt und in diesen wesenhaften Rhythmen vollendet." (Igor Strawinsky in seinen Erinnerungen)

 

 

Zusammengestellt bis 5.6.2022

 

 

 

 

Igor Strawinsky, Foto unbekannten Datums. Nach dem Vergleich mit jüngeren und älteren Fotos könnte es ungefähr zur Zeit der Komposition des "Sacre" entstanden sein.

 

 

 

Zusammenfassung der Ergebnisse, die Rezensionen der Einspielungen finden Sie im Anschluss:

 

Historische Mono-Einspielungen:

 

5

Antal Dorati

Minneapolis Symphony Orchestra (heute: Minnesota Orchestra)

Mercury

1953

14:44  16:44 31:28

 

5

Igor Markevitch

Tschechische Philharmonie, Prag

Andante

1959, Live

15:33  16:13  31:46

5

Ferenc Fricsay

Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester (heute: WDR Sinfonieorchester, Köln)

Medici Arts

1953

15:35  16:59  32:34

 

 

4-5

Pierre Monteux

Boston Symphony Orchestra

WHRA

1957, Live

15:03  16:53  31:56

 

4-5

Igor Markevitch

Philharmonia Orchestra London

EMI, Classical Moments

1951

16:37  17:52  34:29

 

4-5

Pierre Monteux

Boston Symphony Orchestra

RCA

1951

14:56  16:13  31:09

 

4-5

William Steinberg

Pittsburgh Symphony Orchestra

EMI

1953

15:57  17:06  33:03

 

4-5

Ferenc Fricsay

RIAS Sinfonieorchester Berlin (heute Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, zwischenzeitlich RSO Berlin)

DG

1954

15:59  17:31  33:30

 

4-5

Leopold Stokowski

Philadelphia Orchestra

Promo Sound

1929-1930

15:01  17:26  32:27

 

 

3-4

Pierre Monteux

Orchestre National de la RTF, Paris (heute: Orchestre National de France)

W + A

1955, Live

15:38  17:55  33:33

 

SACDs:

 

5

Michael Tilson Thomas

Boston Symphony Orchestra

DG-Pentatone

1972

16:07  17:43  33:56

 

5

Ivan Fischer

Budapest Festival Orchestra

Channel Classics

2010

16:13  17:50  34:03

 

5

Mariss Jansons

Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam

RCO Live

2006

15:06  17:30  32:36

 

 

4-5

Esa-Pekka Salonen

Los Angeles Philharmonic Orchestra

DG

2006

15:38  17:17  32:55

 

4-5

Jonathan Nott

Bamberger Symphoniker

Tudor

2006

15:34  18:24  33:58

 

4-5

Sir Simon Rattle

Berliner Philharmoniker

Eigenvertrieb des Orchesters

2003

16:06  18:54  35:00

 

4-5

Andrés Orozco-Estrada

HR-Sinfonieorchester (auf der CD als Frankfurt Radio Symphony bezeichnet)

Pentatone

2015

16:27  17:53  34:20

 

4-5

Stefan Blunier

Beethoven Orchester Bonn

MDG

2014

15:51  18:10  34:01

 

 

4

Lorin Maazel

Cleveland Orchestra

Telarc

1980

15:53  17:43  33:36

 

4

Yuri Simonov

Royal Philharmonic Orchestra London

Membran

1996

15:56  17:30  33:26

 

4

Paavo Järvi

Cincinatti Symphony Orchestra

Telarc

2004

15:50  18:40  34:30

 

Einspielungen in Stereo von CDs, LPs oder Downloads gehört:

 

5*

Francois -Xavier Roth

Les Siècles (zu Deutsch: die Jahrhunderte oder auch die Epochen)

Harmonia Mundi

2013, Live

15:14  18:24  33:38

 

5*

Antal Dorati

Minneapolis Symphony Orchestra (heute: Minnesota Orchestra)

Mercury

1959

13:59  15:40  29:39

 

5*

Igor Markevitch

Philharmonia Orchestra London

EMI, Classical Moments

1959

15:39  16:11  31:50

 

5

Pierre Boulez

Cleveland Orchestra

CBS – Sony

1969

16.38  17.56  34.24

 

5

Michael Tilson Thomas

Boston Symphony Orchestra

DG

1972

16:07  17:43  33:56

 

5

Leonard Bernstein

New York Philharmonic Orchestra

CBS-Sony

1958

15:30  18:38  34:07

 

5

Riccardo Chailly

Cleveland Orchestra

Decca

1985

15:43  16:46  32:29

 

5

Sir Simon Rattle

Berliner Philharmoniker

EMI

2012, Live

15:30  18:14  33:44

 

5

Stanislav Skrowaczewski

Minnesota Orchestra

Vox

1977

15:08  17:32  32:40

 

5

Igor Strawinsky

Columbia Symphony Orchestra

CBS-Sony

1960

14:41  16:45  31:26

 

5

Mariss Jansons

Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München

BR Klassik

2009, Live

16:29  17:57  34:26

 

5

Otmar Suitner

Staatskapelle Dresden

Eterna

1964

16:43  18:32  35:15

 

5

Karel Ancerl

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon

1963

14:53  17:26  32:19

 

5

René Leibowitz

London Festival Orchestra

Chesky

1960

16:49  18:30  35:19

 

 

4-5

Benjamin Zander

Boston Philharmonic Orchestra

IMP

1990, Live

16:47  18:07  34:54

 

4-5

Jukka-Pekka Saraste

BBC Symphony Orchestra London

BBC Music

1998, Live

15:37  16:25  32:02

 

4-5

Philippe Jordan

Orchestre de l´Opéra National de Paris

Naive

2012

15:31  18:30  34:01

 

4-5

Bernard Haitink

Berliner Philharmoniker

Philips

1995

15:25  16:59  32:24

 

4-5

Riccardo Muti

Philadelphia Orchestra

EMI

1978

15:14  17:30  32:34

 

4-5

Riccardo Chailly

Lucerne Festival Orchestra

Decca

2017

15:57  17:39  33:38

 

4-5

Simon Rattle

City of Birmingham Symphony Orchestra

EMI

1987

15:41  18:44  34:25

 

4-5

Kent Nagano

London Philharmonic Orchestra

Virgin

1990

15:49  18:24  34:13

 

4-5

Colin Davis

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Philips

1976

16:20  18:23  34:43

 

4-5

Leonard Bernstein

Israel Philharmonic Orchestra

DG

1982

16:04  20:46  36:50

 

4-5

Claudio Abbado

London Symphony Orchestra

DG

1975

15:23  17:49  33:12

 

4-5

David Zinman

Tonhalle Orchester Zürich

RCA

2013, Rekonstruktion der Fassung von 1913

16:21  18:42  35:03

2013, Fassung von 1947 (1967)

16:04  18:36  34:40

 

4-5

Zubin Mehta

New York Philharmonic Orchestra

CBS–Sony

1977

16:22  17:53  34:15

 

Teldec

1990

16:15  17:48  34:03

 

4-5

Georg Solti

Chicago Symphony Orchestra

Decca

1974

14:41  17:17  31:58

 

4-5

Gustavo Dudamel

Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela

DG

2010

16:10  17:45  33:55

 

4-5

Mariss Jansons

Oslo Philharmonic Orchestra

EMI

1992

15:58  16:42  32:40

 

4-5

Robert Craft

London Symphony Orchestra

Naxos

1995

15:26  16:24  31:50

 

4-5

Robert Craft

Philharmonia Orchestra London

Naxos

2007

15:39  17:40  33:19

 

4-5

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DG

1977

14:53  18:16  33:09

 

4-5

Bernard Haitink

London Philharmonic Orchestra

Philips

1973

15:30  18:31  34:01

 

4-5

Yuri Temirkanov

Royal Philharmonic Orchestra, London

RCA

1988

16:18  18:56  35:16

 

4-5

Seiji Ozawa

Chicago Symphony Orchestra

RCA

1968

15:00  17:25  32:25

 

4-5

Lorin Maazel

Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München

BR Klassik

1998

16:26  17:43  34:09

 

4-5

Sylvain Cambreling

SWR Sinfonieorchester Baden Baden und Freiburg

Hänssler

2006

16:48  19:27  36:27

 

4-5

Gennadi Roshdestwensky

London Symphony Orchestra

Nimbus

1987

16:46  18:42  35:28

 

4-5

James Levine

MET Orchestra (Orchester des Metropolitain Opera House, New York)

DG

1992

16:05  17:17  33:22

 

4-5

Pierre Monteux

Orcheste des Concerts du Conservatoire de Paris (heute: Orchestre de Paris)

Decca

1956

16:06  17:37  33:43

 

4-5

Jonathan Darlington

Duisburger Philharmoniker

Acousence

2009, Live

16:06  19:14  35:20

 

4-5

Pierre Boulez

Orchestre National de l´RTF, Paris (heute : Orchestre National de France)

Concert Hall, Devega removo

1963

15:26  16:48  32:14

 

4-5

Esa-Pekka Salonen

Philharmonia Orchestra London

Sony

1989

14:36  17:06  31:42

 

 

4

Lorin Maazel

Wiener Philharmoniker

Decca

1975

16:13  18:25  34:38

 

4

Yannick Nézet-Seguin

Philadelphia Orchestra

DG

2013

15:26  17:29  32:55

 

4

Valéry Gergiev

Kirov Orchestra (heute: Orchester des Marijsky-Theaters, St. Petersburg)

Philips

1999

15:35  18:53  34:28

 

4

Eliahu Inbal

Philharmonia Orchestra London

Teldec

1989

16:32  18:13  34:45

 

4

Antal Dorati

Detroit Symphony Orchestra

Decca

1981

15:52  17:42  33:34

 

4

Riccardo Chailly

Radio Sinfonie Orchester Berlin (heute: Deutsches Sinfonieorchester Berlin)

SFB

1981

15:55  16:32  32:27

 

4

Ernest Ansermet

Orchestre de la Suisse Romande

Decca

1957

15:52  17:45  33:37

 

4

Eiji Oue

Minnesota Orchestra

Reference Recordings

1996

15:20  17:55  33:15

 

4

Krzystof Urbánski

NDR Elbphilharmonie Orchester, Hamburg

Alpha

2016

16:00  19:45  35:45

 

4

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DG

1963-64

15:31  19:01  34:01

 

4

Teodor Currentzis

MusicAeterna

Sony

2013

15:56  19:15  35:11

 

4

James de Preist

Oregon Symphony Orchestra

Delos

2000

15:19  16:44  32:03

 

4

Eduardo Mata

Dallas Symphony Orchestra

Dorian

1991

16:39  19:35  36:14

 

4

Rafael Frühbeck de Burgos

New Philharmonia Orchestra London

EMI

1966

15:52  18:28  34:20

 

4

Djansug Kachidze

Tiflis Symphony Orchestra

HDC

unbekannt

17:31  18:32  36:03

 

 

3-4

Sixten Ehrling

Schwedisches Radio-Sinfonie-Orchester Stockholm

BIS

1988

15:47  17:43  33:30

 

3-4

Daniel Barenboim

Chicago Symphony Orchestra

Teldec

2000

16:05  18:16  34:21

 

3-4

Charles Dutoit

Orchestre Symphonique de Montréal

Decca

1984

15:57  18:57  34:54

 

3-4

Leonard Bernstein

London Symphony Orchestra

CBS-Sony

1972

15:47  19:40  35:27

 

3-4

Simon Rattle

National Youth Orchestra of Great Britain

ASV-Brillant

1977

15:33  17:46  33:19

 

3-4

Dennis Russell Davies

Sinfonieorchester Basel

Eigenproduktion des Orchesters

2013

17:24  18:20  35:44

 

 

3-4

Sir Eugene Goossens

London Symphony Orchestra

Everest

1959

16:44  20:56  37:40

 

 

3

Vladimir Fedoseyev

Großes Rundfunk-Sinfonie-Orchester der UdSSR

Melodija-ZYX

1981

16:12  19:31  35:43

 

3

Daniel Barenboim

Orchestre de Paris

Erato

1986

16:02  18:20  34:22

 

3

Hans Peter Gmür (?)

Philharmonia Slavonica (?)

Intersound-Disky, ZYX, De Agostini, Masters Classic, VMS, Mona Lisa, Pilz, New Classical Dimension

Unbekannt, Live

16:36  17:53  34:29

 

3

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

Testament

1972, Live

15:31  18:08  33:39

 

3

Sir Georg Solti

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Decca

1991, Live

15:02  18:24  33:26

 

 

 

Vergleich der gehörten Einspielungen:

 

 

Historische Mono-Einspielungen

 

 

5

Antal Dorati

Minneapolis Symphony Orchestra (heute: Minnesota Orchestra)

Mercury

1953

14:44  16:44  31:28

Antal Dorati, auch er Dirigent der Ballets russes, allerdings nach der Zeit als Djaghilew ihr Impressario war, hat das Stück drei Mal eingespielt. 1953 zum ersten Mal, das Stereo-Remake erfolgte mit demselben Orchester 1959 und 1981 ein letztes Mal, nun für Decca. Man kann aus heutiger Sicht sagen, dass man sich 1953 bereits auf sehr hohem Niveau auf die fulminante 59er Einspielung vorbereitet hat. Obwohl noch in Mono aufgezeichnet, offenbart sich bereits zu Beginn eine sehr hohe Transparenz. Oboe, Englischhorn und (weniger) das Fagott klingen noch sehr ungeschliffen und hart, was für andere Werke vielleicht wenig förderlich wäre, zur Archaik des „Sacre“ scheint es sehr gut zu passen. Die Trompeten klingen extrem schneidig und knackig, das Blech bricht den in vielen späteren Einspielungen so einheitlichen Gesamtklang vortrefflich auf. Doratis Dirigat verleiht dem sonst nicht immer hochklassigen Orchester dieses Mal Flügel. Sein ungarisches Temperament lässt bei enorm zügigem Tempo die in diesem Stück elementar wichtigen Rhythmen mit einer enormen Schärfe und einem lodernden Temperament erklingen. Das Blech schleudert seine sf explosiv und wild herausfahrend heraus. Zu erleben ist ähnliches fast nur noch beim RIAS Sinfonieorchester. Davon später mehr. „Danse de la terre“, der abschließende Höhepunkt des ersten Teils, fesselt von der ersten bis zur letzten Sekunde. Die Musiker geben alles und schaffen den (nur noch von ihnen selbst im Jahr 1959 übertroffenen) fabelhaften Rekord von 59 Sekunden. Das ist musikalischer Starkstrom pur.

Die Introduktion zum 2. Teil verströmt allerdings wenig Klangzauber. Verblüffend ist jedoch, dass kaum eine Stimme verloren geht. Die Flageoletts klingen scharf und schmerzend, wo andere nur auf Schönklang aus sind. Das Schlagwerk (auch die sonst meist hinter der Gran Cassa zurückstehende Pauke) wird angehalten, erbarmungslos dreinzuschlagen. Das Tremolo der einzelnen Trompete (notiert quasi als „Zwölftolen“) kommt bei Dorati bereits 1953 hervorragend heraus. Muss man erwähnen, dass dieses Detail bei sehr vielen Einspielungen kaum oder gar nicht zu hören ist? Die Piccolo-Flöte darf schrill über die Strenge schlagen. Das gnadenlose Blech und die gleichgesinnten Schlagwerker/innen legen ein gefahrverheißendes Temperament an den Tag und werden gemeinsam mit dem restlichen Orchester zu einer gefährlichen, ja letztlich tödlichen Mischung. Die Trompeten sind zum Niederknien, aber wo bleibt das Tam-Tam? Für dieses Instrument war im Klangbild der zum 40sten Jahrestag der Uraufführung entstandenen Einspielung kein Platz mehr. Wir habe es jedenfalls nicht gehört. Doratis Interpretation wurde dem ungeschlachten, musikgeschichtlich revolutionären und urwüchsigen Charakter des Werkes bereits 1953 ganz besonders gerecht.

Zum Klang: Beim Spiel ohne Netz und doppeltem Boden sind kaum Schnitte zu bemerken (wenn überhaupt). Sie rauscht vernehmlich. Das Klangbild ist für sein Alter sehr brillant. Die Soli sind immer etwas dominant. Die Violinen klingen schneidend. Die Präsenz ist bereits enorm. Der Gesamtklang überragt dynamisch alle zeitgenössischen Konkurrenten, wirkt unmittelbar und packend.

▼Zwei weitere Einspielungen Doratis folgen im weiteren Verlauf der Tabelle.

 

5

Igor Markevitch

Tschechische Philharmonie, Prag

Andante

1959, Live

15:33  16:13  31:46

Igor Markevitch, heute würde man sagen: gebürtiger Ukrainer aus Kiev, war der letzte Protégé Djaghilews, als solcher vornehmlich als Komponist für die Ballets russes tätig und in erster Ehe mit Nijinskys Tochter verheiratet. Den „Sacre“ studierte er (man kann es kaum glauben) noch als halbes Kind in Paris mit Nadja Boulanger ein. Später meinte er, als Kind wäre ihm das noch besonders leicht gefallen… Wunderkind müsste man sein. Von ihm sind unseres Wissens sechs Einspielungen überliefert. Vier konnten wir vergleichen, ein Live-Mitschnitt aus Edinburgh mit dem LSO auf BBC Live von 1962 und die sechste und letzte von 1982 mit dem Orchestre de la Suisse Romande lag uns leider nicht vor. Zwei entstanden jeweils mit dem Philharmonia Orchestra London (1951 und das Stereo-Remake 1959) für EMI. Eine weitere entstand 1952 für den RIAS in Berlin. Klanglich ist der Live-Mitschnitt vom Prager Frühling für die vorstehende Dorati-Einspielung keine echte Konkurrenz. Allen Monos und einer Vielzahl von frühen analogen Stereo-Aufnahmen ist eigen, dass die beiden Introduktionen bereits sehr laut klingen. Die geheimnisvolle Wirkung löst sich dadurch zumeist in Nichts auf. Markevitchs Gestus wirkt ungemein vorantreibend. Das Prager Elite-Orchester zieht prächtig mit, obwohl es an seine Leistungsgrenze geführt wird, gibt es sich keine Blöße. Es meistert die in den bis zu den 70iger oder sogar 80iger Jahren noch für die Orchestermusiker hohen Klippen mit Leidenschaft und Gottvertrauen. Man gewinnt den Eindruck, Markevitch hätte gegenüber seinen Dirigaten von 51 und 52 während der Jahre noch an Souveränität gewonnen. Er kann sich ein höheres Tempo erlauben und mehr Risiken eingehen. Es sitzt rhythmisch dennoch alles perfekt, gerade für einen Live-Mitschnitt. Klanglich geht es ebenfalls noch wenig kultiviert zu, archaisch-urtümlich eben. Es geht auch einmal ein (vor Zf. 59) Hornakkord daneben. Was soll es angesichts der gebotenen Hochspannung? Im „Danse de la terre“ geht Markevitch höchstes Risiko und entfesselt rücksichtslos Urgewalten. Hier beweiset das tschechische Orchester höchste Virtuosität und bewährt sich auf grandiose Weise. Allerdings fiebert man schon ein wenig mit ihm mit. Ganz wichtig ist dabei auch, dass die in dem Stück so wichtigen Hörner nicht – wie in der Berliner Einspielung Fricsays – versteckt werden. Der abschließende „Danse sacrale“, im heftigsten ff und fff leider mulmig, gelingt „unheimlich“ und mitreißend. Temporeich, ausdrucksvoll, verzweifelt, ausweglos, unbarmherzig angetrieben und wild zupackend. Dabei klingt der Rhythmus ausgesprochen geschmeidig aber nie verschliffen. Eine wilde Hatz, eine Spezialität Markevitchs, wie die anderen Aufnahmen noch zeigen werden.

Klanglich hört sich die Aufnahme von den drei Markevitch-Monos am ältesten an, will heißen noch etwas diffuser als die 51 aus London und die Berliner Aufnahme von 52. Auch weniger transparent und weniger brillant und doch etwas dumpf. Das Publikum erscheint disziplinierter, als verkneife es sich die obligatorischen Geräuschdarbietungen besser als jenes in Berlin.

▼Drei weitere Einspielungen Markevitchs folgen im weiteren Verlauf der Tabelle.

 

5

Ferenc Fricsay

Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester (heute: WDR Sinfonieorchester, Köln)

Medici Arts

1953

15:35  16:59  32:34

Neben diesem Mitschnitt aus Köln zum 40jährigen Jahrestag der Uraufführung (ist es wirklich einer? das Publikum wäre vorbildlich leise, es gibt nur ein paar Huster, die auch vom Orchester kommen könnten) gibt es von Fricsay nur noch eine weitere Einspielung (unter Studio-Bedingungen) aus Berlin, produziert von der DG. Insgesamt ist die Kölner Version unserer Meinung nach zu bevorzugen. Nach Bartok und Kodaly stand Strawinsky ganz oben auf Fricsays Liste der Moderne. Entsprechend leidenschaftlich nähert er sich dem Sujet.

Die Bläser überzeugen mit ausgezeichnetem Spiel, rhythmisch besonders genau. Fast scheint ihnen die besonders rhythmisch und im Zusammenspiel so schwierige Musik so leicht zu fallen, wie den Kollegen beim RIAS ein Jahr später. Im „Danse de la terre“ bringt das Blech allerdings nicht ganz die schneidige Attacke der legendären Berliner Kollegen. Die Kölner profitieren jedoch von den viel präsenteren Hörnern.

Die Introduktion zum zweiten Teil (erneut verhältnismäßig laut) wird noch etwas zügiger gespielt als in Berlin, wirkt weder richtig nächtlich noch brütend, wie es bei anderen klingt. Was andere tempomäßig ineinanderfließen lassen, wird bei Fricsay hart und differenziert nebeneinandergestellt. Ab und an hören wir sogar einmal ein kleines Rubato, was dann gestisch besonders gelungen erscheint (Evocation). Auch bei Fricsay sind die „Zwölftolen“ der einzelnen Trompete bestens hörbar. Bei so vielen (auch bei bester Klangtechnik) gehen sie unter (Zf. 134). Im „Danse sacrale“ gibt es einige Unsicherheiten im Zusammenspiel, die aber wieder souverän aufgefangen werden. Der Rhythmus wird stupend durchgehalten und erzeugt große Spannung. Dass man merkt, wie das Orchester kämpfen muss, bewahrt die Einspielung vor jedem Anflug der Glätte und lässt die Abenteuerlust bei der Hörerschaft nur wachsen. Entscheidend für die bessere Einordnung vor der Berliner Einspielung ist insbesondere die viel bessere Hörbarkeit der Horngruppe. Insgesamt spielt das Orchester ein wenig weniger präzise als das RIAS, aber es war ja auch Live. Die Live-Atmosphäre befördert jedoch den gehörigen Biss.

Die Klangqualität steht der Berliner von 1954 nicht nach. Im Gegenteil, sie wirkt noch etwas differenzierter, offener, ein wenig klarer und sogar voller. Insgesamt hört man mehr von der Komposition. Das Schlagwerk spielt leider eine ziemlich stiefmütterliche Rolle. In der Dynamik gibt es kaum nennenswerte Unterschiede.

▼Eine weitere Einspielung Fricsays folgt im weiteren Verlauf der Tabelle.

 

 

 

4-5

Pierre Monteux

Boston Symphony Orchestra

WHRA

1957, Live

15:03  16:53  31:56

Von Pierre Monteux, dem Dirigenten der Uraufführung existieren mindestens sechs Aufzeichnungen. Vier davon sind während des Vergleiches gehört worden. Die beiden ältesten (1929, die älteste überhaupt mit dem Grand Orchestre Symphonique in Paris entstanden und die aus 1945 mit dem San Francisco SO) konnten leider nicht mit dabei sein. Bei dieser Übertragung aus Boston konnte der Dirigent bereits auf 84 Lebensjahre zurückblicken. Das Bostoner Orchester begegnet uns auch in der Studio-Einspielung von 1951. Live überzeugt es uns jedoch mehr.

Ganz untypisch für die hier versammelten Mono-Aufnahmen bleibt die Introduktion, wie auch das ganze folgende Werk ganz leise und man muss den Lautstärke-Regler bemühen, um die Musik überhaupt erleben zu können. Dann hören wir ein Englischhorn, dass man sich klanglich kaum dürrer vorstellen kann. Der schalmaienhafte Klang (ganz anders als noch 1951) mag den heutigen Hörer vielleicht überraschen, er passt aber gut ins archaische Ambiente des „Sacre“. Völlig überraschend zum Restorchester spielen die Gran Cassa und die Trompeten hier ganz groß auf. Beide dürfen diese Mal als die Prunkstücke der Aufführung gelten. Beider Strahlkraft erscheint frappierend. Insgesamt spielt aber das ganze Orchester viel sicherer und sauberer als 51! Um rundum zu begeistern fehlt dem „Danse de la terre“ jedoch die echte Dynamik.

Gegenüber der Live-Performance Monteuxs mit dem Orchestre National de l´ORTF von 1955 spielen die Bostoner erheblich schlanker und eloquenter. Einzig die Flageoletts der Solovioline im 2. Teil gelingen nicht und die Temporücknahme bei Zf. 125 überrascht, da nicht partiturkonform.  

Gegenüber dem Rauschen wirkt die Musik recht leise. Starke Huster weisen auf das präsente Publikum hin. Der Bassbereich ist nicht vorhanden, wenn man von der groß abgebildeten und enorm dynamischen Gran Cassa einmal absieht. Sie übertrifft ihr Pendent 1951 erheblich. Das Klangbild wirkt insgesamt etwas belegt, die Klangfarben wirken natürlich. Insgesamt gefällt auch die Dynamik besser als im Studio, denn dort vermisst man ein echtes pp oder p fast gänzlich.

▼Drei weitere Einspielungen Monteuxs folgen im weiteren Verlauf der Tabelle.

 

4-5

Igor Markevitch

Philharmonia Orchestra London

EMI, Classical Moments

1951

16:37  17:52  34:29

Download   Ähnlich, aber nicht ganz so ausgeprägt wie bei Dorati, erscheint die 1951er Einspielung bei Markevitch wie eine Vorübung für das Stereo-Remake von 1959, besonders die Technik „durchlebte“ hier den Reifeprozess. Dem Fagott gehört in der Einleitung die Bühne, cantabel und mit sinnfälliger Artikulation. Das PO spielt mit mitreißendem Schwung, die Staccati sind kurz, knapp und wirken gepfeffert. Die Philharmonia-Oboe dominiert den Holbläsersatz im Verlauf vielleicht ein wenig zu sehr. Ihr spezifischer Klang muss in diesem Stück noch nicht einmal getadelt werden. Hier passt sie und hilft den rauen Charakter des Werkes auch klanglich zu transportieren. Mit dieser euphorisch und mit viel Spannung gespielten Einspielung hat Markevitch wahrscheinlich seinen Ruf gefestigt, der „Sacre“-Dirigent seiner Zeit zu sein. Die Akzente, insbesondere im Blech erscheinen besonders angeschärft. Während das Tam-Tam im „Danse de la terre“ sehr präsent in Szene gesetzt wird, vermisst man die Gran Cassa fast völlig. Auch das hat sich 1959 geändert.

In Introduktion zum 2. Teil wirkt unheilvoll, heraufbeschworen durch eine auch hier scharfe Tongebung, wo viele nur säuseln. Flöten und die Es-Klarinette werden dazu und im weiteren Verlauf ins rechte, schrille Licht gesetzt. Die Spannung wird durchgehend hochgehalten. Bei Zf. 134 ertönt bereits saftiges Blech, auch die Hörner kommen prächtig, die „Zwölftolen“ werden sehr gut hörbar. Der abschließende „Danse sacrale“ erklingt mit angezogenem Tempo das ist (unter anderen) ein ganz wichtiger Faktor für den Erfolg, aber wer kann die komplexen Rhythmen dann auch noch so schnell umsetzen? Außer den bereits genannten? Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Und die Ausführung muss zugleich auch noch äußerst exakt sein. Markevitch hat das alles drauf. Sein Orchester klingt vielstimmig, strahlend und zu allem entschlossen. Das Ganze wirkt vielleicht nicht ganz so spannend wie der Mitschnitt aus Prag, der aber klanglich übertroffen wird.

Markevitchs erste Einspielung rauscht weniger als die erste Doratis, bleibt dabei etwas dumpfer. Die Deutlichkeit ist angesichts des Alters der Aufnahme frappierend. Auch der Bassbereich wirkt profunder als in Prag oder bei Monteux anno 1959. Die Dynamik ist gut, aber da haben sich neuere Aufnahmen doch deutlich abgesetzt. Fricsays Kölner klingt insgesamt noch etwas besser.

▼Zwei weitere Einspielungen Markevitchs folgen im weiteren Verlauf der Tabelle.

 

4-5

Pierre Monteux

Boston Symphony Orchestra

RCA

1951

14:56  16:13  31:09

In der Introduktion werden die präsenten Stimmen hart durchgezeichnet, das hört sich nicht mehr nach Impressionismus mehr an. Ein Vorwurf, den man verschiedentlich von Monteuxs erster Einspielung hören konnte. Monteux kommt ja auch viel eher vom Impressionismus her. Die Präzision lässt bisweilen für eine Aufnahme unter Studiobedingungen zu wünschen übrig. Auch die Hörner sind nicht immer intonationssicher (z.B. 4 T. vor Zf. 59). Voll überzeugen dagegen die Trompeten mit ungeheuerer Strahlkraft (wie in der 59er Live-Aufnahme), aber auch die Posaunen und Tuben stehen ihnen kaum nach. Der „Danse de la terre“ wirkt mächtig aber auch noch recht undifferenziert.

Zur Zeit der Veröffentlichung muss die plastische Offenlegung der kompositorischen Struktur in der zweiten Introduktion ziemlich sensationell gewirkt haben. Also auch hier alles andere als ein in Watte gepackter impressionistischer Zugang. Vielleicht hatte Monteux diesen noch bei der Uraufführung, denn er wurde ja mit der Musik Debussys „groß“. Im „Ritual“ sind die Tambourine so präsent, wie in keiner anderen Einspielung. Die Streicher warten bereits mit einem tollen, weichen Klang auf. Auch das dürfte 51 ziemlich sensationell gewesen sein. Das Schlagwerk könnte verschiedentlich zurückhaltender agieren. (z.B. ab Zf. 139 das p der Gran Cassa). Dem „Danse sacrale“ fehlt ein wenig der dynamische Kontrast, die leisen Stellen werden einfach zu laut wiedergegeben. Im f und ff wird dagegen mit den Kräften nicht gehaushaltet. Teilweise klingt es wie ein großes Durcheinander, wie so oft bekamen die Techniker die leere Symphony Hall mit ihrem langen Nachhall nicht richtig in den Griff. Über das klangliche Chaos legen sich dann die Trompeten und weisen (wie Nebelhörner auf hoher See) den rechten Weg. Abenteuerlich. Insgesamt, nicht dass nun ein falscher Eindruck entsteht, gelingt die Aufnahme recht plastisch, der Gestus tänzerisch. Man muss es bedauern, dass von „Sacre“ keine Living-Stereo-Einspielung existiert. Monteux wäre der rechte Mann am Pult gewesen. Anscheinend hätte das Werk damals in den USA noch nicht genug Umsatz für ein Remake in Stereo abgeworfen.

Auch diese Aufnahme rauscht ziemlich stark. Der Bassbereich klingt mulmig, sonst ist sie recht transparent gelungen. Im ff wird daraus jedoch ein großes Raunen. Insgesamt klingt es schon recht voll aber nicht sonderlich dynamisch. Das Blech wurde sehr brillant eingefangen, wenn man von den Hörnern einmal absieht. Sie kommen aber immer noch besser weg als die Kollegen des RIAS in der DG-Aufnahme mit Fricsay.

▼Nun folgen noch zwei weitere Monteux-Einspielungen.

 

4-5

William Steinberg

Pittsburgh Symphony Orchestra

EMI

1953

15:57  17:06  33:03

Das Orchester spielt bei Steinberg, erneut anlässlich des 40. Geburtstages des Werkes für die Nachwelt festgehalten, bemerkenswert präzise und griffig. Darin ist es allen Monteux-Orchestern überlegen. Das Holz ist gut positioniert, nicht zu nah, nicht zu weit weg. Die Trompeten kommen an die Strahlkraft der Kollegen des BSO allerdings nicht heran. Die „Abstriche“ bei Zf. 49 klingen vielmehr nach „Aufstrichen“. Das Spiel wirkt insgesamt beherzt. Das Guero (deutsch: Ratschgurke) in Zf. 90 ist bei Steinberg nicht zu hören. Schade, hat sie Strawinsky doch nur an dieser einen Stelle zum Einsatz gebracht. Der „Danse de la terre“ wirkt weniger virtuos und energisch als in den beiden Monteux-Aufnahmen aus Boston.

In der zweiten Introduktion flackern die Flageoletts der Violine(n) überhaupt nicht, was in den alten Aufnahmen (und auch später) bei weitem nicht immer so zu hören ist. Die dynamische Differenzierung überzeugt. Das Vivo ab Zf. 104 erfolgt mit mächtigem Impetus. Bei Zf. 134 wird das Trompetensolo ganz besonders herauskristallisiert. Dafür sind die Hörner (fff) bei Zf. 138 wie so oft viel zu schwach. Beim „Danse sacrale“ hingegen trumpfen sie dagegen plötzlich sehr gut auf (wurde das Mikrophon ein wenig verrückt?), sind nun bestens in den aufregenden Stimmenverlauf integriert. Er erfreut mit einer exakten Rhythmisierung, straffen Marcati und guter Akzentuierung. Diese Darstellung steht im finalen Tanz keineswegs hinter Monteux 51 oder Markevitch 52 zurück.

Nur leichtes Rauschen. Insgesamt guter Mono-Klang, recht dynamisch, mäßig transparent. Holz im ersten Teil präsenter als im zweiten, Blech dahinter. Hörner nur mit indirektem Schall, auch wenn Strawinsky fordert den Trichter nach vorne zu heben, um den Schall direkter zu machen, hört man (außer im „Danse sacrale“) keine Besserung.

 

4-5

Igor Markevitch

RIAS Sinfonieorchester Berlin (heute: Deutsches Symphonie-Orchester, zwischenzeitlich RSO Berlin)

Audite

1952, Live

16:08  17:05  33:13

Auch bei einem der ersten seiner wenigen Konzerte beim RIAS brachte Markevitch den „Sacre“ zu Gehör. Dass das Fagott in der hohen Lage nicht immer lupenrein intoniert war, ist von Strawinsky wahrscheinlich schon mit einkomponiert worden, denn damals (zumal mit Fagotten französischer Bauart und noch ohne die erst nach dem „Sacre“ eingebauten Oktavklappe) dürfte eine lupenreine Intonation kaum zu schaffen gewesen sein. Auch der Berliner Fagottist hatte seine liebe Not. Oboe und Englischhorn klingen noch sehr hart, hell und knorrig. Wen sollte das beim „Sacre“ stören? Das Blech des Fricsay-Orchesters spielt seine legendäre Wucht und schneidige Strahlkraft auch mit Markevitch voll aus. Gern erinnern wir uns auch an das Erlebnis bei der „Alpensinfonie“ mit Böhm zurück, da sich damals vor allem die Solo-Trompete mit ungerührter Strahlkraft nachhaltig ins Gedächtnis brannte. Auch Boston oder Minneapolis brauchte das damals so junge (seit 1948 mit Fricsay) Nachkriegsorchester bzgl. seiner Blechbläser zu fürchten. Kleinere Präzisionsprobleme gibt es wohl schon noch. Kein Wunder, lässt Markevitch den „Danse de la terre“ noch rasanter und rasender spielen als 1951 in London und das auch noch Live. Ohne wenn und aber folgt man der Partitur (Prestissimo) und gibt Vollgas ohne Rücksicht auf etwaige Verluste.

Auch in Berlin dreht man den Aufnahmepegel bei den leisen Passagen etwas hoch, für ein pp oder p ist es dann bereits viel zu laut. Daher muss man dann die lauten Stellen wieder runterregeln, um ein Übersteuern zu vermeiden. Audite hat aber das beste aus der Aufnahme herausgeholt. Auch in der Live Situation in Berlin mit einem Orchester, das das Stück wahrscheinlich noch nie gespielt hat, beherrscht Markevitch das Werk in Vollkommenheit. Dies war ja auch in Prag offensichtlich. Aber auch hier gibt es seltsames: Die drei Töne der Pauke 1 Takt nach Zf. 121 werden für unsere Ohren zu einem einzigen. Das ist kein Versehen, sondern wiederholt sich noch vier Mal. Auch andere verkürzen die Triolen viel mehr als es notiert ist. Der alles entscheidende „Danse sacrale“ gelingt noch etwas aufregender und spannender als in der Londoner Studio-Einspielung von 1951, aber auch nicht so perfekt in der Ausführung als dort oder bei Fricsay in Köln.

Dank des tollen Remasterings rauscht es kaum. Das Publikum beteiligt sich ziemlich rege, anscheinend war mal wieder Erkältungszeit in Berlin. Während die Pauke prägnanter und dynamischer kommt als in London ist das ff im Tutti deutlich diffuser. Ansonsten wirkt die Aufnahme differenziert und sie ist prima anzuhören, was man von der Bostoner Monteux-Aufnahme von 1959 nicht ohne weiteres schreiben kann. Den Umständen entsprechend klingt es sogar recht natürlich.

▼Eine weitere Markevitch-Einspielung bei den Stereo-Versionen

 

4-5

Ferenc Fricsay

RIAS Sinfonieorchester Berlin (heute Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, zwischenzeitlich RSO Berlin)

DG

1954

15:59  17:31  33:30

Zu einer Zeit, als man den Eintritt ins Konzert fast noch mit Holzscheiten (oder einem Holzscheit) oder Kartoffeln bezahlen konnte und Strawinsky in Deutschland noch weitestgehend ein unbekannter war (er dirgierte einmal die Philharmoniker bereits in den 30er Jahren, eine Aufnahme mit „Jeu de cartes“ existiert(e) bei Telefunken) brachte auch Fricsay den „Sacre“ zu Gehör. Und das fast fehlerlos. Seine Tempi wirken meist etwas gemächlicher als die Markevitchs. Er hatte keine Nadja Boulanger zur Hand mit der er ihn hätte als kindlicher Kompositionsstudent einstudieren können. Aber auch er legt bei „Jeu du rapt“ ein gutes Presto hin. Die Tücken des Objekts werden bereits sehr gut und unaufgeregt gemeistert. Die Bläser agieren erneut mit der ihnen eigenen schneidigen Präsenz und Brillanz. Zweifellos das Prunkstück des jungen Orchesters. Leider sind die Hörner von der Technik sträflich vernachlässigt worden. Das trifft leider auch den fulminanten Abschluss des ersten Teils, den „Danse de la terre“. Die Trompeten spielen mit allerbester Attackierfähigkeit und schneidigem Biss, auch die Posaunen, die aber auch weniger gut zur Geltung kommen. Das ist sehr schade, ist das Spiel doch bereits sehr geläufig, gar feurig, wenngleich Markevitch nicht ganz erreicht wird.

Die zweite Introduktion leidet erneut unter dem zu lauten ppp, die Präsenz ist dadurch aber sehr hoch. Die Flageoletts der Violinen klingen sehr gut. Das Holz erfreut bereits mit klanglich feinen und farbigen Soli. Das Orchester hatte schon damals zu einer sehr guten Innenbalance gefunden. Die Streicher werden vielleicht etwas über Gebühr von den ersten Violinen dominiert, was aber auch aufnahmetechnisch begründet sein kann. Das Ganze klingt über weite Strecken transparenter als in vielen erheblich neueren Stereo-Aufnahmen. Das Schlagzeug agiert mit aller Härte, leider mit wenig klanglichem Effekt. Die „Zwölftolen“ kommen mit erheblichem Nachdruck. Das ist superb, wenn man bedenkt, wie oft sie untergehen. Sie verstärken den Impetus an dieser Stelle ungemein, erhöhen die Nervosität der bemitleidenswerten, tanzenden jungen Frau.

Der Klang ist bereits erstaunlich transparent und präsent aber dynamisch eingeschränkt. Eine Staffelung ist Fehlanzeige, die Gran Cassa bleibt blass, das rechte Volumen fehlt. Die gebotene Brillanz erfreut, von dumpfen Höhen keine Spur. Insgesamt wird die Aufnahme der Kraft und der Archaik der Werkes noch nicht ganz gerecht, es fehlen dazu die entsprechenden technischen Ressourcen der DG. Ein Remake in Stereo hätte auf der Wunsch-Agenda der Fans weltweit sicher ganz weit oben gestanden, aber das Schicksal wollte es anders.

 

4-5

Leopold Stokowski

Philadelphia Orchestra

Promo Sound

1929-1930

15:01  17:26  32:27

Bereits 1929 begonnen und 1930 beendet konnte man bei dieser Einspielung auf eine Aufnahmetechnik mit Mikrophonen zurückgreifen, vorbei also die Aufnahme vor einem einzelnen Schalltrichter. Gerade erst. Auch auf die Wachsmatritze war man nicht mehr angewiesen. Stokowski war in den USA zu einem Motor zur Etablierung zeitgenössischer Musik geworden. Er bemühte sich auch um die Werke Strawinskys obwohl dieser damals noch lange kein Amerikaner geworden war. Viele Erstaufführungen (auch Uraufführungen) für Amerika gehen auf ihn zurück, z.B. Mahler 8 oder Schönbergs Gurre-Lieder. Stokowski leitet das damals beste Orchester der Staaten auch sehr gewissenhaft und genau. Allerdings findet man bereits damals die gewissen romantischen Zutaten, die sich Strawinsky später verbeten hat. Damit meinte er insbesondere das starke Rubato und den zu vollen, sozusagen fleischigen Klang. Er mochte es lieber schlank und, wenn man seine Einspielungen eines Werkes anhört, die im übrigens auch durchaus nicht immer gleiche, sondern durchaus heterogene Ergebnisse zeitigten, eher trocken bis hager, gar dürr. Wie bei vielem kann man da durchaus geteilter Meinung sein. Stokowski hatte damals schon viel „Sound“ in der Tongebung. Sein Fagott zu Beginn durfte als eines der ganz wenigen mit Vibrato spielen. Er wollte schon damals die Musik nicht auf ihr kompositorisches Gerippe reduzieren. Rund, verbindlich und sozusagen mit viel Fleisch, aber keinem Fett auf den Rippen. Dieser Stil wurde perfektioniert, gilt aber vielen heute als obsolet, weil er auch teils nicht unerheblich in die Werksubstanz eingriff. Denken wir nur an Schostakowitschs 5. Sinfonie Live in London oder       Immer bemerkt man, wie er dem Schönen auch in seiner Aufnahme des „Sacre“ auf der Spur ist. Strawinsky hätte seine Einspielung wahrscheinlich nicht besonders gefallen. Dabei wirkt das Stück in seiner Lesart lebendiger als üblich und bemerkenswert präzise. Auch beim Philadelphia Orchestra liegen die Hörner auch einmal daneben.  Damals konnte man aber die Aufnahme noch nicht schneiden, es waren quasi immer Direktschnitte live, sodass auch heute manche „perfekte“ Aufnahme eine ganz andere Figur machen würde. Wenn das Gehörte nicht trügt, wird der „Danse de la terre“ aber dennoch perfekt und begeisternd hingelegt.

In der Introduktion zum zweiten Teil klingt das Orchester besonders ausdrucksvoll, allerdings auch mit schmachtenden Violinen. Die erlesenen Qualitäten des Orchesters lassen sich auch durch die bescheidene Klangqualität hindurch erkennen. Bei Zf. 91 ist dann auch einmal ein Glissando fällig. Wir wären auch enttäuscht gewesen, wenn wir bei Stokowski darauf hätten verzichten müssen. Ansonsten bleibt der „Gute Geschmack“ jedoch gewahrt. Bei Zf. 132 wird die Passage der Trompeten nicht legato gespielt. Ein Blick in die Noten belegt: Stoki hat recht, obwohl er die 1947er Partitur noch gar nicht nutzen konnte. Den „Danse sacrale“ nimmt Stokowski langsamer als die bisher gelisteten Dirigenten. Angesicht der Tatsache, dass Stokowski bei diesem Tanz noch nicht in den Genuss der erst 1947 fixierten Vereinfachungen Strawinskys für sich und die anderen Musiker kommen konnte, ist die gehörte Präzision für damalige Verhältnisse ein kleines Wunder. Seltsam, dass bei dieser einen Stokowski-Produktion des „Sacre“ geblieben ist.

Der Klang bringt bereits einen Hauch Räumlichkeit mit, ist deutlich und differenziert. Auch für heutige Ohren durchaus noch anhörbar. Das Rauschen wurde wirkungsvoll gedämpft ohne zu sehr die hohen Frequenzen zu kappen. Gran Cassa und Pauken sind allerdings geradezu schwindsüchtig.

 

 

 

3-4

Pierre Monteux

Orchestre National de RTF, Paris (heute: Orchestre National de France)

W + A

1955, Live

15:38  17:55  33:33

Man machte verschiedentlich Monteux (und auch Strawinsky selbst) den Vorwurf, dass sie möglicherweise durch die häufigen Taktwechsel bedingt, die Tempi in den Aufnahmen von 1929 nicht halten konnten. Das war damals auch besonders schwierig, war die Spielzeit pro Seite noch auf vier Minuten beschränkt. Danach mussten Dirigent und Orchester bei jeder neuen Plattenseite erneut einsetzen. Bei Monteux haben wir die mangelnde Rigidität der Tempi auch in der 1959er Live-Aufnahme aus Boston bemerkt, aber uns schien, dass andere Gründe dazu führten, das Tempo plötzlich zu verlangsamen. Das französische Orchester hatte 1955 live in Straßburg seine liebe Not mit dem Stück. Sie beginnt sogleich mit erheblichen Intonationsmängeln des Fagotts.  Die Oktavklappe hätte eigentlich schon eingebaut sein können, aber man hat ja auch seinen Stolz. Das Orchester spielt generell weniger präzise, was zur Folge hat, dass bereits die Introduktion im Mittelteil sehr wenig transparent klingt. Das Horn-Solo nach Zf. 44 (Marcato) ist überhaupt nicht zu hören. Da wurde der Einsatz gänzlich verpasst. Auch wenn nur stützende Funktionen vorliegen, bleibt die Fagottstimme immer besonders präsent. Anscheinend hat man die Mikrophone nur nach der Introduktion ausgerichtet. Es spielt seine Einsätze auch ab Zf. 19 einen Hauch vor den Bässen, also zu früh, oder die Bässe zu spät.  Den „Danse de la terre“ spielt das Orchester wahrlich burschikos. Die Hörner sind nun besser zu hören als 1951 in Boston und es klingt nun auch ein wenig transparenter als in der Symphony Hall.

Die Introduktion im 2. Teil klingt flächig. Ab Zf. 125 verlangsamt Monteux auch in Straßburg wieder das Tempo, es scheint, als wolle er damit auf Sicherheit spielen lassen, damit kein größeres musikalisches Malheur passiert. Er belässt es bei diesem Tempo fast bis zum Ende. Ganz verhindern konnte er das Malheur trotzdem nicht, denn die Hörner geraten einmal außer Tritt, ganz schnell findet das Orchester wieder zusammen zu einem nun wirkungsvoll beschleunigten Finale. Das poco a poco crescendo wird in diesem Fall auch zu einem Accelerando genutzt (ab Zf. 198).

Die Zuhörer sind während der Aufführung sehr unruhig, die Gran Cassa klingt besser als 1951. Der Verlauf erscheint dynamisch nivelliert zu Lasten des p und pp. Generell klingt die Aufnahme lange nicht so sauber wie 1951 in Boston.

▼Eine weitere Einspielung Monteuxs von 1956 erscheint noch bei den Stereo-Aufnahmen.

 

 

SACDs:

 

 

Wie bereits bei der „Alpensinfonie“ scheint „Le Sacre du Printemps“ mit dem erforderlichen ca. 110-köpfigen Orchester wie für die Möglichkeiten des Mehrkanalklangs komponiert worden zu sein. Im Laufe der Jahre konnten sich einige Firmen dazu durchringen, tatsächlich die höhere Auflösung des Klangs, die genauere Platzierung des Orchesters im Raum und die gesteigerte Plastizität und Wucht der SACD bzw. der Blu-Ray-Audio für die Liebhaber /innen des Stückes nutzbar zu machen. Man muss vielleicht noch darauf hinweisen, dass es für den Erfolg der Unternehmung wichtig ist, dass insbesondere die Lautsprecher der fünf Kanäle bestens aufeinander abgestimmt sind (fünf gleiche wären am besten). Es braucht nicht bemerkt zu werden, dass aber nicht das Medium die Musik macht, sondern die Musiker und dass auch die Expertise der Techniker der Musik besser zur Geltung verhilft, als die unterschiedlichen Voraussetzungen der verschiedenen Medien. Nun also die SACDs:

 

 

5

Michael Tilson Thomas

Boston Symphony Orchestra

DG

1972

16:07  17:43  33:56

Die erste Einspielung, die Tilson Thoams vom „Sacre“ machte, war die erste Plattenproduktion der vierhändigen Klavierversion, die unter der Aufsicht des Komponisten produziert wurde. Die letzte erfolgte mit dem San Francisco SO im Jahr 2004. Die vorliegende Einspielung wurde von der DG in Quadro (also vierkanalig) aufgenommen aber so nie auf Platte veröffentlicht. Es gab nur normale Stereo-LPs oder später dann Stereo-CDs von der Aufnahme zu kaufen. Pentatone brachte die Produktion nun erstmals in der vierkanaligen Originalversion auf SACD heraus. Man kann nun erleben, wie gut die Techniker um Günter Hermanns mit der halligen Akustik in der leeren Symphony Hall zurechtgekommen sind. Wir meinen, es liegt eine der besten Aufnahmen aus Boston überhaupt vor. Und das gilt nicht nur für die SACD, sondern auch für die CD und die LP.

Schon die Einleitung wirkt besonders atmosphärisch. Der Gestus des Musizierens wirkt locker, höchst konzentriert, entschlossen und drängend, verschiedentlich auch straff. Die Blech-Einwürfe insbesondere der Trompeten und Posaunen sind von exquisiter Brillanz. Das Orchester spielt durchweg viel besser als unter Monteux, höchst motiviert, fein und genau. Und was vielleicht noch wichtiger ist, sehr schlagkräftig und durchdringend. Die erbrachte Perfektion wirkt niemals steril, was in einigen neueren Einspielungen bei vergleichbarer Spielfähigkeit des Orchesters nicht mehr gelingt.  Die harmonischen und instrumentatorischen Besonderheiten und Reichtümer der Partitur werden vollends ausgeschöpft und preisgegeben. Ganz besonders gefällt uns dabei der jugendlich-frische Impetus. Tilson Thomas war damals Assistent des damaligen Chefdirigenten des Orchesters, William Steinberg. Diese Einspielung muss damals mehr als ein überzeugender Talentbeweis des jungen Dirigenten (28) gewesen sein. Selten hört man das aristokratische BSO in dieser Top-Form.  Die Darbietung ist musikalisch mitreißend, fantastisch gespielt und hervorragend aufgenommen. Der abschließende „Danse sacrale“ wirkt, nicht zuletzt durch die absolut berserkerhaft zu werke gehende Gran Cassa und das exzellente Blech wie besessen und ekstatisch. Der finale Todesakkord kommt weniger wie ein Herzinfarkt, vielmehr wie das Fallbeil einer Guillotine.

Der Klang ist auch gegenüber der CD und LP besonders weit bemessen. Der Konzertsaal wirkt großräumig, wie er nun einmal ist. Klar, luftig und lebendig. Obwohl die Trompeten weit weg zu sitzen scheinen, wirken sie noch überaus präsent. Der Bass wirkt auch ohne ausgewiesenen Subwoofer-Kanal insbesondere beim Einsatz der mitunter furchteinflößenden Gran Cassa profund, mächtig, aber auch straff. Die gebotene Dynamik ist sehr weit gespreizt. Ein leichter Nachhall ist den Pentatone-Technikern anscheinend lieb und teuer, denn auf CD und LP findet man ihn nicht. Uns wäre er eine Spur trockener noch lieber gewesen. An Fülle und Farbenpracht braucht sich die Aufnahme auch von der diesbezüglich besonders glanzvollen, viel neueren Concertgebouw-Aufnahme Jansons´ nicht zu verstecken. Eine Jahrhundert-Aufnahme.

▼Zur CD und LP dort noch ein paar ergänzende Worte.

 

5

Ivan Fischer

Budapest Festival Orchestra

Channel Classics

2010

16:13  17:50  34:03

Ivan Fischer verfügt ebenfalls über ein absolut überzeugendes Orchester mit dem er ein ausgereiftes Konzept präsentieren kann. Da sitzt alles, nichts wackelt. Fangen wir doch zur Abwechslung einfach mit dem dieses Mal 5-kanaligen Klang (ohne separaten Subwoofer-Kanal) an. Er ist angenehm warm getönt. Wenn man so will, wirkt die Erde auf der getanzt wird nicht mehr eisig oder mit Raureif bedeckt, sondern braun und quasi schon frostfrei.  Beim Orchester gibt es keinerlei Härten im Spiel, es klingt voll und süffig, oder auch saftig, ohne aber je die filigrane Schlankheit oder Gewandtheit vermissen zu lassen. Einzelereignisse bleiben immer ein Teil des Gesamtklangs. Dass auch in dieser Einspielung sich Präsenz und Transparenz bei einer hervorragenden Staffelung nicht ausschließen müssen, wird bewiesen.  Die sf der Hörner wirken ungemein kräftig. Überhaupt sind die Hörner die vielleicht in unserer Diskographie am schmerzlichsten versteckte Instrumentengruppe bei gleichzeitiger immenser kompositorischer Bedeutung. Nicht so bei Fischer. Er hat ein besonderes Augenmerk darauf, dass sie, wenn geboten, auch mit ihrer ganzen Pracht hervortreten dürfen. Und sie spielen einfach exzellent. Die Gran Cassa wirkt nicht aufdringlich. Sie wird exakt positioniert und darf sich nicht - wie in anderen Einspielungen - über die ganze imaginäre Klangbühne ausbreiten. Das Orchester wirkt ungemein frei, leicht und locker und macht überhaupt keinen gedrillten Eindruck. Das Musizieren wirkt sogar in gewissem Sinne beschwingt oder bewegt, jedenfalls mit viel Herzblut. Feine Differenzierungen gelingen ihm mit Leichtigkeit, artikulatorisch und in der Lautstärke, die vom Komponisten gewünscht wird. Der „Danse de la terre“ wirkt eruptiv, wild zupackend und enorm weit gesteigert.

Die Introduktion des zweiten Teils wirkt ungemein klangfarbenreich, nuanciert und plastisch. Besonders zart, fragil und hervorragend ausgehört und abgetönt.  Auch die Holzbläser spielen bezaubernd schön. Was den „Alten“ noch wichtig war, die „Zwölftolen“ der Trompete (Tremolowirkung) ist bei Fischer nicht hörbar. Der „Danse sacrale“ ist auch bei größter Lautstärke noch fantastisch durchhörbar. Gut herausgearbeitet wird ab Zf. 159, dass die Tänzerin schon erschöpft ist, langsamer und schwächer wird. Immer wieder wird sie von Trompeten und Posaunen angestachelt immer noch weiter zu machen, schließlich bis zur bitteren Neige. Das wirkt nur bei Dorati und Markevitch noch auswegloser schrecklicher und bedrohlicher. Am anschaulichsten wirkt es aber bei Fischer. Und bei Fischer bleibt der Klang immer noch rund und weich, das wirkt dann etwas weniger schrecklich. Ab Zf. 174 geht es dann auch bei Fischer ekstatisch und enorm zugespitzt weiter. Der Tanz ist ein wahres Fest für die Freunde der Pauke und der Gran Cassa. Den Dachdecker muss man nach Abhören dieser Aufnahme aber noch nicht zu Hilfe rufen, die Ziegel bleiben noch gerade wo sie sind.

 

5

Mariss Jansons

Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam

RCO Live

2006

15:06  17:30  32:36

Von Jansons gibt es drei Einspielungen des Werkes. Mit keiner macht man einen Fehler. Wir möchten von den dreien insbesondere diese hier nicht mehr missen. Vom ersten Ton an fasziniert diese Einspielung, der luxurierende Klang zieht in den Bann und beim Spiel des Orchesters stimmt einfach alles. Bei RCO Live sollte man stets die Mehrkanalversion wählen, Stereo fällt dagegen zu sehr ab. Dass sie erst an dritter Stelle kommt, ist der Tatsache geschuldet, dass das Verschwenderische, Klangschwelgerische vielleicht dem Werk nicht ganz angemessen sein könnte. Aber selbst nach zig gehörten Einspielungen wird man nicht nur von den Amsterdamern, Jansons und dem Klang gefangen genommen, sondern auch wieder neu vom Werk gekapert. Das gelingt nicht vielen. Allerdings könnte das Orchester bei aller Üppigkeit bisweilen ein wenig besser durchgezeichnet sein. Und hier sind es die Posaunen und Tuben, die den Bläserklang wenn nicht dominieren, so doch genauer als üblich in den Fokus rücken. Bei Fischer waren es die Hörner. Zumeist sind es die Trompeten. Im „Danse de la terre“ erleben wir eine erhabene Klangentfaltung, angeheizt von einer urgewaltigen Gran Cassa.

In der Intro des 2. Teiles erleben wir einen Streicherklang der Extraklasse, weich und überaus sinnlich. Schöner geht es nicht mehr. Die Innenbalance des Orchesters ist atemberaubend. Das schönste Cantabile ergibt sich wie von selbst. Warum sollte man es hinterfragen, ob es drahtig nicht angemessener wäre? Schönheit braucht zumindest hier keine Begründung. Sie will uns ja nicht verführen (macht es aber trotzdem). Bei der „Glorification de l´élue“ (Lobpreisung der Erwählten) schlägt wieder die Hoch-Zeit der Gran Cassa. Ab da riskierten wir keinen Blick mehr in die Partitur, sondern wurden vom Klang verschlungen. Allerdings, das sei nicht verheimlicht bei Dorati (1953 und 59) klang das alles viel aggressiver und gefährlicher. Jansons achtet auch auf alle Details, bei ihm hören wir auch, wie bei den “Alten“ die „Zwölftolen“ der Trompete. Klasse! (1 nach Zf. 134). Im „Danse sacrale“ kommen die Marcati nicht ganz so schreiend heraus wie bei Fischer (Dorati ist da unerreicht, dicht gefolgt von Markevitch). Klanglich bleibt auch bei höchster Emotionalität der Klang stets edel und erhaben. Der Todestanz ist dennoch sehr anschaulich, aber nicht so packend wie bei Dorati (besonders 1959). Es scheint aber trotzdem so, als hätten wir hier, gerade in diesen drei Konzerten, die die Grundlage zu dieser SACD bilden, dem besten Orchester der Welt zugehört.

Das Mehrkanalbild 5.0, d.h. ohne Subwoofer, ist luxurierend, weich, voll, rund, warm, mit leuchtenden Klangfarben versehen und einer natürlichen tiefen Räumlichkeit. Zumeist geht es sehr transparent zu und etwas halliger als in Budapest, diesbezüglich ganz ählich wie bei MTT in Boston. Auch etwas gedeckter als in Budapest. Die Aufnahme ist frei von jeder Art von Lästigkeit, auch bei hohen Lautstärken. An die Präsenz und Dynamik der beiden vorstehenden Aufnahmen kommt sie nicht ganz heran, die Klangentfaltung wirkt – wie erwähnt – besonders natürlich. Wahrscheinlich genauso, wie es in einem der besten Konzertsäle klingt. Wir hören, um es zusammenzufassen, den sinnlichsten Orchesterklang des ganzen Vergleiches, aber nicht den transparentesten und auch nicht den dynamischsten. Von den drei Jansons -Einspielungen des „Sacre“ ist dies die Version für alle die mit einem SACD-Spieler und entsprechenden Komponenten ausgestattet sind. Allen anderen sei die Produktion mit dem Sinfonieorchester des BR empfohlen.

 

 

 

4-5

Esa-Pekka Salonen

Los Angeles Philharmonic Orchestra

DG

2006

15:38  17:17  32:55

Dies ist Salonens zweite Einspielung des Werkes. 1990 produzierte er es bereits mit dem Philharmonia Orchestra für Sony. Der damalige über weite Strecken jugendlich-frisch wirkende Impetus ist nun einem noch mehr rational bestimmten Zugriff gewichen. Das Fagott zu Beginn bekommt Freiheiten und nutzt sie auch, wenn auch im zunächst reduzierten Ton. Das Holz hat den typisch amerikanischen Klang. Ansonsten gibt es geradlinige, straffe Tempi ohne Rubati, wie es sich Strawinsky gewünscht hatte. Man hat den Eindruck, die Partitur wurde sehr gründlich durchgearbeitet, was sich an kleinsten Akzenten und feinsten Nuancen hören lässt, die sonst unbeachtet bleiben. Auch das Orchester erging sich anscheinend in gründlichster Probenarbeit. Trotzdem blieb die Einspielung für die DG, bis Dudamel die Leitung übernahm, ein Einzelfall. Der Klang, insbesondere auch die Zusammenklänge wirken penibel ausgehört. Bisweilen kommt es so vor, als wolle man dem Werk eine Reinschrift verpassen, damit man Studenten der Musik mithilfe dieser Aufnahme die Partitur rekonstruieren lassen könnte. Der Impetus wirkt mehr unaufgeregt, allerdings mit souverän wirkendem Understatement. Nichts wird übertrieben oder gar aufgebauscht, Emotionen kaum einmal preisgegeben. Das Musizieren wirkt extrem geradlinig. Allerdings bei einer enthemmten Gran Cassa und der Partitur entsprechendem, zupackendem Blech. Das Vivo Zf. 54 oder auch 104 ff wirken zwar schnell, aber auch kühl. Exakt der Partitur zu folgen bedeutet beim „Sacre“ schon viel, aber noch nicht alles. Marcati, Staccati, cantabile, alles ist da, aber irgendwie immer nur so viel, wie es sein muss. Überschwang oder ein Schwelgen wird sich nicht gestattet. Salonen ist darin so etwas wie eine Anti-Stokowski. Ein starker Kontrast, um einmal bei den SACDs zu bleiben, ergibt sich auch zu Orozco-Estrada oder Jansons (COA). Auch der „Danse de la terre“ wirkt so weniger ekstatisch, dafür äußerst genau.

Bei der zweiten Introduktion ergibt sich kein impressionistischer Klangzauber. Viele, auch kleine Einzelereignisse werden hörbar, die sonst fehlen. Sie wirkt dafür kaum lastend oder gar schwül, wie in vielen anderen Einspielungen. Der zweite Teil soll sich ja nachts abspielen. Wahrscheinlich nur durch Lagerfeuer erleuchtet. Das passt. Bei Zf. 93 wird das piu mosso allerdings zu nebensächlich „abgehandelt“. Bei Zf. 104 Vivo wirkt es nur schnell aber nicht gehetzt. Gefahr für Leib und Leben geht allerdings von der Gran Cassa aus. Das Orchester lässt sich auch beim „Danse sacrale“ kaum aus der Reserve locken, vielleicht braucht es sie auch gar nicht zu aktivieren. Leider wirkt der letzte Tanz insgesamt etwas flüchtig und hurtig aber durchtrainiert. Auf sportliche Weise, völlig straff, souverän und quasi ohne aus der Puste zu kommen tanzt sich die Jungfrau zu Tode. Unspektakulär und perfekt durchorganisiert. In tödlicher Kälte. Die Perfektion ist staunenswert. Die Partitur-Leser werden jubeln. Strawinsky wahrscheinlich auch: Ultrapräzise und gefühlsmäßig fast regungslos, also ohne derartige fremde Zutaten, so wollte er es zumindest in späteren Jahren..

Zum Klang: sehr transparent und auf Genauigkeit bedacht. Die Gran Cassa verhält sich brutal und auch ihre kleinen Schwestern die Pauken verhalten sich nicht gerade zimperlich. Das Orchester steht sehr gut verteilt im Raum. Es findet kaum Fluktuation zwischen den einzelnen Instrumenten oder Instrumentengruppen statt, wie festgenagelt klingen die Schallereignisse. Die Ortbarkeit ist ganz hervorragend. Zwischenzeitlich vergriffen gibt es diese Einspielung wieder als Blu-Ray-Audio zu kaufen.

▼Eine weitere Aufnahme Salonens in der Liste.

 

4-5

Jonathan Nott

Bamberger Symphoniker

Tudor

2006

15:34  18:24  33:58

Das ist nun die dritte Einspielung von 2006 hintereinander, dabei ist in diesem Jahr doch gar kein Jubiläum des „Sacre“ auszumachen. Zufälle gibt´s. Das Sprichwort stimmt aber, denn aller guten Dinge sind Drei. Nott und die Bamberger brauchen sich hinter den beiden Produktionen aus dem gleichen Jahrgang nicht zu verstecken. Schon das Fagott zu Beginn gefällt sehr gut und das Englischhorn sogar noch besser als beim Amsterdamer Orchester. Das Spiel wirkt einerseits sorgfältig andererseits auch suggestiv und mit großer Selbstverständlichkeit. Auch in dieser Aufnahme wirkt die Gran Cassa außerordentlich befeuernd.  Das Nebeneinander der Stimmen wird vortrefflich herausgearbeitet, es ergibt sich eigentlich nie einmal ein Mischklang. Die Steigerungen wirken strategisch sehr gut vorbereitet und suggestiv. Details werden nie unter den akustischen Teppich gekehrt.  Auch die „Zwölftolen“ 1T. nach Zf. 134 der Trompete sind prima heraushörbar. Der „Danse sacrale“ ist mit dem plastischen Zusammenspiel ein Ohrenschmaus. Insbesondere gefällt auch die hervorragende Zusammenarbeit von Gran Cassa und Tam-Tam, die endlich einmal exakt gleichlaut hörbar sind. Zumeist bleibt das Tam-Tam hoffnungslos unterlegen, oft hört man es sogar überhaupt nicht.  Eine sehr gelungene Einspielung allen Fans der deutschen Orchesterkultur sehr empfohlen. Aber auch allen Fans eines ganz speziellen Orchesterinstruments, der Gran Cassa. Trommel- und Bauchfellmassage inklusive.

Der Klang ist nicht ganz so luxuriös und schwelgerisch als der aus dem Concertgebouw. Aber präsenter. Die klangliche Disposition ähnelt der bei Ivan Fischers Aufnahme. Er steht sozusagen zwischen diesen beiden. Er ist sehr transparent, aber ein Quäntchen weniger brillant. Leider nehmen die Hörner mit dem restlichen Blech auf der gleichen Seite Platz, was dem Gesamtklang einigen Antagonismus nimmt. Auf dieses Spannungspotential muss man verzichten. Von Tudor wird der Extra-Subwoofer-Kanal bereitgestellt.  Er sorgt dafür, dass die Bässe noch profunder klingen. Hauptprofiteur dieser Maßnahme: Die Gran Cassa, die nun noch explosiver klingt. Für sie wäre jetzt eigentlich ein Waffenschein verpflichtend.

 

4-5

Sir Simon Rattle

Berliner Philharmoniker

Eigenvertrieb des Orchesters

2003

16:06  18:54  35:00

Mittlerweile gibt es auch von Sir Simon fünf Einspielungen des revolutionären Werkes. Die erste erstellte er mit dem National Youth Orchestra of Great Britain im Jahr 1977 als 22jähriger Dirigent. Dann folgte zehn Jahre später eine ungleich professionellere mit dem CBSO, gefolgt von dieser ersten mit den Berlinern 2003, die 2012 wahrscheinlich wegen des sich nähernden 100jährigen Jubiläums der Uraufführung noch einmal merklich aufgefrischt wurde. 2017 als vorerst letzte folgte dann die mit dem London Symphony Orchestra, die uns aber bis heute noch nicht vorliegt. Darf man als nächste noch eine Einspielung mit dem Sinfonieorchester des BR erwarten?

Von den vier vorliegenden gefällt uns die 2012er Einspielung am besten. Hier kommen wir in den Genuss einer nochmals verbesserten Klangqualität und sowohl die nochmalige Steigerung Rattles beim Umgang mit der Partitur als auch die nochmals ein wenig erhöhte Souveränität mit der sich das Orchester präsentiert, sind evident. Spätestens jetzt sind die Berliner zu einem richtigen „Sacre“-Orchester geworden.

Die Einspielung von 2003 diente eigentlich als Soundtrack zur Video-Produktion „Rhythm is it“, dem ersten großen Education-Project der Ära Rattle. Das Orchesterspiel gefällt auch in diesem Jahrgang schon sehr gut. Es ist absolut geschmeidig, mit sehr wenig Rubato und viel jugendlich-frischem Elan versehen. Immer spürt man einen Grundpuls, was den jungen tanzenden Schülern vielleicht als Orientierung dienen konnte. Beim Tranquillo Zf. 56 kann man eine selten schräge Es-Klarinette hören. Der Gestus erscheint sportlich und sehr bewegt, von Anfang bis zum Ende energiegeladen, kraft- und druckvoll, aber auch voll und sonor. Die Klasse des Orchesters ist jederzeit offensichtlich., Der „Danse de la terre“ mit einem explosiven Tam-Tam und einer ebensolchen Gran-Cassa spurtet los wie eine Horde losgelassener Kampfhunde oder noch treffender wie eine Herde Wasserbüffel. Fast unmittelbar erfahrbar.

Die Intro zum zweiten Teil kommt aus dem Nichts und führt irgendwie auch ins Nichts, wirkt etwas zu getragen. Zeit, damit die Tänzer etwas ausruhen können. Erst ab Zi. 91 kommt wieder richtig Bewegung ins Spiel. Die kantablen Passagen (ja auch die gibt es, sie sind gar nicht so selten) wirken nun wieder stringent und zügig. Ein zu üppiges Auskosten wird vermieden. Nicht zuletzt dank der 5.1. Konfiguration krachen die 11 Schläge der Gran Cassa ein Takt vor Zf. 104 vor der Verherrlichung der Auserwählten wie Schicksalsschläge herein. Dass es gerade 11 Schläge in einem 11/4-Takt sind, ist sicher kein Zufall. Das Schicksal der Auserwählten ist damit besiegelt, auch von der heiligen Zahl, die die Zustimmung der Götter symbolisieren könnte. Von nun an gibt es kein Entrinnen mehr. Auch beim „Danse sacrale“ wird das Tam-Tam prima eingefangen. Wie riesige Flammen scheint es immer wieder die Flucht des Mädchens zu verhindern. Bis schließlich der letzte Akkord wie ein Fallbeil den Tanz beendet. Herausragende Schlusssteigerung.

Auch klanglich ist die Aufnahme ein Hochkaräter. Sehr transparent und direkt wirkt der Klang, vor allem von den vorderen Pulten. Recht weit nach hinten sind die Blechbläser versetzt, leider auch die Hörner. Dank 5.1. wirkt die Gran Cassa fast abartig tief und wuchtig. Sie könnte bei den Bildern des heimischen Ambientes den Charakter einer Abrissbirne einnehmen. Gottlob lässt sich dieser Extrakanal individuell einstellen, sonst könnte auch der häusliche Frieden gefährdet sein. Die sehr gute Staffelung erreicht auch die einzelnen Streichersektionen.  Die Klangfarben erreichen fast Concertgebouw-Niveau. Das Orchester steht plastisch und kristallklar im Hör-Raum. Der Gesamtklang tönt etwas brillanter als in Budapest und Bamberg.

▼Weitere Einspielungen Sir Simons bei den Stereo-Versionen

 

4-5

Andrés Orozco-Estrada

Sinfonieorchester des HR (auf der CD als Frankfurt Radio Symphony bezeichnet)

Pentatone

2015

16:27  17:53  34:20

Ein weiteres Spitzenorchester aus Deutschland reiht sich in der Diskographie des „Sacre“ mit ein. Hier wird es von seinem damaligen Chef in seinem ersten Konzert geleitet. Heutzutage ist er schon wieder weg. Zunächst kann man wie bei den Bambergern das exzellente Holz bewundern, das ganze Orchester spielt sehr kultiviert und tonschön, sonor, aber auch kompakt und energisch in sich enorm geschlossen. Tänzerisch inspiriert sollten ja alle Einspielungen dieses Werkes sein, diese hier ist es ganz besonders. Es gibt keine statischen Klangflächen, meist wirkt der Gestus belebt. Orozco arbeitet viel mit einem leichten, behutsam angewendeten Rubato, was den rituellen, symbolhaften Gestus ein wenig unterläuft, das Spiel jedoch erheblich musikalisch belebt. Strawinsky Modellaufnahme könnte diese Einspielung nicht werden. In dieser Einspielung wird nun einmal die Tubastimme (es sind ja sogar zwei) sehr deutlich herausgestellt, auch das Guero (zu deutsch: Ratschgurke) bekommt die Bühne die ihm für ihren einmaligen Auftritt zusteht. Das Orchester gehört nun offenkundig (wie das des BR schon lange) zur Weltklasse.

Auch in der zweiten Introduktion wird viel Ausdruck und Finesse investiert, besonders bei den Soli, Auch der weitere Verlauf musste im Konzert von geradezu elektrisierender Wirkung gewesen sein. Im „Danse sacrale“ wird (wie zuvor schon das Fehlen der „Zwölftolen“) nun das abgetauchte Tam-Tams als kleines Manko registriert. Die Steigerung ist aber prima.

Der Klang ist prall und saftig, sehr transparent, tonal ausgewogen und bei bester Staffelung angenehm frisch. Auch ohne den separaten Subwoofer-Kanal klingt die Gran Cassa prall. Die Klangfarben erreichen auch in Frankfurt fast Concertgebouw-Niveau. Früher sagten die Musiker auch gerne einmal „Massacre du printemps“ zu dem Stück. Nicht nur wegen der am Ende toten Frau. Heutzutage scheint es keinen Schrecken mehr auf sie auszuüben.

 

4-5

Stefan Blunier

Beethoven Orchester Bonn

MDG

2014

15:51  18:10  34:01

Das Bonner Orchester unter der Leitung seines damaligen Chefdirigenten erreicht die Qualitäten des Frankfurter Orchesters nicht ganz. Beim eröffnenden Fagottsolo geben sich die Solisten natürlich immer die größte Mühe, so auch hier. Atmosphärisch wirkt die Einleitung ebenfalls. Irritierend ist das Fehlen des Trompeteneinsatzes ab 5 nach Zf. 21. Es handelt sich nur um acht simple Achtel, also kein großer Verlust. Seltsam ist es aber schon. Ansonsten hören wir ein schlankes, fein abschattiertes Musizieren. Die Hörner klingen druckvoll, die Bläserattacken scharf und die Akzente bei den Streichern wuchtig. Die Anweisung Sostenuto und pesante wird von den 2. Violinen, Violen und Celli besonders schwer, ja geradezu ächzend und leidend gespielt. Da gehen andere leichtfertiger damit um und klingen viel glatter. Die Gran Cassa bei Zf. 65 erscheint ein wenig klein abgebildet zu sein. Sie schlägt jedenfalls nicht über die Strenge, was wir als durchaus wohltuend empfanden.  Ist Klangbild wird sie hervorragend integriert. Durchaus vorstellbar ist es, dass sie im Konzert durchaus prominenter zur Geltung kam, ist der Dirigent diesbezüglich ja kein Kostverächter. Der „Danse de la terre“ wird zu größerer Wildheit gesteigert als bei Nott, eine hervorragende Leistung.

Die Inroduktion zum zweiten Teil, dem Opfer gewidmet, wird sehr schön ausgehört, lässt plastische, tänzerische Figuren vor dem geistigen Auge entstehen und die Fantasie beflügeln.  Gerade die lyrisch geprägten Passagen klingen lebendig und spannend.  Wie immer gehen dem Dirigenten keine Netails verloren. Die Figuren des Englischhorns (Zf. 98) werden sehr gut herausgearbeitet, sonst gehen sie immer unter. Cantable Stellen werden nusncenreich ausgesungen.  Mitunter fallen die sf der Gran Cassa ein wenig schwach aus (vor Zf. 118), was aber auch an der aufnahmetechnischen Disposition liegen mag, denn die Gran Cassa war mit Sicherheit nicht das Lieblingsinstrument des Aufnahmeleiters. Ihre dramatische Funktion wirkt gegenüber den anderen Einspielungen deutlich unterspielt. Man merkt der Darbietung sehr viel Sinn für das Gestische und für die musikalischen Mittel um den Ausdruck des Ballettes zu befördern. Die Hörner bleiben im Stereo-Modus an den Stellen wo sie besonders gefordert werden ein wenig blass. Im Mehrkanalsound bessert sich das. Der „Danse sacrale“ beginnt durchaus mit Bedacht, aber spannend. Das oft gegenüber der Gran Cassa zurücksehende Tam-Tam wird von Blunier nicht vergessen. Er weiß um die besondere Wirkung, wenn man es offensiv nutzt. Dennoch überwiegt beim letzten Tanz („Danse sacrale“) im Vergleich der Eindruck, dass Sorgfalt und Akkuratesse vielleicht höher in der To-do-Liste stand als das letzte Quäntchen Verzweiflung oder Extase darzustellen. Dadurch bleibt die urtümliche Komponente des Werkes ein wenig zu kultiviert.

Auffällig ist die besonders tief aber auch gut in die Breite gestaffelte Abbildung des Orchesters, was man durchaus als ein Markenzeichen des Labels ansehen kann, da es bisher in allen Orchesteraufnahmen unserer Vergleiche bei MDG zu hören war. Es klingt aber auch besonders sauber, klar und offen. Die tiefe Abbildung birgt die Gefahr, dass es dem hinten platzierten Blech und dem Schlagwerk an Durchschlagskraft mangelt. Auch in dieser Einspielung wirkt es etwas zu hintergründig für unseren Geschmack. Dies ändert sich bei fünfkanaliger Wiedergabe deutlich zum Besseren. Im Gegensatz zu den Bambergern mit Nott hat man das Blech klangstrategisch besser verteilt, also nicht alle auf einer Seite untergebracht.

 

 

 

4

Lorin Maazel

Cleveland Orchestra

Telarc

1980

15:53  17:43  33:36

Vier Mal kann man das Cleveland Orchestra mit dem Stück erleben. Zwei Mal mit Boulez, einmal mit Chailly und in dieser Einspielung mit Lorin Maazel, der seinerseits den „Sacre“ insgesamt drei Mal eingespielt hat (1975 in Wien, 1980 wie gesagt in Cleveland und ein letztes Mal 1998 in München). Seinerseits war dies eine er ersten Digital-Aufnahmen überhaupt. Da Telarc das Soundstream-System nutzte, war diese Einspielung bereits damals wenig von den Kinderkrankheiten der neuen Technik befallen. Die SACD brigt die Einspielung im damaligen Stereo zu Gehör.

Wie bereits 1969 in der hervorragenden Einspielung mit Pierre Boulez und 1985 erneut mit Riccardo Chailly erfreut das Orchester mit einer geläufig wirkenden, sehr virtuosen Wiedergabe. Maazel interessiert sich jedoch nicht mehr so sehr für die harmonischen Details des „Sacre“ wie Boulez. Das dissonante Geschiebe und Gedrücke wirkt wie glattgebügelt. Technokratische Kühle hat sich breit gemacht. Der „Sacre“ wir zu einem „Showpiece“ für die die Leichtigkeit, wie der Dirigent den Rhythmus meistert und das Orchester und es spielt wie andere Vivaldi. Einfach „easy“ und widerstandsfrei. Es spielt viel lockerer als die Konkurrenz auch Chicago mit Solti. Barenboims Versuch ebenfalls mit den Chicagoern sind Maazel und seine Cleveländer turmhoch überlegen. Sie spielen auch noch müheloser als die Wiener ins Maazels Einspielung von 1975. Aber es hört sich nun eher an wie ein „Konzert für Orchester“. Paradebeispiel auch jetzt: Der „Danse de la terre“: Er wird zu einem Paradestück für Orchester, glatt, sauber, selbstverständlich. Der Biss des ehemaligen Skandalstückes ist jedoch auf der Strecke geblieben.

Der zweiten Teil nimmt Maazel zügiger und die Intro dazu verströmt sogar etwas Wärme, mehr jedenfalls als Levine und das Orchester der MET. Er geht auch etwas subtiler vor. Eine Marotte von Maazel sind das breite Ausspielen der 11 Schläge von Percussion und Streichern. Hier wird die Viertel genau und lang ausgezählt. Das macht es in allen drei seiner Einspielungen, aber sonst niemand. Sonst führt die Gran Cassa und wenn sie verklingt und das ist relativ schnell, synchronisieren sich mit ihr auch die Streicher. Das Knallen von Pauke und Gran Cassa wurde damals zur Veröffentlichungszeit als sensationell empfunden, denn auf den damals langläufig bekannten Einspielungen (allesamt noch analog und auf LP) war das mit dieser brutalen Wucht noch nicht so bekannt gewesen. Im gut durchorganisierten „Danse sacrale“ geht dieser Effekt so weit, dass die Gran Cassa fast das ganze Orchester an die Wand spielt. Offensichtlich wollte man damit demonstrieren, welche Dynamik von nun an in der neuen Technik möglich und erwartbar ist.

Das leicht kühle Timbre der frühen Digitalaufnahme ist hörbar, passt aber ganz gut zur „kühlen“ Interpretation. Dieses Tinbre konnte auch die SACD nicht ganz kompensieren. Die Abbildung der Instrumente gelingt präzise, auch die Raumtiefe überzeugt nun. Das war zu LP-Zeiten noch ein Manko dieser Einspielung, vielleicht waren aber auch nur die zeitgenössischen Plattenspieler noch nicht in der Lage mehr aus den Rillen zu holen. Damals erklang das Blech noch irgendwo über dem Rest des Orchesters. Die Raumtiefe ist nun gut, der Gesamtklang luftig. Die Gran Cassa, die damals Tonabnehmer und Tonarm in Verlegenheit brachte, überzeugt heute mit großer Wucht und Tiefe. Der Klang der Violinen wirkt jedoch wenig brillant. Da zeigen die Wiener Violinen fünf Jahre zuvor (Decca 1975) was an Brillanz und Schmelz möglich ist.

▼Zwei weitere Einspielungen Maazels bei den Stereo-Versionen

 

4

Yuri Simonov

Royal Philharmonic Orchestra London

Membran

1996

15:56  17:30  33:26

Bei dieser Einspielung handelt es sich nicht um eine originäre Mehrkanal-Einspielung, sondern um eine vom Stereo-Format ins 5.1-Format remastertes Original. Doch zunächst zur musikalischen Seite dieses Unterfangens. Simonovs Lesart wirkt präsent und dramatisch aufgeladen. Davon zeugen die hohe Dynamik oder auch die sehr schweren Abstriche bei Sostenuto e pesante (Zf. 49). Auf balletthafte Grazie darf man bei dieser Einspielung nicht zu hoffen. Der Gestus wirkt aufgeheizt und stürmisch. Man hält sich kaum mit „Nebensächlichkeiten“ auf. Gerne gibt man „volle Pulle“, vergisst dabei die auch mal die Differenzierung. Manches wirkt grob. Manchmal scheint man auch auf knallige Effekte aus zu sein. Aber ist das bei diesem Werk wirklich ein Nachteil? Die Tempi werden meist fest und konzise durchgehalten.

Auch im zweiten Teil offenbart sich kein anderes Bild. Sehr kontrastreich bei extremer Dynamik, dabei weniger differenziert. Das Tam-Tam kommt bei Simonov sehr gut ins Bild, überflügelt bisweilen sogar die Gran Cassa. Es wirkt so besonders archaisch und urtümlich. Der „Danse sacrale“ wirkt gekonnt aber ein wenig routiniert. Etwas weniger Klangorgie als sonst. Trotzdem impulsiv und vor allem voluminös.

Der Klang wirkt sehr großformatig. Hervorragende Transparenz zu Beginn. Im Tutte lässt sie nach. Die Streicher sind weniger präsent als die anderen Instrumente. Die Gran Cassa wirkt wuchtig und sehr voluminös aber kaum trocken oder knackig. Der Bass der Streicher wirkt wenig konturiert, neigt zum Raunen und erscheint bisweilen aufgebläht. Insgesamt ein bisschen mehr Klangwolke und deutlich weniger Präzision als bei den „richtigen“ SACDs.

 

4

Paavo Järvi

Cincinatti Symphony Orchestra

Telarc

2004

15:50  18:40  34:30

Das Orchester erlebte in der Ägide Järvis sein Hochphase was die Medienpräsenz anlangt. Danach ist es sehr still um es geworden. Es kann, wenn man diese SACD zugrunde legt auch nicht so recht mit den anderen hier bisher genannten Orchestern mithalten. Das beginnt schon in der Einleitung in der das Englischhorn (p) gegenüber dem Fagott viel zu laut spielt (ab T. 1 nach Zf. 3). Auch in der weiteren Einleitung kommt es mit einer mitunter ungewohnten Stimmengewichtung. Neue geraten an die Oberfläche, bekannte geraten in den Hintergrund. Der Gestus ist geradlinig, die Partitur wirkt insgesamt gut ausgehört. Der „Danse de la terre“ erhält einen stürmischen Drive, ist der Perfektion sehr nahe. Für ihn legt sich das Orchester richtig ins Zeug und es geht ein Ruck durch das ganze Ensemble.

Die Inrtroduktion zum zweiten Teil wirkt sehr sauber in Artikulation und Rhythmus, eine fesselnde Spannung will sich jedoch nicht einstellen. Im weiteren Verlauf wird mitunter auf den Effekt hin dirigiert und gespielt. Der Orchesterklang wirkt allgemein etwas kalt und unnahbar. Der „Danse sacrale“ wird zu einem Fest für alle Fans des schweren Blechs (Posaunen und Tuben). Auch die Gran Cassa meldet sich mit Höchstwerten lauthals zu Wort.

Telarc weist die SACD als 5.1 kanalig aus, was bei diesem Label auch üblich ist. Dennoch blieb der Subwoofer-Kanal dieses Mal stumm. Die Gran Cassa hat dennoch ordentlich Kraft. Die Räumlichkeit wirkt großzügig bemessen, luftig, offen und transparent. Um eine tiefe Wirkung zu erzielen wird das Blech weit hinten im Raum abgebildet mit den bekannten Nachteilen bei der Präsenz. Im fff neigt der Klang ein wenig dazu zu „verklumpen“ und er wirkt flächiger. Insgesamt wirkt der Klang jedoch steril und sehr wenig lebendig.

 

 

Einspielungen in Stereo von CDs, LPs oder Downloads gehört:

 

 

5*

Francois -Xavier Roth

Les Siècles (zu Deutsch: die Jahrhunderte oder auch die Epochen)

Harmonia Mundi

2013, Live

15:14  18:24  33:38

Die Produktion ist einzigartig und entpuppt sich, wie bereits der Musikwissenschafter, Komponist und Autor Michael Stegemann, in jedweder Hinsicht ein ausgewiesener Fachmann seines Metiers, nicht nur wenn es um den „Sacre“ geht, festgestellt hat, als ein echter „Ohrenöffner“. Es ist dies die einzige Einspielung, die auf Instrumenten aus der Zeit der Uraufführung gespielt wird und eine der beiden (mit der Zinman-Einspielung zusammen), die auf die Originalpartitur von 1913 zurückgreift. Das bedeutet, dass es ein paar Takte gibt, die später verschwunden sind, dass die kleineren Retuschen in Artikulation und Rhythmus und vor allem die rhythmischen Vereinfachungen, mit denen Strawinsky den Umgang mit dem Werk für sich und andere deutlich vereinfacht hat (1947) noch nicht zum Tragen kommen. Eigentlich halst sich Roth und das Orchester damit eine Menge Probleme ein, aber zu Ehren des 100jährigen Jubiläums der Uraufführung nimmt man sie auf sich. Dass es zu einem Konzert-Mitschnitt gekommen ist, zeugt von dem Mut, dem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten aber auch dem Können der Verantwortlichen. Man darf der Unternehmung in jeder Hinsicht einen überwältigenden Erfolg bestätigen.

Das Fagottsolo, hier auf einem französischen Fagott und dazu noch ohne die Oktavklappe gespielt, die die hohen Töne treffsicherer erreichen lässt, klingt ganz ausgezeichnet. Der Klang ist zudem voller und runder, die Intonation besser als bei den französischen Aufnahmen aus früherer Zeit (Monteux 1955 und 56, Ansermet 1957). Erstes Bravo. Der Gestus ist weniger stampfend, der Klang weniger massiv, heller und besonders durchsichtig, besonders auch im Tutti. Auch die helleren Farben dominieren plötzlich, die Anmutung wirkt leichter und luzider. Die Soli wirken sehr flexibel. Das Starre und Kalte ist fast gänzlich verschwunden, der Kult wirkt nun lebendiger, die agierenden Menschen (wenn es eine Ballettaufführung wäre) würden menschlicher wirken, weniger wie ferngesteuerte Puppen, die ein uraltes, nicht mehr reflektiertes Ritual ausführen. Das Tempo giusto wirkt nun enorm aufgeweckt, neckisch und fast aufreizend. Das Motorische wirkt zurückgedrängt zugunsten von impulsivem Tanz. Die Es-Klarinette scheint direkt vom „Till Eulenspiegel“ rübergekommen zu sein, vielmehr rüber geflitzt. Die Steigerungen wirken wieselflink. Das Trompetensolo ab 3 T. nach Zf. 37 fehlt noch. Das „Ritual der rivalisierenden Stämme“ wirkt viel spielerischer und sportlicher als kämpferisch, wie sonst gehört. Zweites, drittes und viertes Bravo. Das Musizieren wirkt dabei wenig kleinteilig, zumeist erreicht man große Spannungsbögen. Im „Cortège du Sage“, also wenn der Weise erstmalig auftritt, fehlt die Ratschgurke. Wir nehmen einmal an, dass man sie bei Roth auch hören würde, wenn sie bereits in der Partitur stünde. Der „Danse de la terre“ ist ein orchestrales Feuerwerk. Besonders reizvoll ist dabei, dass sich erste und zweite Violinen gegenübersitzen. Wie Beethoven im Presto seiner Sinfonie Nr. 7 A-Dur es einkomponiert, die Strawinsky natürlich kannte und wie Carlos Kleiber es in seiner tollen Aufnahme mit den Wienern hielt, so macht es auch Roth. Der Antagonismus wird dadurch viel plastischer, man schaukelt sich gegenseitig hoch, befeuert sich und gelangt zu einer herausragenden, berauschenden Wirkung. Klemperer, wenn es eine Sacre-Einspielung von ihm gäbe, hätte es auch so gemacht. Sonderbravo. Übrigens: Das Orchester hat höchstes Niveau, hat besonders reiche Klangfarben zu bieten und klingt besonders mitteltönig. Heute klingen die Orchester brillanter und wegen der größeren Bohrung beim Blech auch lauter. Angenehm, gerade bei diesem Stück: Der Orchesterklang wirkt weniger grell als gerade bei den amerikanischen Orchestern.

Die Introduktion zum 2. Teil ist erneut ein besonders erwärmendes, klangliches Vergnügen. Besonders durch die historischen Instrumente wirken die Klangfarben wunderbar abgetönt. Die Soli agieren, soweit es die vorgegebene Phrasierung hergibt, mit bildhafter Klanggebung. Nochmal zwei Bravos. Zf. 104: tolles Vivo. Zf. 128 alles andere nur kein ppp. Da stand es wohl noch anders in der Partitur. Noch ein paar weitere kurze Notizen: Ab Zf. 129 werden die Pizzicti recht breit gespielt. Ab Zf. 134: Was für ein herrliches  fff der Hörner. Nochmal ein Extra-Bravo. Zf. 138 geben sie wieder alles, aber ohne das restliche Blech wirkt es nicht mehr so ehrfurchtgebietend. Die Rhythmen in der 1913er Fassung sind vor allem im kontrastreich gestalteten „Danse sacrale“ nochmals komplexer, wirken nochmals zerrissener. Die Schläge der Gran Cassa, die sich bisher auch nobel zurückhalten konnte, wirken wie Schläge direkt in die Magengrube. Zudem hören wir auch verspottende, bissige Staccati. Beim letzten Akkord gesellt sich nun ein lautstarkes Tam-Tam hinzu, dass 1947, warum auch immer, gestrichen wurde. Allerdings: Fallbeilartiger wirkt der Schlussakkord tatsächlich ohne. Zuletzt also auch noch einer der allerbesten „Danse sacrale“. Ein letztes Bravo.

Noch nicht ganz, denn auch der Klang verdient sich höchstes Lob. Er ist wunderbar räumlich, offen, farbig und dynamisch. Das Orchester klingt weicher an gewöhnlich, was aber wahrscheinlich eher an den Instrumenten liegt. Das Bassfundament ist gut, es fehlt dem Gesamtklang weder an Volumen noch an Fluktuation und Rundung.

 

5*

Antal Dorati

Minneapolis Symphony Orchestra (heute: Minnesota Orchestra)

Mercury

1959

13:59  15:40  29:39

Nein, bei den Spielzeiten haben Sie sich nicht verlesen und wir uns nicht verrechnet. Dorati legt Tempi vor, als ob ihm der Leibhaftige auf den Fersen wäre. Das wirkt von Beginn an schon drängend und dann draufgängerisch, rigide, straff und so furios, wie es nur geht. Seit der Mono-Einspielung, gerade einmal sechs Jahre zuvor, müssen Dorati und sein Orchester, das er 1949 von Mitropoulos übernommen hatte und dem er viele Jahre als Chef vorstand (bis 1960), sich weiter intensiv mit dem Stück beschäftigt haben. Das Orchester, das noch nicht einmal im klassischen Sinn schön spielt, wirkt so, als müsse es gar nicht mehr in die Noten schauen, als hätte es das Stück vollkommen verinnerlicht. Allerdings werden einzelne Töne oder Phrasen nie einmal richtig ausgekostet, weshalb der eine oder andere einwenden könnte, das Spiel wäre flüchtig oder oberflächlich. Für uns stellte sich diese Frage wegen der unerbittlichen Dringlichkeit gar nicht erst. Kantabilität oder Klangfülle wurde vom Speiseplan gestrichen. Auf einen vollen oder gar satten Klang scheint man überhaupt keinen Wert gelegt zu haben, was ebenfalls den einen oder anderen Kritiker auf den Plan rufen könnte. Deshalb wirkt er aber nicht diätetisch. Das klangliche Gerippe nicht des Fleisches beraubt. Er ist allerdings völlig fettfrei, der Klang. Nicht umsonst wurde diese Einspielung bisher kaum als referenzträchtig gehandelt.  Das Orchester spielt aber so geläufig, dass sich Dorati diese feurigen Tempi erlauben kann. Ja das wirkt passagenweise gehetzt, genau so soll es ja auch hier wirken. Ganz selten kommen auch einmal die sf so prägnant, wie herausgepfeffert, zur Geltung, wie in dieser Darstellung. Wie bei einem echten Verbrechen, und nach heutiger Rechtsprechung läge sowas bei dem vorliegenden Tathergang unzweifelhaft vor. Entführung oder Verführung einer Minderjährigen mit anschließender Todesfolge oder gemeinschaftliche (nichtsexuelle) Vergewaltigung mit Todesfolge läge wohl vor und der Tathergang spielt sich bei Dorati mit höchster Spannung sehr schnell ab, es soll ja auch keine Zeugen geben. Dorati verzichtet auf den Symbolismus von Roerich und Strawinsky, d.h. neues Leben (Frühling) gibt es nicht ohne vorherigen Tod (Winter) und wird musik-realistisch, drastisch und expressionistisch. Impressionistische Überbleibsel, die es im Stück ja auch tatsächlich gibt, werden wie im Sturm weggeblasen. Um nur wieder den „Danse de la terre“ herauszugreifen: Das ist nunmehr eine atemlose Hatz von wildgewordenen Wahnsinnigen. Als ob da mächtig was aus dem Ruder läuft. Das Orchester wird vorbehaltlos zu ungestümer Virtuosität angetrieben, geht volles Risiko und lässt die Hörer/innen atemlos und mit erhöhtem Adrenalinspiegel zurück. Bei alledem spielt das Orchester über weite Strecken, man kann es kaum glauben, schlanke Kammermusik. Aber mit höchstem Druck.

Und wie geht es im zweiten Teil weiter?  Um es kurz zu machen: atemberaubend. Die Introduktion hat nichts Waberndes, schemenhaft urweltliches, ist vielmehr die reine Qual, als würde man vom gerade aufgetauten und aufgeweichten nassen Lehmboden verschluckt. Dorati sucht nicht wie viele andere, Karajan wäre da zuerst zu nennen, das letzte Zipfelchen  Kantabilität oder jedes Legato, sondern setzt sich immer mit dem rhythmischen Akzent auseinander, die rhythmische Schärfe, dabei bildhaft, expressiv und jede Wärme im Klang meidend. Höchstens der Flöte rutscht einmal ein kleines Vibrato durch. Niemals kommt auch nur ein Anflug von Glätte durch, immer geht es hitzig oder elementar vorantreibend weiter. Die eruptiven Steigerungen wirken so, als ob es den Musikern untersagt worden wäre, auf ihre Instrumente Rücksicht zu nehmen. Sollen sie doch kaputt gehen. Hauptsache ist der ultimative Einsatz. Aber kein Licht ohne Schatten. Die „Zwölftolen“ der Trompete, 1953 noch mustergültig hörbar, sind nun verschwunden (1 Takt nach Zf. 134). Nur zur Klarstellung was in diesem Takt alles passiert füllt alleine eine ganze Seite der Partitur. Kein Wunder, wenn da was durchflutscht. Nirgendwo beherzigen die Hörner die Anweisung „Pavillions en l´air“ was nicht bedeutet, man soll Pavillons in die Luft werfen, sondern vielmehr sollen die Trichter hoch und damit nach vorne gehalten werden, damit der indirekte Klang (nur von der Rückwand reflektiert) zu einem direkten und damit lauteren Klang wird. So wie bei Dorati muss es klingen! Der „Danse sacrale“ quietscht und ächzt, die Marcati des Blechs knallen nur so heraus, die rhythmischen Zuckungen wirken konvulsivisch.

In dieser Einspielung stellen sich tiefere Fragen nach Differenzierung oder Nuancierung erst gar nicht. Hier trifft expressiver Gestaltungswille auf magyarisches Temperament und ein bedingungslos opferbereites Orchester. Der letzte Tanz wirkt sogar noch extatischer als in Bernsteins legendärer Aufnahme von 1958. Ultimativ frenetisch. Boulez wirkt dagegen wie eine lahme Ente. Dorati selbst in seiner letzten Aufnahme von 1981 jedoch auch. Da fällt man fast schon vom Zuhören tot um. Da wie bereits gesagt: atemberaubend. Ein Hör-Abenteuer, auf das man sich allerdings einlassen muss. Sicherlich nicht unumstritten, aber einzigartig, weitab vom Mainstream.

Dieser Meilenstein in der Diskographie des „Sacre“ wäre ohne eine superbe Aufnahmetechnik nicht möglich. Die Technik hat seit 1953 nochmals einen immensen Sprung nach vorne gemacht, Nur das (geringe) Rauschen ist noch da. Der Klang ist nun naturgemäß (Stereo) viel besser aufgefächert, ultimativ präsent und enorm transparent. Das Holz spielt fast schon direkt vor dem Gesicht der Hörer. Es klingt auch enorm plastisch. Die Tiefenstafflung ist entsprechend gering. Auch die anspringende Dynamik und die Ausgewogenheit aller Instrumente wurde gegenüber 1953 stark verbessert. Für uns ist dies eine Jahrhundertaufnahme.

 

5*

Igor Markevitch

Philharmonia Orchestra London

EMI, Classical Moments

1959

15:39  16:11  31:50

CD und Download Von allen Markevitch-Einspielungen ist dies die beste. Weitaus bester Klang, bestes Orchester, spannend wie live ohne die Risiken von live. Die seltsame Intonation des Fagotts zu Beginn muss man überstehen, dann wirkt das Orchester so souverän, als hätte es nie etwas anderes gespielt. Das mag auch an Markevitchs Dirigat liegen, das ja auch in Prag schon herausragenden Eindruck gemacht hat. Das Orchester spielt mit mehr Fleisch auf den Rippen als die Kollegen in Minnesota im gleichen Jahr. Aber das könnte auch an der Technik (z.B. an den Mikrophonen) liegen. Spätestens im Jahr 1959 beginnt für den „Sacre“ die Neuzeit. Er scheint, zumindest wenn ein kompetenter Dirigent mit einem echten Konzept anwesend ist, seine Schrecken verloren zu haben. Der Erfolg musste noch hart erarbeitet werden, weshalb es in jenen Jahren noch nicht glatt klingt, denn es klingt noch irgendwie unerhört, urgewaltig und urig. Besonders bei den Pionieren. Das lässt später spürbar nach. Die Hörner haben Saft und Kraft, genau wie die Pauken, die aber zugleich noch gut in den Orchesterapparat integriert sind. Unser Vergleichsobjekt Nr. 1, der „Danse de la terre“ klingt wie von Besessenen gespielt, als ob sie tatsächlich Urgewalten entfesselten. Nirgends sprühen die Funken so hoch wie in der 59er Markevitchs und der Hörer oder die Hörerin wird geradewegs in den Sessel gedrückt.

Der schlanke und helle Klang des PO bringt Licht ins nächtliche Dunkel der Introduktion zum zweiten Teil. Jetzt kann die Technik auch ins pp hinabsteigen, ohne den Klang ans Rauschen des Tonbandes oder der Plattenrille zu verlieren. Insgesamt wirken die Lautstärke -Relationen nun sehr stimmig (gegenüber 1951). Kaum eine Einspielung erreicht diese Spannung in den ruhigen Partien und die schonungslos wilde Kraftentfaltung, die fast schon an Gewalttätigkeit grenzt. Und ganz wichtig: Die Hörner sind hervorragend präsent und spielen einfach toll. Ingesamt eine Einspielung mit unerhörter dramatischer Wucht, die auch durch den atmosphärischen Klang fesselt. Als ob da ein Magier vor dem Orchester stand.

Zum Klang: Er ist erheblich offener, besser differenziert und dynamischer als alle Monos Markevitchs. Außerdem auch viel körperhafter und ausgewogener. Die Staffelung ist gut, man kann sogar schon eine recht gute Tiefenstaffelung erkennen. Die Gran Cassa hat Körper und Wucht. Der Klang wirkt für das Aufnahmedatum schon recht saftig und ausladend. Gerade bei der Dynamik ist die Entwicklung jedoch noch deutlich weiter gegangen. Sie wurde noch wuchtiger und explosiver. Besonders soll hier noch auf den Download hingewiesen werden. Man bekommt für ein paar Euro beide Aufnahmen (51 und 59) in CD-Qualität geliefert und die Qualitätsunterschiede zur CD sind marginal. Die CD wird zudem schwerer zu bekommen sein.

 

5

Pierre Boulez

Cleveland Orchestra

CBS – Sony

1969

16.38  17.56  34.24

Von Pierre Boulez gibt es drei Einspielungen. Die erste aus Paris mit dem Orchestre National de L´RTF, 1963 macht einen angenehm rauen, aber unfertigen Eindruck und 1991 die dritte, erneut mit dem Cleveland Orchester eingespielt, die eine klanglich hervorragende aber rhythmisch weichere Lesart kultiviert.

1969 war das Orchester fabelhaft ausgewogen und kultiviert. Es stellt das Pariser, dem im direkten Vergleich ein paar Proben mehr nicht geschadet hätten, in allen Belangen deutlich in den Schatten. Gerade der offerierte Nuancenreichtum und die Spielfähigkeit allgemein sind besonders zu nennen. Dazu muss man auch wissen, dass Boulez bei der Pariser Einspielung noch wenig Erfahrung mit dem Dirigieren überhaupt hatte und der „Sacre“ zum ersten Mal gegeben wurde. Die Detailgenauigkeit ist 1969 vorbildlich, die rhythmische Wucht steht ihr in diesem Jahr nicht nach. Boulez bietet mit den Cleveländern eine besondere Vereinigung von avangardistischer Komplexität und emotionalen Schock, das wirkt noch wenig gesoftet. Die metrischen Verschiebungen sind selten so präzise zu hören wie hier. Aber auch das schockierende Moment der Uraufführungszeit ist noch spürbar. Das lässt 1991 deutlich nach. Die mittlerweile hinzugewonnene Souveränität lässt aber bereits erblicken, dass man im „Sacre“ schon bald einen Klassiker sehen wird. Was komplexe Rhythmen anlangt ist Boulez als Dirigent eine allseits anerkannte Koryphäe. Der Danse de la terre“, vom Tempo her zwar ziemlich langsam, wird aber ganz hervorragend gesteigert und endet explosiv, auch dank Gran Cassa und Tam-Tam.

Boulez 63er Einspielung war ja Gegenstand einer ziemlich niederschmetternden Kritik durch Strawinsky, die aber auch andere traf (Karajan, 1963 und Robert Craft, 1962). Boulez änderte – vielleicht daraufhin seine Tempi, die nun, zumindest in der zweiten Introduktion deutlich langsamer und damit geheimnisvoller sind. Auffallen ist auch, dass nun auch die Kantabilität zu ihrem „Recht“ kommt. Das Orchester entfaltet sogar beim gefürchteten „Danse sacrale“ unglaubliche Valeurs, wirkt niemals gestresst, sondern locker, aber trotzdem brutal im Zugriff. Diese Einspielung ist die beste Wahl, wenn es um Boulez als Dirigenten geht. Viel präziser und mit mehr klangkräftiger Bravour als 1963 und emphatischer musiziert als das digitale Remake in Cleveland 1991.

Klanglich ist sie auch viel besser als die 63er Concert Hall und sie kann mit der 91er mindestens mithalten. Uns gefällt sie sogar noch besser. Sie ist räumlich, körperhaft, sehr gut gestaffelt und brillant. Die Transparenz ist fabelhaft, die Dynamik saftig. Sie verbindet Opulenz und Transparenz genauso auf ganz hervorragende Weise wie Tiefenstaffelung und Präsenz. Die 91er bringt eigentlich nur eine bessere Gran Cassa mit.

▼Eine weitere Einspielungen von Pierre Boulez weiter unten.

 

5

Michael Tilson Thomas

Boston Symphony Orchestra

DG

1972

16:07  17:43  33:56

CD und LP  Diese Einspielung wurde bereits bei den SACDs gebührend gewürdigt, nämlich als eine Sternstunde in der Diskographie des „Sacre“. Sie lag uns auch als Japan-CD und Resonance-LP vor, weshalb wir noch kurz auf die Unterschiede der Tonträger eingehen wollen. Auch auf CD und LP wirkt sie sagenhaft ausdruckskräftig. Das Orchester spielt natürlich genauso toll aber etwas weniger füllig und weniger körperhaft als von der SACD, deren Transparenz noch tiefer in den Raum reicht. Der Raum, das ist ja eine der Domänen des Mehrkanalklangs, wirkt auch einfach größer. Die begeisternde Vielschichtigkeit in Harmonik und Instrumentation kommt auch auf CD und LP voll zum Ausdruck. Vorteil CD und LP: Der Raum wirkt nun nicht mehr im Ansatz hallig, wie wir es noch von der SACD hören konnten. Das knackige Blech und der grollende Bass, die Dynamik und Farbigkeit bleiben voll erhalten. Im Vergleich CD und LP fiel die LP nur durch den etwas unruhigen Lauf und ein paar Knackgeräusche unangenehm auf.

 

5

Leonard Bernstein

New York Philharmonic Orchestra

CBS-Sony

1958

15:30  18:38  34:07

Von Leonard Bernstein liegen uns drei Einspielungen vor. Dies ist die erste, aufgenommen in einem New Yorker Hotel. Bei vielen Gelegenheiten kann man hören oder lesen, die mittlere von 1972 mit dem London Symphony Orchestra ebenfalls, wie bei MTT, quadrophon eingespielt, wäre seine beste, ein Jahr nach Strawinskys Tod anlässlich eines Gedächtniskonzert im Studio 1 der EMI in der Abbey Road aufgenommen. Dem können wir uns nach Kenntnis aller drei Aufnahmen nicht anschließen. Die dritte im Bund ist eine Aufnahme mit dem Israel Philharmonic, 1982 nun digital und für sein neues Label, die DG eingespielt,

1958 hatte Bernstein die New Yorker gerade von Mitropoulos übernommen und sie spielen in Top-Form. Diese Einspielung ist von Anfang an bis zum Ende sehr spannend.  Der Orchester wird hervorragend durchleuchtet. Auffallend sind die ausdrucksvollen Trompeten-Akkorde (u.a. 1 T. vor Zf. 18). Auch bei orchestralen Massierungen bleibt das Orchester klar und gut durchhörbar, vertikal und auch horizontal. Ab Presto (Zf. 37) kommt Bernstein richtig in Fahrt. Da ist viel Verve drin. Mit den hervorragenden Hörners geht das Prestissimo des „Danse de la terre“ enorm vorantreibend und ekstatisch über die Bühne.

Die Introduktion zum zweiten Teil evoziert schon das kommende Unheil, wirkt besonders prickelnd. Die beiden disparaten Trompetenstimmen (Zf. 84) kommen besser heraus als üblich. Bernstein gewinnt daraus ebenfalls viel Spannung. Die Streicher wirken sehr plastisch. Bei Zf. 90 freuen wir uns, dass die Balance zwischen Bassklarinette (p) und Hörner (pp) endlich einmal passt. Sonst übertönen die Hörner oder sind zumindest lauter als die Bassklarinette. Mitreißendes „Vivo“ bei Zf. 104.  Schlagzeug und Blech begeistern, während das Englischhorn schon etwas schmächtig klingt (Zf. 129 ff). Im „Danse sacrale“ erhalten die Hörner gegenüber Trompeten und Posaunen völlige Äquilibristik. Das spricht für die hervorragende Innenbalance der New Yorker und Bernteins Augenmaß (bzw. Ohrenmaß). Besonderes Lob wird der Piccolo-Trompeten zuteil. Die sf und die Marcati begeistern. Angeblich soll der Einspielung die Originalpartitur zugrunde liegen. Wir haben da unsere Zweifel., da wir ja mittlerweile Vergleichseinspielungen zurate ziehen können.  Mit der Fassung aus 1913 von Roth und Zinman ist die Bernsteins nicht identisch. Aber am Ende gibt es eine Besonderheit, die uns auch bei Roth auffiel: Beim letzten Akkord spielt zumindest das Zymbel mit oder ein seltsam klingendes Tam-Tam (oder beides?), das in der 1949er Fassung zu schweigen hätte. Ach ja, das Guero bereichert den Akkord auch noch.

Das leichte Rauschen kennzeichnet auch diese frühe Stereo-Aufnahme. Sie ist sehr transparent, verfügt über eine ausgezeichnete Staffelung (besser als bei Markevitch). Das Schlagwerk wirkt wuchtig, auch die Pauke klingt erfreulicher Weise sehr griffig, die Violinen scheinen eine Spur zurückgesetzt. Das Blech wirkt präsent und knackig. Der Gesamtklang wirkt unmittelbar und lebendig. Wir hörten das neueste Remastering aus der Leonard-Bernstein-Edition. Vergleiche mit älteren aus den Achtzigern haben wir uns dieses Mal lieber erspart (siehe Vergleich „Daphnis et Cloé, Suite Nr. 2).

▼Weitere Einspielungen von Leonard Bernstein weiter unten.

 

5

Riccardo Chailly

Cleveland Orchestra

Decca

1985

15:43  16:46  32:29

CD und LP  Auch von Riccardo Chailly sind drei Einspielungen bekannt. 1981 brachte der SFB eine LP mit dem Werk heraus, um den Dirigenten als neuern Chefdirigenten des RSO Berlin zu begrüßen, eine Position, die er von 1982-1989 begleitete bis er nach Amsterdam wechselte. Decca entschied sich jedoch für Ihre Produktion doch lieber auf das Cleveland Orchestra zurückzugreifen. Sicher war auch dort das damals maßstabsetzende Spiel des Orchesters insbesondere von der Boulez-Produktion der CBS (1969) wohlbekannt, die damals vielen als die Referenz galt. Die Wahl des Orchesters erweist sich auch heute noch als eine ausgezeichnete, denn das schlanke, wieselflinke Spiel voller Akkutatesse aller Akteure begleitet uns vom ersten bis zum letzten Ton. Die Artikulation ist noch haarfeiner als beim RSO Berlin, das Zusammenspiel von einer kaum für möglich gehaltenen Präzision geprägt. Das Differenzierungsvermögen ist erstaunlich. Der härtere Klang von Englischhorn und Oboe wirkt gegenüber dem warm timbrierten RSO transparenzsteigernd, unmittelbarer und kontrastreicher. Chailly hat den Ablauf bestens im Griff. Sein Dirigat erfolgt aus dem Geist des Balletts heraus. Die Schwierigkeiten sind wie weggeblasen. Von allen Hemmungen befreit ergibt sich ein enorm leichtfüßiges Spiel, das über weite Strecken das Spiel sogar bei Boulez noch übertrifft, wenn man das rein Virtuose betrachtet. Es wirkt wie befreit. So spielt man beim „Danse de la terre“ ein absolut virtuoses Prestissimo, ultimativ bis zur Extase gesteigert. Von den harmonischen Reibungen spürt man indes viel weniger. Aber glatt wirkt das Spiel auch nicht. Das Blech wirkt strahlend, das Schlagwerk mächtig. Das eruptiv-brillante Spiel begeistert, man einem Kritiker könnte es schon zu leicht und locker wirken. Uns erschien die Subsatnz dahinter jedoch gewichtiger als in  der Maazel-Einspielung fünf Jahre zuvor. Der „Danse sacrale“ wirkt mit dem sehr kurzen und flinken Staccato besonders ausdrucksvoll. Das extatische sich zu Tode tanzen beeindruckt mit Wucht und Schneid. Gegenüber Maazels Produktion für Telarc werden hier die neuen Möglichkeiten der Digital-Technik nicht vordergründig präsentiert sondern bleiben als Mittel zum Zweck im Hintergrund.

Der leicht dumpfe Klang der Berliner Aufnahme nur vier Jahre zuvor ist nun deutlich brillanter. Auch die Dynamik wirkt unkomprimierter als 1981.

Die Aufnahme aus Cleveland lag uns als CD und LP vor. Der Gesamtklang ist von der LP weicher und runder, von der CD etwas dynamischer, das Blech etwas knackiger und das Schlagwerk eruptiver, besonders die Gran Cassa. Beiden gemeinsam ist die enorme Klarheit und die hohe Brillanz. Die frühdigitale Kühle hält sich bei Decca meist im Rahmen, dort hatte man das Problem zumeist schon recht früh im Griff.

▼Weitere Einspielungen von Riccardo Chailly weiter unten.

 

5

Sir Simon Rattle

Berliner Philharmoniker

EMI

2012, Live

15:30  18:14  33:44

In Sir Simons bisher, wahrscheinlich wegen des kommenden 100jährigrn Jubiläums der Uraufführung als vierte von fünf Einspielungen gemacht, erscheint gegenüber den drei vorangegangen der Zugang zum Werk nochmal verfeinert, geschärft und auch etwas vertieft. Sie ist derzeit nicht die letzte, denn auf LSO Live erschien 2017 das Werk auch noch einmal. Sir Simon scheint das Werk sehr zu schätzen.

Das Fagott legt zu Beginn schon fast eine ausdrucksvolle Arie hin, im vollen sonoren Ton, und wie das heute üblich ist, völlig intonationssicher. Dynamisch und artikulatorisch wirkt das Spiel nun nochmals detailgenauer und feiner abgestimmt. Die Stimmen werden auch in ihrem Zusammenhang hervorragend gewichtet. Der Gestus wirkt sehr engagiert. Es wird eine große Spielfreude vermittelt. Belanglos oder glatt wirkt das Spiel der Philharmoniker nie. Vielmehr geprägt von einer souveränen Autorität. Der extrem wuchtige und tief grollende „Danse de la terre“ wird hervorragend gesteigert, als solle sich der Lehm selbst in seiner braunen Eminenz machtvoll erheben, damit er für das ausstehende Opfer empfänglich wird.

Die Introduktion zum zweiten Teil zeigt schillernde Klangfarben, Soli nahe der Vollkommenheit und meisterhafte Übergänge. Das Orchester spielt ebenso fein ziseliert wie urgewaltig und bringt alles noch ein wenig besser auf den Punkt als 2003. Der „Danse sacrale“ profitiert vom augezeichnet exponierten Blech, dem exaltierten Schlagwerk und einem mitreißenden Steigerungsverlauf. Eine wundervolle Einspielung, die bei aller orchestralen Klangschönheit und in feinstem, warmgetönten Klanggewand aber nicht glatt oder unverbindlich wirkt. Und das auch noch Live. Wer auf vorfrühlingshafte Kälte verzichten kann ist mit dieser Einspielung bestens bedient.

Der Klang ist noch etwas plastischer, voller und runder als der der SACD 2003 im Stereo-Modus. Insgesamt können wir uns an einem erwärmenden Klang erfreuen, im Ganzen erheblich schlanken als in den Karajan-Aufnahmen. Die Instrumente und Instrumentengruppen bleiben auch im Tutti noch sehr präsent. Die gute Bassgrundierung vervollständigt das Klangspektrum zum Luxusklang. Der Klang wirkt sehr dynamisch und wuchtiger als in Rattles Aufnahme aus Birmingham. Trotz der wuchtigen Gran Cassa (wuchtiger als beim CBSO) bleibt der Klang ausgewogen.

▼Weitere Einspielungen von Sir Simon Rattle weiter unten in der Liste.

 

5

Stanislav Skrowaczewski

Minnesota Orchestra

Vox

1977

15:08  17:32  32:40

Auch diese Einspielung wurde einmal als Quadro-Aufnahme angeboten. Als LP war sie durch eine sehr schlechte Pressqulität nicht konkurrenzfähig und man war anscheinend nicht in der Lage ihre Qualitäten zu erkennen. Uns lag sie, völlig unscheinbar, als Teil einer vielsagenden Reihe „grosse Komponisten“ vor und um die Mitwirkenden zu verifizieren brauchte man fast eine Lupe.

Wie bei so vielen Analog-Aufnahmen beginnt die Introduktion ziemlich laut, sodass man ein starkes Nutzsignal hatte, um dem Knacken aus den vier Kanälen wirkungsvoll zu begegnen. Die Stereo-Fassung der CD behielt die Abmischung diesbezüglich bei. Das Spiel des Orchesters wirkt jedoch plastischer als in der Aufnahme mit Eiji Oue 20 Jahre später auf Reference Recordings. Auch der Ausdruck der individuellen Soli wirkt vertieft. Auch im Gestus steht Skrowa, wie der polnische Dirigent von seinen Fans wahrscheinlich vor allem wegen seines schwierigen Namens von seinen Fans genannt wird, dem feurigen Dorati naher als Oue. Er wirkt auffallend organisch, nicht so extrem wie bei Dorati und absolut nicht so trocken wie bei Oue.Schon der Tanz der Jungfrauen überzeugt mit einer teils beschwingten Gangart, teils mit dringlichem Impetus. Bei Zf. 48 gelingt das Sostenuto e pesante mit mehr nachhaltigem Gewicht als bei Oue. Die Solisten bringen ihre meist einfachen Soli mit den bewusst kurzen Primitiv-Melodien  schön frei und gesanglich. Überhaupt wirkt das Orchesterspiel geschmeidiger als bei Dorati und Oue, die Anweisungen werden apart oder abrupt umgesetzt, je nachdem was die Partitur verlangt. Die Strahlkraft des Blechs (auch der Hörner) ist immer noch ausgezeichnet, wenngleich sie bei Skrowa nicht so sehr wie bei Dorati genötigt werden, auch noch „ihr letztes Hemd“ an Ausdruck und Kraft zu geben. Die Tempi sind stabil und ausgesprochen kontrastreich. Molto Allegro oder Vivo kommen werden deutlich und mitreißend herausgearbeitet. Der „Danse de la terre“ erreicht fast den Meilenstein Markevitchs.

Die Introduktion zum zweiten Teil wirkt bildhafter und bewegter als bei den allermeisten Einspielungen. Boulez ähnlich geht Skrowa genau und nachdrücklich auf die Harmonien ein, lässt sie tüchtig reiben, hebt aber auch durch den vollen und weichen Analog-Klang die harte, kalte und abweisende Wirkung zum Teil wieder auf. Ohne schwelgerisch zu werden klingt das Orchester bei Skrowa einfach toll, besonders spannend und lebendig. Auch detailreich, ausdrucksfreudig, wie beseelt, was der Komosition nach so vielen trockenen Einspielungen eifach sehr gut bekommt. Dies Einspielung wirkt musikantischer als die allermeisten. Bei Zf. 138 kommen die Hörner plastisch und mit viel Nachdruck durch und setzen sich, wie es das ffdf gebietet über den Rest des Orchesters. Auch der „Danse sacrale“, der komplexeste Teil des Werkes wird flüssig, vorantreibend, ja konvulsivisch und absolut mitreißend gespielt. Dies ist ein hervorragender Beitrag von echten Könnern. Ein längst vergessenes Juwel der Diskographie.

Die chronologisch dritte (uns bekannte) Einspielung klingt mit ihrem leichten Rauschen sehr präsent, weich, gerundet und klar. Die Farbgebung brigt die warmen Farben besser zur Geltung als bei Dorati und Oue, dessen Einspielung aus dem Jahr 1996 datiert.  Mit  ihrem platischen, besonders körperhaften und unmittelbaren Klang spricht sie uns aus dem Herzen. Auch die Violinen profitieren ungemein. Die Gran Cassa steht allerdings weit hinter der elementaren Wucht bei Oue zurück. Sie donnert aber immer noch mehr als ausreichend.

 

5

Igor Strawinsky

Columbia Symphony Orchestra

CBS-Sony

1960

14:41  16:45  31:26

Auch von Strawinsky selbst existieren einige Einspielungen, angefangen 1929 mit seiner ersten Pariser Aufnahme, die er sofort in Angriff nahm als er hörte, dass Monteux die erste Aufnahme überhaupt in Angriff nahm. Damals konnte noch nicht geschnitten werden, sodass es nicht verwundern kann, dass er in den Vierzigern das Werk, nun erstmalig mit der Möglichkeit zum Schnitt erneut aufnahm. Sein letztes Wort in Sachen „Sacre“- Aufnahmen ist die hier vorliegende Einspielung, die er im Alter von 78 Jahren in New York vornahm. Wie immer ging es Strawinsky darum, anderen Dirigenten und natürlich seinen Hörern zu zeigen, wie er das Werk gespielt haben möchte. Ziel war es also immer, die Referenzaufnahme zu erstellen. Inwieweit sein Adlatus Robert Craft ihm die Probenarbeit dabei abnahm entzieht sich unserer Kenntnis. Es ist eine insgesamt zügige Wiedergabe geworden mit einem hart und trocken wirkenden Holz und sehr gut akzentuiertem Blech. Da es anzunehmen ist, dass ihm die Crème der New Yorker Orchestermusiker zur Verfügung stand, darf man annehmen, dass es ihm nicht darum ging, die letzten „Schönheiten“ aus jedem Solo herauszukitzeln, sondern, dass ihm das „schön“ Unkultivierte eigentlich gefiel. Die Steigerungen sind ausgezeichnet getimt. Auf die den Cantabilität der einzelnen Partien (z.B.  Zf. 48) geht er nur lapidar ein. Daraus wird nicht viel „gemacht“, vielmehr lässt er die Komposition aus sicher heraus sprechen. Und nur diese. Ob da nun viel Fleiceh am kompositorischen Gerippe ist, interessiert nicht besonders. Ob das Ergebnis ein anderes geworden wäre, wenn er heute die Berliner oder Amsterdamer geleitet hätte, werden wir leider nie erfahren. Hier noch ein paar, wir hoffen, sachdienliche Notizen:  Die Diktion wirkt extrem kontrastreich, die Es-Klarinette klingt ausgemergelt (Zf. 56), die Phrasierung wirkt sinnfällig und wie selbstverständlich. Wer wollte dabei auch den Komponisten hinterfragen? Die Bedeutung der Gran Cassa wird vollumfänglich realisiert. Das Orchester insgesamt erscheint im Einzelnen fein auseinander abgestimmt, was bei einem Adhoc-Orchester eine prima Leistung bedeutet. Im „Danse de la terre“ wirkt das Schlagwerk recht zurückhaltend, das Blech bevorzugt, das Tempo eher zurückhaltend, der Rhythmus dafür herausgestellt und sehr präzise. Wir glauben nicht, dass, wie in unserem Werkhintergrund angedeutet Strawinsky in Sachen Rhythmus nicht bis drei zählen konnte, wie es kolportiert wird. Vielmehr sollte man sich fragen, welcher Dirigent sich mit 78 überhaupt noch an den „Sacre“ herantraut, um die Leistung hier einigermaßen zu beurteilen.

Die Introduktion zum zweiten Teil ist spannend gelungen, auch nicht so laut wie bei Craft, bei hervorragender Präsenz. Strawinsky ist hier einer der detailreichsten Dirigenten überhaupt. Bei Zf. 90 kommt das Vorrecht der Bassklarinette (p) gegenüber den Hörnern (pp) besser gehört zu werden voll zum Zuge. Strawinsky geht in dieser Einspielung sehr gewissenhaft mit seiner Partitur um. Die Hörner hat er immer besonders im Focus, jedenfalls klingen sie direkter als üblich, ein Zeichen, dass sie im wichtig sind. Das konnten nicht viele Dirigenten realisieren (was aber auch von der Technik abhängt, aber die könnte man ja auch dazu anhalten). Besonders fällt auch die Akribie im Dynamischen aus. Ff oder fff werden ganz deutlich unterschieden. Bei Zf. 129 beginnen viel zu schleppen, bei Strawinsky klingt es beschwingt. Auch im gefürchteten „Danse sacrale“ hörten wie keinerlei Probleme mit dem Rhythmus, andere mühen sich da viel mehr ab. Strawinsky erzeugt ordentlich Druck. Hervorragende Steigerungsverläufe. Die Hörnerglissandi (Zf. 177) sind viel deutlicher als sonst. Die Gran Cassa kommt nun etwas schwach durch, die Pauke, die sonst eher benachteiligt wird hingegen sehr gut. Das Tam-Tam ist auch beim Komponisten nur schwach zu hören. Insgesamt wird ein extatischer Taumel erreicht. Wir können nur schreiben: Selbstgesetzte Aufgabe erfüllt, „Referenzklasse“ erreicht. Dass Strawinsky ein „schlechter Dirigent“ (Ansermet) wäre, wird wie schon bei der „Sinfonie in drei Sätzen“ erneut eindrucksvoll widerlegt.

Die Aufnahme wirkt trocken, da man auf Raumklang nahezu gänzlich verzichtet. Die Transparenz wird dadurch nochmals gefördert, worauf es Strawinsky offensichtlich besonders ankam. Dennoch hören wie eine gute Tiefenstaffelung. Die Gran Cassa wir nicht vernachlässigt, die Hörner sind wunderbar präsent. Das Schlagwerk tönt zumeist saftig und knackig. Gut war auch die Entscheidung, die Hörner (links) und die Trompeten und Posaunen (rechts) räumlich zu trennen. Man erreichte eine ausgezeichnete Äquilibristik. Der Gesamtklang wirkt alles andere als impressionistisch, aber auch nicht besonders karg oder nüchtern. Andere bieten allerdings einen sinnlicheren Klang.

 

5

Mariss Jansons

Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München

BR Klassik

2009, Live

16:29  17:57  34:26

Diese CD war als 2010 Geschenk für die Abonnenten gedacht. 2017 kam eine offizielle CD, nun ergänzt mit der Feuervogel-Suite auf den Markt. Es ist anzunehmen, aber von uns nicht verifiziert, dass auf dieser CD dieselbe Aufnahme Verwendung fand. Gegenüber der früheren Aufnahme aus Oslo erreicht das Orchesterspiel nun ein höheres Niveau und die Aufnahmetechnik hat sich ebenfalls verbessert. Aber (kaum) ein Gewinn ohne Verlust: Die frischen Tempi und der jugendliche Überschwang aus Oslo sind ein wenig verloren gegangen. Die Aufnahme wurde im Münchner Gasteig an einem Abend gemacht. Das legt die Vermutung nahe, dass nicht geschnitten wurde. Umso ehrfürchtiger sollte man die gebotene höchste Perfektion des Orchesterspiels bewundern. Gegenüber Oslo beginnt das Fagott mit betörendem Klang und spielt mit etwas mehr Rubato. Das ist übrigens die einzige Stelle, an der Strawinsky ein Tempo rubato vorschreibt. Die Akustik des Gasteigs hat auf die bestechende Transparenz der Orchesterstrukturen keinen negativen Einfluß. Das Schlagwerk wird nicht mehr so beiläufig verwendet wie in Oslo. Die Hörner sind nun viel präsenter, ein Zeichen mehr, wie gut die Techniker des BR die Akustik mittlerweile im Griff haben. Wenn man sich die Live-Aufnahmen von Karajan (BBC) oder Solti vergegenwärtigt ist der Unterschied gewaltig. Das Molto allegro ab Zf. 57 wirkt nun nicht mehr so ungestüm wie noch in Oslo. Der musikalische Gestus entspricht eher den der Amsterdamer Einspielung ein paar Jahr zuvor. On da einem Sicherheitsaspekt genüge getan wird? Jedenfalls wirkt dieser Abschnitt nicht mehr so mitreißend.  Der „Danse de la terre“ begeistert noch immer aber nicht mehr mit dem ungestümen Anrennen, sondern mehr mit Klarheit und Brillanz.

Auch die Introduktion zum 2. Teil ist nicht mehr so zügig, entfaltet aber mehr Klangzauber. Die „Cercles mysterieux“ erfreuen hingegen wieder mit ihrem flüssigen, tänzerischen Gestus. Einzelheiten werden besser ausformuliert (z.B. die Pauken-Triolen ab Zf. 121) und in den Gesamtzusammenhang eingebunden. Wie in Oslo hört man die „Zwölftolen“ der Trompete sehr gut heraus (Zf. 134). Im „Danse sacrale“ herrscht nun ein etwas ruhigerer Grundpuls, die Details werden minutiös beachtet (z.B. das Accelerando und crescendo T3. Nach Zf. 166). Hier herrschen eine gespenstische unnachgiebig wirkende Perfektion und Ausweglosigkeit. Überschwänglicher Jubel in München nach dem letzten Akkord.

Der Klang ist ebenfalls sehr transparent aber erheb,ich sonorer, etwas voller und etwas weicher als in Oslo. Das Schlagwerk nun präsenter und dynamischer. Der Streicherklang seidenweich. Das BR-Team hat eine bestechende Ausgewogenheit und Klarheit des ehemals so gefürchteten Aufnahmeraumes erzielt. Auch gegenüber der Aufnahme aus dem Concertgebouw wirkt der Orchesterklang noch ein wenig transparenter und besser durchgezeichnet. Die spezielle süffige Aura oder Sinnlichkeit erreicht man in München jedoch nicht.

▼Eine weitere Einspielung von Mariss Jansons weiter unten in der Liste.

 

5

Otmar Suitner

Staatskapelle Dresden

Eterna

1964

16:43  18:32  35:15

Otmar Suitner und die Staatskapelle hätte man im Jahr 1964 nicht unbedingt so weit vorne in der Liste erwartet und vor allem nicht unbedingt so weit vor dem anderen Österreicher Herbert von Karajan, dessen erste Aufnahme übrigens im gleichen Jahr, also nach dem 50järigen Jubiläum der Uraufführung, fertiggestellt wurde. Mit den rhythmischen Problemen scheint man damals in Dresden besser fertiggeworden zu sein. Der Zugang Suitners empfanden wir sogar als erfrischend. Zu Beginn ist man überrascht wie nah das Fagott vor dem Hörer sein Solo intoniert. Erfreut waren wir darüber, wie unmittelbar präsent und urgewaltig die Hörner ihre sf ab Zf. 13 in den Hör-Raum schmettern. Schon jetzt war klar, dass der volkseigene Betrieb auch bei der Aufnahme des dieses Mal 110-köpfigem Orchesters wieder ganze Arbeit geleistet hat. Suitners Tempo ist zwar mäßig schnell, es kommt aber zu einem flüssigen Musizieren in höchster Konzentration, nur ganz vereinzelt etwas ungelenk. Keine Spur von irgendwelchen Schwierigkeiten. Der Gestus ist frisch und unmittelbar. Es gibt ausgesprochen temperamentvolle, dynamische Entladungen. Das Blech scheint die knackigen Strawinsky-Rhythmen mit Spaß am Spiel herauszuschleudern. Von den dahinterstehenden Mühen gibt es keine Spur mehr zu hören. Vielmehr fragt man sich, ob die Staatskapelle jemals etwas anders gespielt hat als Strawinsky? Jedwede Glätte wird vermieden. Die Kapelle bewahrt sich eine gewissen rauen, ungebärdigen und kraftvollen aber auch geradlinigen Ausdruck. Sie schont sich und die Zuhörer keineswegs. Der „Danse de la terre“ bringt die sf wie Entladungen, das Spiel des ganzen Orchesters wirkt ungeheuer leidenschaftlich, vor allem die Hörner geben alles. Bewundernswert.

In der Introduktion zum 2. Teil, erneut recht laut (es würde im Konzertsaal einem mf entsprechen, sollte aber ein pp sein), wirkt die Musik atmosphärisch, farbig und plastisch. Die Hörner bringen die Fernwirkung kongenial („trés lointain“, bei Zf. 89). Bei Vivo (Zf. 104) wird der Rhythmus auch scharf skandiert. Bei Zf. 132 werden die „Zwölftolen“ der Trompete leider nicht hörbar, instrumental und orchestral bleiben ansonsten keine Wünsche offen. Im „Danse sacrale „hat Suitner die Probleme, die Rhythmen im richtigen Takt zu dirigieren offenbar besser gelöst als Karajan in seiner Aufnahme im gleichen Jahr. Der letzte Tanz des Stückes und „Die Auserwählte“, so der Untertitel, klingt eruptiv. Das Blech wächst teils über sich hinaus, sodass man fast schon „exorbitant“ schreiben könnte. Suitner hat mehr die große Linie im Auge, ist nicht so detailaffektiert wie z.B. Jansons zuvor. Man bekommt dafür eine Extra-Portion Spannung geliefert. Die Lesart ist nicht schnell aber zügig genug um keine Sekunde davon missen zu wollen.

Die Aufnahme verfügt über einen enorm hohen Aufsprechpegel, sodass man den Regler aufsuchen muss, um das Gehör nicht zu gefährden. Sie rauscht kaum, ist transparent, sodass man schon an Doratis Mercury erinnert wird. Allerdings ist der Dresdner Klang erheblich fülliger und geschmeidiger. Die Dynamik wirkt urwüchsig und frisch. Tief, gut gestaffelt und sehr körperhaft. Die Violinen verfügen über viel Schmelz. Das Ganze wirkt unverzerrt und höllisch laut. Insgesamt wirkt auch der Klang der DG-Aufnahme mit Karajan aus demselben Jahr überlegen.

 

5

Karel Ancerl

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon

1963

14:53  17:26  32:19

Dies ist noch eine Einspielung, die im Zuge des 50. Jahrestages der Uraufführung entstanden ist. Das Fagott erhält in seinem Solo zu Beginn eine ausgesprochen sehnsuchtsvolle Note. Die Es-Klarinette kommt laut und schräg heraus (3.T. nach Zf. 9). Die Akzente wie z.B. die ssf werden schärfer, die Marcati massiver gesetzt als z.B. in der Einspielung Abbados. Die Dynamik wird durchaus drastisch gehandhabt.  Der Spannungsfaktor ist generell sehr hoch. Die Steigerungsverläufe profitieren besonders vom vorantreibenden Gestus. Das Orchester spielt nicht ganz so präzise wie Abbados LSO, aber aufgeraut und urwüchsig. Die Ratschgurke (Guero) wird leider noch nicht einmal als Klangfarbe erkennbar. Vielleicht hatte man gerade keine zur Hand?

Die Einleitung zum 2. Teil wirkt klangvoller und präsenter als bei Abbado, dessen Aufnahme unter einer unausgewogenen Klangtechnik leidet (davon später mehr).  Kein Detail geht bei Ancerl verloren, besonders auch in den verhaltenen Passagen. Die schnellen (z.B. Vivo oder Allego molto) werden besonders mitreißend gestaltet und darf man als die Spezialität der Einspielung benennen. Anscheinend hat man sehr gut geprobt denn das Orchester zeigt einem wie selbstverständlichen Umgang mit dem Werk. Die Anweisung „Pavillon en l´air“ zeigt bei Ancerl ganz besonderen Erfolg (fff der Hörner 1 Takt nach Zf. 138). Der „Danse sacrale“ erhält einen klaren Aufbau und wirkt extrem impulsiv mit einem nie nachlassenden Impetus und kräftigen Synkopen. Das Blech klingt knackig und bissig. Die Entäußerung des Mädchens wird sinnfällig, die beteiligten Urgewalten spürbar. Gänsehaut pur.

Der Klang hinkt der musikalischen Darstellung ein wenig hinterher. Analogtypisch rauscht es ein wenig. Die Transparenz ist ausgezeichnet die Tiefenstaffelung relativ gering. Die Dynamik nutzt das damals bei Supraphon machbare bis zur Grenze aus. Der Gesamtklang wirkt z.B. voller als 1975 bei der DG in der Aufnahme mit Abbado. Frisch und unmittelbar. Keinerlei Ansatz von Patina.

 

5

René Leibowitz

London Festival Orchestra

Chesky

1960

16:49  18:30  35:19

Das London Festival Orchestra war damals ein von Decca speziell für Schallplattenaufnahmen zusammengezogenes Orchester, ähnlich wie das Columbia Symphony Orchestra für CBS. Diese Mal wurde wieder, wie bereits von der Einspielung der „Alpensinfonie“ Kempes mit dem Royal Philharmonic von Decca im Auftrag der RCA aufgenommen, die ihrerseits den „Reader´s Digest“-Buchclub zu bedienen hatte. Und auch diesmal wurde als Tonmeister Kenneth Wilkinson eingesetzt. Davon profitiert auch diese Aufnahme, doch zum Klang später mehr.

René Leibowitz war eher ein Anhänger der „Neuen Wiener Schule“ um Schönberg, Berg und Webern. Man kann es heute kaum glauben, aber Strawinsky war eine Art Feindbild für diese Gruppe gewesen. Ähnlich wie zur Liszt- und Brahms-Zeit die Komponisten die Programmmusik schrieben und die, die sogenannte „absolute“ Musik schrieben zeitweise erbitterte Gegner waren. Die Zukunft relativiert manch einen Konflikt der Gegenwart als kleinkariert. Leibowitz jedoch war für beide Seiten offen und brachte als hellsichtiger Orchesterleiter eine hervorragende Einspielung des „Sacre“ in die Diskographie ein.

Die vorgegebenen Tempi sind nicht schnell neigen aber auch durch das schlanke Spiel und die detailreiche klare Artikulation nie zum schleppen. Deutlichkeit ist on dieser Lesart einer der Trümpfe. Ein Beispiel: Bei Zf. 25 schleicht sich das Horn wie von draußen herein („mais en dehors“), ein Detail, das von fast allen übergangen wird. Das Orchester erreicht nicht die Präzision des vorgenannten Berliner, Amsterdamer oder Cleveländer Orchesters, auch den Feinschliff und den edlen Ton lässt es noch vermissen, gleicht darin der Eigenaufnahme des Komponisten. Ein glanzvoll gelackter Ton und ein entsprechender stromlinienförmiger Gestus ist die Sache dieser Einspielung nicht.  Der Gestus ist in etwas zwischen Markevitch und Strawinsky anzusiedeln, nicht ganz so extatisch wie der erste aber emotionaler und genauso klar und fast so trocken wie der zweite. Der “Danse de la terre“ hat dramatische Wucht.

Die Introduktion zum zweiten Teil wird zu einem schillernden Erlebnis, wirkt besonders transparent und hell, scheint solchermaßen nicht mehr in der Nacht zu spielen. Man hat entsprechende große Lagerfeuer angezündet, sodass das Stimmengeflecht quasi taghell erleuchtet wird. Dissonanzen werden ähnlich der ersten Boulez-Aufnahmen ungeschönt ausgespielt. Höchste Detailakribie auch im 2. Teil: Auch die 12-Tolen bei Zf. 132 werden gut hörbar. Eine gewisse intellektuelle Klarheit durchweht diese Wiedergabe. Das wirkt sich nolens volens aber auch auf die Emotionalität aus. Alleine die gestochen scharfe Artikulation, bei nicht immer perfekter Ausführung macht die Qual beim Tanz in den Tod besonders deutlich. Auch hier werden die Stimmen der acht Hörner besonders gut ausgehört und man kann ermessen wie bei vielen anderen geschummelt wird. Das ganze Orchester erzeugt konvulsivische Zuckungen, wirkt mitunter selbst ein wenig gequält. Der letzte Akkord ist nicht nur schwer wie ein Fallbeil sondern auch so scharf.

Der Klang trägt die typische Decca-Handschrift des Meisters. Da das Remastering von Chesky aber schon in den achtziger Jahren erfolgte, wäre da heute sicher noch mehr rauszuholen. Aber auch so wirkt er bei leichtem Rauschen extrem weit aufgefächert, offen und körperhaft. Er wirkt dreidimensional und transparent, aber auch präsent. Die einzelnen Schallquellen verlieren sich nicht im Raum wie bei vielen Einspielungen in den 90er Jahren. Auch der Bassbereich wirkt präzise und klar. Die Gran Cassa erhält viel Substanz und Druck, was jedoch bei Leibowitz selten voll ausgespielt wird. Der Gesamtklang wirkt nicht so warm, voll und rund wie z.B. bei Karajan 1977, sondern viel heller, schlanker, aber keinesfalls steril. Klanglich steht die Chesky-Produktion mittlerweile hinter moderneren Produktionen ein wenig zurück.

 

 

 

4-5

Benjamin Zander

Boston Philharmonic Orchestra

IMP

1990, Live

16:47  18:07  34:54

Der Dirigent Benjamin Zander ist vor allem mit seinen Einspielungen von Mahler-Sinfonien mit dem Philharmonia Orchestra London für das Label Telarc bekannt geworden. Das Boston Philharmonic Orchestra, nicht zu verwechseln mit dem Boston Symphony Orchestra, ist ein halbprofessionelles (Amateure, Studenten und Profis) Orchester, das 1979 gegründet wurde. Seitdem ist Herr Zander sein Musikdirektor, bis heute. Die Aufnahme besteht aus einem Mitschnitt eines einzigen Konzertes, also ohne Netz und doppelten Boden. Nur zu Beginn klingen die Soli nicht ganz so sattelfest wie bei den besten, aber wenn man sich erst einmal warm gespielt hat hören wir: Profiqualität. Auffallend ist, dass Zander immer ein Auge für die Basslinie hat, nicht nur auf die Kontrabässe auch auf die entsprechenden Bläser. Das Blech spielt überaus schlagkräftig und wirkt besonders motiviert, vor allem die Trompeten aber auch die Hörner. Die Darbietung wirkt überaus stringent und kontrastreich. Das Spiel wird getragen vom Enthusiasmus des ganzen Orchesters. Mit zunehmender Spieldauer wird sein Spiel immer selbstbewusster und griffiger. Der „Danse de la terre“ bekommt so die Durchschlagskraft einer galoppierenden Horde Wasserbüffel.

Im zweiten Teil sind die Solobläser bereits sehr sicher, nur ein Hornkieksen ist mal zu vernehmen. Das Vivo (Zf. 104) wirkt mitreißend. Bei Zf. 138 fragt man sich , wo man wohl sonst noch acht so parchtvoll klingende Hörner hören kann, die keine Profis sind? Das Orchester muss sehr fleißig geprobt habe und kann locker mit dem Dudamels mithalten. Die Ohren legt man dann beim anschließenden „Danse sacrale“ an, bei dem Zander ein höllisches Tempo anschlägt. Was für ein Wagnis dies in diesem Tempo bei dieser Schwierigkeit durchzuhalten. Die Sorge sich aber als unbegründet, es gelingt auf absolut begeisternde Art und Weide. Der Strahl von Trompeten und Posaunen ist nur mit enormem Enthusiasmus erklärbar. Der sagenhafte Drive enthusiasmiert auch die Hörer im Konzert und im Hörsessel. Niemand dürfte sich über den frenetischen Jubel wundern, der da in Boston losbricht.

Klanglich erleben wir ebenfalls eine echte Live-Situation mit reichlich „Atmosphäre“ bei den leisen Passagen. Das Orchester wird direkt und präsent festgehalten. Die Gran Cassa klingt sehr mächtig. Im Ganzen wirkt die Einspielung dynamisch, es fehlt ihr jedoch ein wenig weiche Fülle und etwas Glanz.

 

4-5

Jukka-Pekka Saraste

BBC Symphony Orchestra London

BBC Music

1998, Live

15:37  16:25  32:02

Bei diesem Konzertmitschnitt aus London erklingt die Einleitung bestechend transparent und differenziert. Das Orchester ist bestens vorbereitet und sehr gut aufgelegt, sodass man einer sachlich bis akribisch genauen Partitur-Auslegung beiwohnen kann. Ohne Exzesse in Dynamik oder Artikulation. Es klingt ein wenig nach britischem Understatement, was aber wahrscheinlich eher von der distinguiert-zurückhaltenden Aufnahmetechnik herrühren dürfte. Nur selten gestattet sich der Dirigent einmal ein klein wenig zu romantisieren, was nur erwähnenswert ist da sein Blick auf das Ganze einen sehr guten, stringenten Verlauf gewährleistet. Saraste versteht sein Handwerk. Seine Interpretation erinnert stark an die Salonens, nur dass Saraste eben ein kein wenig freier mit dem Tempo umgeht, aber wirklich nur ein klein wenig. Das Blech erfreut immer wieder mit gelungenen Einsätzen, sorgt so für die besonderen „Sahnehäubchen“. Obwohl das für den „Sacre“ ein gänzlich unpassender Begriff ist, hoffen wir doch, uns verständlich gemacht zu haben. Ein kleiner Kritikpunkt bleibt: Die Horngruppe agiert über weite Strecken zu zurückhaltend. Insgesamt eine ganz ausgezeichnete Live-Performance aus der Royal Albert Hall anlässlich der Proms. Und was für ein Unterschied zum Gastspiel der Berliner Philharmoniker und Karajan in der Royal Festival Hall 26 Jahre zuvor!

Vom zweiten Teil nur noch ein paar Stichworte: feine Flageolets in der Einleitung, die bsonders zart wirkt, gutes angetriebenes Vivi, bei Zf. 134 sind die „Zwölftolen“ der einzelnen Trompete gut zu hören. Der „Danse sacrale“ wirkt stark angetrieben, dabei geraten die vielen Details nie aus den Augen. Das Orchester agiert glänzend. Völlig zurecht- Begeisterter Jubel in London.

Ähnlich Salonen (Sony), jedoch mit etwas mehr Wärme und weniger glatt in den zurückhaltenden Passagen, dafür nicht ganz so forsch und vorantreibend in den schnellen, dynamischen. Ausgezeichneter Orchesterklang.

Von der Klangperspektive erscheint das Orchester ein klein wenig zu weit in die Tiefe gerückt zu sein, was man in den 90er Jahren gerne gemmacht hat, dennoch wird eine ausgezeichnete Transparenz und eine hervorragende Staffelung abgeliefert. Die Gran Cassa erhält genügend Wucht, es muss keineswegs immer in Exzesse ausarten. Dass die Holzbläser nicht immer ganz so gut durchkommen passt zu dem sehr angenehmen, kaum füllig zu nennenden Sound der Live-Situation in diesem Saal. Die Totale ist hier gefragt, weniger die Spotlights. Der Gesamtklang könnte etwas mehr Bassfundament vertragen (eine Eigenschaft, die man auch von Rundfunkübertragungen in Deutschland kennt. Wenig Publikumsgeräusche, die kaum stören.

 

4-5

Philippe Jordan

Orchestre de l´Opéra National de Paris

Naive

2012

15:31  18:30  34:01

Zu Beginn vernehmen wir eine eindringlich geblasenes Fagott-Solo mit einem an ein Sopransaxophon erinnernden Klang. Das Holz wirkt (nicht nur) in der Introduktion leicht und behände, aber auch eloquent. Das ganze Orchester macht (wie bei „Daphnis et Cloé“) einen hervorragenden Eindruck und spielt völlig schlackenlos.  Die „Auguren“ wirken rasant und ungewöhnlich emotional. Trotz des offensiven Impetus spielen die Pariser Musiker ungewöhnlich schlank und geläufig. Auch hier wollte man im Vorfeld zur 100-Jahr-Feier das Beste bieten. Vielleicht hatte man zurzeit das Stück als Ballett gegeben, was für das Orchester wegen der zahlreichen Aufführungen eine außergewöhnliche „Übungsstrecke“ bedeutete. Das Zusammenspiel wirkt traumhaft sicher, übertrifft sogar noch die Feinheiten des BR mit Jansons. Allerdings wirkt das Spiel demgegenüber etwas weniger explosiv. Bei Zf. 71 fügt man eine ungewöhnlich lange Pause ein (lunga, steht ja auch da), was auf uns spannungsfördernd wirkte.

Die Introduktion zum 2. Teil wirkt dramatisiert, fast deklamiert., also alles andere als die starren Klangflächen, die an den „Ödipus Rex“ (spätere Oper Strawinskys, in der er stilistisch gesehen das griechische Schauspiel portraitiert) erinnern, die frühere Aufnahmen da bieten. Im weiteren Verlauf überraschen die zupackenden Tempi, die man dem gleichzeitig luziden Klang und dem immer noch lockeren Spiel gar nicht abnehmen möchte. Das „Danse sacrale“ wirkt in unseren Ohren (nach so vielen bereits gehörten Einspielungen ein wenig zu langsam. Im Verlauf des Tanzes steigert Jordan das Tempo jedoch effektvoll und durchaus auch mit Biss. Bei Jordan hören wir das Stück bereits als blitzblank polierten Klassiker, dem das archaische zwar etwas abhandengekommen zu sein scheint, dessen  Darbietung aber jede Glätte gerade noch vermeidet und ansonsten in allen Belangen überzeugt.

Die Aufnahme bietet eine holographische Klarheit, ist farbig, dynamisch sehr präsent und äußerst plastisch. Die Textur wirkt ungemein aufgelichtet bis hinab zu den Bässen. Die ein wenig elegante Note steht ein wenig vor der Freisetzung von urgewaltigen Kräften, was nur eine weiter „Spielart“ aber kein Nachteil ist.

 

4-5

Bernard Haitink

Berliner Philharmoniker

Philips

1995

15:25  16:59  32:24

Von Bernard Haitink kennen wir zwei Einspielungen. Der Berliner ging 1973 eine ebenfalls von Philips produzierte sehr respektable Version mit dem London Philharmonic Orchestra voraus. In Berlin gibt es die zügigeren Tempi und das facettenreichere, etwa präzisere und üppiger klingende, aber immer noch schlank geführte Spiel. Das Fagottsolo klingt besonders schön wir kultiviert gespielt. Trotz des üppigeren Klangs erscheint die Transparenz gegenüber 1973 nochmals gesteigert. Zu den beiden Karajan-Versionen aus Berlin kommen wir später noch ausführlich.  Die Hörner zeigen erneut ihre Extraklasse.  Wie bereits in London erfreut Haintinks Lesart durch Lebendigkeit und Musikalität. Insgesamt wirkt dieses Bild aus dem alten Russland mit einem dickeren Pinsel und farbkräftiger gemalt als in London.

Ind Intro zu 2. Teil nimmt Haitink nun deutlich zügiger, was sie weniger statisch aber mindestens noch so geheimnisvoll  und hintergründig erklingen lässt. Staunenswert die besonders leisen aber immer noch substanzreichen p und pp. Die eine oder andere Passage wirkt so geradezu träumerisch oder traumversunken. Das ist nicht zuletzt dem subtilen Spiel der Hörner geschuldet.  Der vordergründige Effekt wird vermieden. Als seltsam empfanden wir in diesem Umfeld die mit mächtigem Vibrato wabernde Altflöte (Zf. 129).  Bei Zf. 134 hören wir keine „Zwölftolen“, aber immerhin die Piccolo-Trompete sehr gut durch.  Auch den „Danse sacrale“ ist nimmt Haitink nun nicht nur zügiger, sondern erheblich schneller im Duktus. Er wirkt so existenzieller und der finale Kreislaufkollaps erst so richtig plausibel. Bei vielen langsamen Schlusstänzen muss man annehmen, dass dem Mädchen in einer der rituellen Handlungen entsprechende Drogen zugeführt wurden. Denn bei manch einem Tempo kann man nur durch Tanzen alleine kaum zu Tode kommen. Das Glissando der Hörner (Zf. 177) klingt klasse. Selbst im infernalischen Getöse gibt es noch feine Nuancen und diffizile Dynamik-Unterschiede zu hören. Das unmittelbar extatische von Dorati oder Markevitch fehlt Haitink im direkten hier noch ein wenig, dazu beliebt es auf höchstem Niveau etwas zu kultiviert.

Die ganz leicht gedeckten Klangfarben und fülligeren, warmen Stimmen geben dem Klangbild einen edlen Charakter. Der Bass kommt wie in so vielen Aufnahmen der Philharmoniker besonders gut zur Geltung. Pauke und Gran Cassa fallen nicht aus dem Orchesterklang heraus. Es herrschen Konzertsaal-Verhältnisse, wobei aber auch auf die Präsenz hinreichend geachtet wird. Eine ernsthafte Aufnahme, die sich wenig zu Showzwecken eignet.

▼Eine weitere Einspielung von Bernard Haitink weiter unten in der Liste.

 

4-5

Riccardo Muti

Philadelphia Orchestra

EMI

1978

15:14  17:30  32:34

CD und LP  Diese Produktion lässt die Introduktion, wie so viele Analog-Einspielungen recht laut loslegen. Das p hört sich an wie ein mf. Das relativiert sich später, denn Muti geht bei den lauteren Passagen richtig in die Vollen.  Sein Gestus steht zwischen forsch und wild. Leider sind nicht alle Soli gleichermaßen gut durchgezeichnet. Ist man aber erst einmal beim „Tanz der jungen Mädchen angelangt“ kommt eine unerbittliche Dynamik ins Spiel, verbunden mit einem gehörigen Drive.  Die Mädchen kommen einem so vor als seien es weniger sanfte, unschuldige Jungfrauen, die ahnungslos in eine Falle laufen (zumindest eine von Ihnen), als ungebärdige Hexen auf ihren feurigen Besen. Ob Strawinsky dieses Bild vor Augen hatte? Seiner Einspielung nach eher nicht. Jedenfalls ist Muti viel daran gelegen, das Stück unter Hochspannung zu setzen. Vorantreibend, energetisch, hart und unerbittlich. Das „Ritual der rivalisierenden Stämme“ wirkt wie ein gewalttätiger Schlagabtausch. Da scheint sich manch einer eine blutige Nase zu holen. Das wird alles unter Hochdruck gesetzt, bleibt aber zumeist motorisch geprägt. Der „Danse de la terre“ punktet mit höchster Virtuosität und der voll ausgenutzten Steigerungsfähigkeit des amerikanischen Top-Orchesters. Es geht richtig zur Sache.

Im 2. Teil setzt sich die überaus ansprechende Lesart fort mit einer recht spannenden, warmen aber gleichermaßen luziden Klanglichkeit. Mitunter kann sich Muti ein Romantisieren nicht ganz verkneifen. Durch die voluminösen Streicher klingt es bisweilen auch ein wenig nach Filmmusik, als ob das Orchester seine Vergangenheit mit Stokowski und Ormandy noch nicht ganz vergessen hätte.  Im „Danse sacrale“ wird dann wieder nicht gekleckert, sondern geklotzt. Völlig frei von Risikobewusstsein scheint Muti hier doch sehr auf äußerste Brillanz aus zu sein, holt aus seinem Orchester aber alles heraus.  Das Crescendo, das da irgendwo mal steht, bezieht Muti auf den ganzen letzten Tanz. Das ist Bruitismus pur und wenn der Plattenspieler nicht von sehr guter Qualität oder auch nur ein kleines Bisschen falsch eingestellt ist, geht es drunter und drüber und man kann dem Zusammenspiel kaum noch folgen. Wenn aber alles in Ordnung ist, klingt es von der LP sogar viel besser als von der CD. Doch davon gleich noch etwas mehr. Mutis Version hat einen eigenständigen Charakter und ist einer der wildesten überhaupt (Markevitch wirkt dabei noch mitreissender). Da er viel eigenen Charakter mit einbringt, wäre sie beim Komponisten wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Ablehnung gestoßen. Wir sollten uns den Spaß daran deshalb aber nicht nehmen lassen.

Generell klingt die Aufnahme sehr dynamisch und wuchtig. Supertransparent ist sie nur in leiseren Partien. Im Tutti geht im fff schon einmal die Kontur ein wenig „flöten“. Der Bassbereich ist prononciert. Die CD ist nicht sonderlich warm timbriert, hat eine gewisse Tendenz zum schrillen.  Die Brilliant-CD ist (dito!) weniger brillant aber etwas geordneter und weniger schneidend. Schon das ff bleibt deutlich konturierter, was genauso wie der voluminösere Gesamtklang auf ein neueres oder besser gelungeneres Remastering hindeuten könnte. Die normale LP von EMI wirkt deutlich entspannter, klarer, ausgewogener und vollmundiger als beide CD-Typen. Man hat die bessere Übersicht und der Klang „flutscht“ viel besser ins Ohr. Schon die normale deutsche EMI-LP ist in diesem Fall die bessere Wahl als die CDs. Wenn man sie noch antiquarisch bekommen kann.  Es geht mit der MFSL-LP aber noch ein wenig klangvoller, d.h. besonders dynamischer, druckvoller und transparenter. Der Gesamtklang ist nun vielleicht aber etwas weniger warm als bei der normalen LP, aber dafür wird man vom Schalldruck der Gran Cassa fast aus dem Sessel gewuchtet, wenn man sich nicht angeschnallt hat. Also lieber, allein der Ohren wegen, nicht zu laut hören.

 

4-5

Riccardo Chailly

Lucerne Festival Orchestra

Decca

2017

15:57  17:39  33:38

32 Jahre nach der Produktion in Cleveland spielt Chailly den „Sacre“ erneut ein. Dieses Mal einem mehr oder weniger Adhoc-Orchester ein, das im Kern aus dem Mahler Chamber Orchestra besteht, ergänzt um einige der besten Musiker im Wesentlichen aus der Schweiz und der näheren Umgebung. Nun erklingt das Fagottsolo mit relativ viel Vibrato, sehr präsent und in Großaufnahme. Das Orchester wirkt nun nicht ganz so geschmeidig, ansatzlos beweglich und leicht wie das Cleveländer, im Solistischen jedoch mindestens ebenso überzeugend.  Es spielt aber immer noch ein hervorragendes Orchester, es soll kein falsches Bild entstehen.  Der Gestus wirkt nicht mehr so fein ziseliert und auch nicht mehr so frisch. Das Prestissimo des „Danse de la terre“ wirkt nicht mehr so transparent. Das Vivo bei Zf. 104 wird noch schneller und stürmischer angelegt, bei Zf. 117 noch mehr Urgewalt entfesselt. Bei Zf. 121 klingt es etwas geheimnisvoller. Im „Danse sacrale“ erfreuen die wunderbaren Marcati des Blechs und die noch massivere, brutalere, aufs Äußerste erregte Fulminanz.

Insgesamt hat die Luzerner Einspielung einen gewissen Hang ins Opulente und das Spiel des Cleveland Orchestra ist einfach lupenreiner.

Klanglich ist die neue Einspielung superpräsent und voller im Klang als die Decca von 1985. Die Abbildung des Orchesters wirkt sehr breit, die Tiefenstaffelung ist für eine der neuesten Aufnahmen enttäuschend flach. Die weite Dynamik spricht dann wieder für 2017.

▼Eine weitere Einspielung von Riccardo Chailly weiter unten in der Liste.

 

4-5

Simon Rattle

City of Birmingham Symphony Orchestra

EMI

1987

15:41  18:44  34:25

10 Jahre nach der ersten Einspielung mit dem Jugendorchester Großbritanniens wirkt das Orchester nun (natürlich) erheblich professioneller. Die Soli werden mit mehr Selbstbewusstsein, akzentuierter uns auch virtuoser vorgetragen. Zu Beginn wirkt das Englischhorn gegenüber dem Fagott etwas zurückgesetzt und alleine etwas eingehallt. Ein unnötiges Mätzchen der Techniker. Es bleibt aber das einzige. Kantabilität kommt (wo möglich) sehr gut zum Tragen. Dadurch wirken die perkussiven Passagen noch kontrastreicher. Der Gestus wirkt lebendig und wirkt lange nicht so steril wie bei Currentzis oder so glatt wie bei Nézet-Seguin. Das ebenso kultivierte Orchester spielt mit jugendlichem Drive und hat sich eine gewisse Entdeckerfreude bewahrt.  Beim „Danse de la terre“ ist das Tam-Tam jetzt leider nicht mehr so schön exponiert wie beim Jugendorchester. Insgesamt spielen die Birminghamer aber mit mehr Biss und Rattle reizt seine neuen Möglichkeiten voll aus.

Die Intro zum 2. Teil klingst ausgesprochen sauber und farbig ohne winterliche Kälte oder gar Eisesstarre. Ein paar minimale Unsauberkeiten im Blech stören nicht weiter. Die Hörner klingen prachtvoll (zf. 134 und 138). Die „Zwölftolen“ der Trompete (1 T. nach Zf. 134) sind hörbar. Auch mir den Profis lässt Rattle den „Danse de la terre“ langsam und bedächtig beginnen. Die Pausen nutzt er sehr gut als Spannungsverstärker. Auch hier begeistern die Hörner., die Rhthmen nommen scharf und exakt. Das ganze Orchester gibt volle Lautstärke. Hier wird sich spannend aber mit Bedacht und sehr gründlich zu Tode getanzt. Den jahrelangen Umgang Rattles mit dem Werk hörte man seinen Einspielungen bereits so früh an. 

Der Klang ist nun präsenter und knackiger aber auch präsenter und runder als 1977. Es wird eine gute Übersicht über das ganze, klar abgebildete Orchester vermittelt und zwar in einem natürlich wirkenden Raum. Die Aufnahme klingt auch dynamischer. Das Schlagwerk klingt wuchtig und etwas hallig. Ein Inferno löst es nicht aus. Insgesamt wirkt die Einspielung klanglich sehr ausgewogen.

▼Eine weitere Einspielung von Simon Rattle weiter unten in der Liste.

 

4-5

Kent Nagano

London Philharmonic Orchestra

Virgin

1990

15:49  18:24  34:13

Kent Nagano bleibt in seiner Einspielung nahe dran an Strawinskys „Muster“. Seine Interpretation wirkt wie eine Collage, wie man heute dazu sagen würde, aus „scherenschnittartigen und kantig zusammengesetzten Bildern“. Die dynamischen Kontraste werden weit ausgereizt, manchmal wirkt sein Zugriff jedoch etwas weniger stringent. Gegenüber Markevitch und Muti hören wir eine deutlich reduzierte Wildheit. Aber Strawinsky pur und mit denkbar wenigen persönlichen Zutaten versehen. Zudem wirkt das Orchester sehr ausgewogen und es spielt leicht, recht locker und mit detailreicher Akkuratesse. Auf bildhafte Weise lässt Nagano die Partitur sprechen.

Die Introduktion zum zweiten Bild wirkt sehr mysteriös, nuanciert, mitunter skrupulös, als gäbe es Gründe Bedenken zu tragen. Die gäbe es tatsächlich. Die Hörner beachten an der betreffenden Stelle sehr schön die Fernwirkung. Der „Danse sacrale“ kommt tänzerisch und ausdrucksvoll, mit hart zupackendem Schlagwerk und konvulsivisch. Seltsamer Weise lässt Nagano die beiden letzten Akkorde so eng ineinanderfließen, dass sie wie ein einziger wirken. Ein Effekt dem sich zwar einige andere Dirigenten anschließen, der sich so jedoch nicht unbedingt aus der Partitur ablesen lässt. Die Partitur wird ansonsten ungemein gekonnt und ohne Übertreibungen, irgendwie sympathisch umgesetzt. Es ist eine Lesart, der man sich gerne anvertraut. Das Werk steht ganz im Vordergrund und damit die Transparenz und die Hörbarmachung kleinster Details ganz oben auf der Agenda. Sie wirkt nach so vielen „überhitzten“ Darbietungen wie eine Wohltat. Leider wirkt sie nicht in jeder Phase stringent genug, zumindest aus der Sicht von Strawinskys „Musterinterpretation“.

Der Klang wirkt sehr sauber und gut austariert, äußerst transparent, detailreich und bestens durchgezeichnet. Kontrast und Dynamik erscheinen uns ebenfalls stimmig.

 

4-5

Colin Davis

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Philips

1976

16:20  18:23  34:43

CD und LP  Außer der hier vorgestellten Einspielung gibt es von Colin Davis noch eine frühere, die er für das gleiche Label 1963 mit dem LSO einspielte. Sie hat es allerdings unseres Wissens nicht ins CD-Zeitalter geschafft, da ihr die Amsterdamer Produktion bisher immer vorgezogen wurde.

Davis gewährt dem Fagott-Solo Rubato-Freiheit. Wird es in der Introduktion dann laut, werden nur noch relativ wenige Strukturen preisgegeben, was die knackige Geräuschhaftigkeit zusätzlich verstärkt. Das Englischhorn wirkt ausdrucksvoll und klagender als sonst, als hätte es bereits eine Vorahnung der kommenden Geschehnisse. Die Oboe klingt noch deutlich heller und offener als bei Jansons, die Es-Klarinette bleibt immer präsent, besonders natürlich im ff.  Auffallend eindringlich ist der Gebrauch der Piccolo-Flöte, die klingt als würde sie gemeine Messerstiche verteilten. Der Gestus wird mit zunehmendem Fortgang immer aufregender, das Orchesterspiel wirkt gleichsam wie mit offenem Visier vorgetragen, distanzlos. Der oft ein wenig zu „wohlgenährte“ Charakter vieler anderer Einspielungen von Colin Davis fehlt beim „Sacre“ völlig. Z.B. auch bei Zf. 53, wo die wild herausfahrenden Schlagzeugakzente so dramatisch und gefährlich wie selten wirken. Gutes Tam-Tam bei Zf. 67. Beim „Danse de la terre“ lassen die Amsterdamer nichts anbrennen, er beginnt etwas langsam wird aber kraftvoll gesteigert und brutal zugespitzt.

Die Introduktion zum zweiten Teil klingt eher impressionistisch brütend als expressionistisch unruhig. Bei Zf. 101 klingen die drei Oboen wirklich einmal gebührend dissonant. Man kann es beschönigen, oder aber wie Davis betonen. Bei Zf. 129 hören wir einmal ein platisches Tambourin durch, die sonst immer von der Pauke zugedeckt wird. Der „Danse sacrale“ wird attraktiv und kompromisslos angepackt. Das ganze Orchester legt sich voll ins Zeug, wirkt noch nicht einmal so sehr auf Genauigkeit gebürstet als auf höchste Kraftentfaltung. Durchdringend und überzeugend.

Der Klang bringt die typische natürlich wirkende Räumlichkeit der Philips-Aufnahmen aus dem Concertgebouw. Voll, rund und warm. Die Staffelung ist ebenfalls überzeugend. Das Holz klingt nicht so dicht und präsent wie z.B. bei Currentzis, Darlington oder Strawinsky. Transprenz stand nicht an erster Stelle der Agenda, ist im Concertgebouw vielleicht auch nicht so leicht hinzubekommen, wie man sogar an der Jansons-SACD noch hören kann. Sehr gute Gran Cassa die nicht übertrieben klingt aber reichhaltig. Die Streicher klingen ein wenig matt. Bei Jansons klingen sie erheblich brillanter und trotzdem noch wärmer. Dynamisch ist der analoge Philips-Klang den besten Digital-Aufnahmen in Hinsicht auf Exlposivität und Spreizung zwiachen ganz leise und ganz laut nicht ganz gewachsen., deshalb auch nicht so gehörschädigend (außer beim „Danse sacrale“).

Die LP klingt noch wärmer, plastischer, runder und klarer als die CD. Der volle Bass macht die Sache perfekt. Die gehörte Pressung war makellos. Eine Aufnahme, die speziell für die eingeschworenen Analog-Fans von höchstem Interesse sein könnte.

 

4-5

Leonard Bernstein

Israel Philharmonic Orchestra

DG

1982

16:04  20:46  36:50

Klanglich und gestisch steht Bernsteins letzte Aufnahme des „Sacre“ wieder näher an seiner ersten von 1958, als an der mittleren von 1972. Das IPO spielt leichter als das LSO (1972), aber milder als das NYPO (1958). Der Ablauf wirkt überzeugend, wirkt aber in unseren Ohren viel elaborierter als 1972. Elf Jahre nach Strawinskys Tod ist die Sicht Bernsteins auf dessen Werk wieder klarer geworden als nur ein Jahr danach.

Die verlängerte Spielzeit resultiert in erster Linie aus der deutlich langsamer genommenen zweiten Introduktion. Dort, wie auch bei den „Cercles mysterieux“ muss man trotz schöner Kantabilität mit einem Spannungsabfall rechnen (je nach eigener Befindlichkeit). Die „Zwölftolen“ der Trompete, eine unserer Prüfsteine für Partitur-Genauigkeit werden sehr deutlich artikuliert. Das Ganze wirkt souverän dirigiert, aber leider nicht mehr so spannend wie 1958. Toll gesteigerter „Danse sacrale“. Der Schlussakkord muss dieses Mal ohne Unterstützung von Zybel, Tam-Tam und Guero aukommen, also reinste 1947er Fassung.

Das moderne, farbige, gut aufgefächerte Klangbild wirkt nicht so transparent wie die 58er CBS-Aufnahme aber viel ausgewogener und natürlicher als die Londoner Einspielung von 1972. Mächtige Gran Cassa.

▼Eine weitere Einspielung von Leonard Bernstein weiter unten in der Liste.

 

4-5

Pierre Boulez

Cleveland Orchestra

DG

1991

15:53  17:23  33:16

Boulez durfte sich für diese Aufnahme dem Vernehmen nach das Orchester aussuchen. Wen wundert es, dass er wieder auf das Orchester von 1969 zurückgekommen ist? Erneut achtet er in besonderem Maß auf die harmonischen Reibungen. Erneut spielt es unter Boulez´ sicherer Hand absolut souverän und brillant und sogar etwas zügiger als 69, aber nicht mehr so forsch wie in seiner Pionieraufnahme zum Werkjubiläum 1963. Größter Unterschied zur 69er: Die Rhythmik ist nun lange nicht mehr so explosiv. Der Gestus nicht mehr so offensiv, sondern sachlicher, gebremster, bedächtiger. Ja sanfter im Ausdruck. Er hat an Dringlichkeit eingebüßt.   Der „Sacre“ ist hier bereits zum Klassiker geworden. Fast schon wie abgeklärt. Das fällt vor allem im dirkter Vergleich auf.

Das Tempo der zweiten Introduktion liegt zwischen dem der 63er und der 69er Einspielung, wirkt jedoch glatter, weniger prägnant und weniger kontrastreich. Boulez scheint nun mehr auf Schönklang aus zu sein. Jedenfalls erhält er ihn, was übrigens nicht nur für die Intro gilt, sondern für die ganze Einspielung. Das Gesamtniveau ist immer noch sehr hoch. Wahrscheinlich käme man zu einer höheren Einordnung, wenn es die 69er nicht gäbe. Der präzise „Danse sacrale“ verbreitet nun mehr Buntheit als Schrecken. Eine abgekühlte Sicht auf die Dinge, nicht nüchtern, mit vielschichtiger Klarheit.

Zum Klang: Gegenüber 69 ist das Orchester ein wenig nach hinten gerückt und nicht mehr so überaus transparent und auch nicht mehr so körperhaft und prall.  Die Gran Cassa hat nun allerdings noch mehr Wucht und die Tiefenstaffelung wirkt ein wenig ausgeprägter. Die Brillanz steht sowohl hinter der 69er als auch hinter der Cleveländer Chailly-Einspielung von 85 zurück., klingt aber etwas voluminöser. Gut aber nicht mehr außergewöhnlich, fällt sie klanglich auch hinter der Einspielung von Blunier ein wenig zurück,

▼Eine weitere Einspielung von Pierre Boulez weiter unten in der Liste.

 

4-5

Claudio Abbado

London Symphony Orchestra

DG

1975

15:23  17:49  33:12

CD und LP Vier Jahre bevor Abbado Chefdirigent des Orchesters wurde entstand bereits diese Produktion. Sie bliebt Abbados einzige.  Ihre Meriten könnten viel besser zur Geltung kommen hätte die Tontechnik einen realistischeren Klang hinbekommen. Ein uns andere Mal wird der brisante Drive des Orchesters vom Klang ausgebremst und die Hörer vom musikalischen Geschehen abgelenkt. Fangen wir mit der Es-Klarinette an die trozu ihren lautalsen ff (3 T. nach Zf. 9) nicht richtig herauskommt. Das ssf  am Ende der „Augures printanières“ spiel das Orchetser sehr wohl dynamisch auf, wird aber von der technik eingeebnet. Das LSO spielt wie ein Kammerorchester locker und sehr transparent und glänzt im Prinzip mit hervorragendem Spiel. Das Vivo bei Zf. 49 kommt überragend. Die Hörner spielen gut, das Holz bekommt mitunter eine „Halo-Aura“ verpasst, scheint wie in einem anderen Raum zu spielen. Vielleicht hat auch der Schnitt versagt und Takes zusammengeschnitten, die nicht zusammenpassen. Der „Danse de la terre“ macht das Dilemma auch wieder deutlich: Das Tempo stimmt und es wird richtig wild gespielt, aber es kommt nur als ein laues Lüftchen an. Und wo ist die Gran Cassa? Sie hätte hier permanent Einsatz. Sie versteckt sich wohl hinter der Pauke.

Auch der zweite Teil wird klanglich wenig überzeugend umgesetzt. Es wird einfach zu wenig Energie freigesetzt. Daher als etwas zu leichtgewichtig empfunden. Abbado und dem Orchester hingegen kann man nichts Schlechtes nachsagen. Sie schauen sehr genau hin und spielen sehr temperamentvoll.

Der Klang bietet genau fokussierte Instrumente, gut in die Breite aber wenig in die Tiefe hinein gestaffelt. Es herrscht nicht immer die gleiche Perspektive (Holzbläser), Die Streicher (resp. Die Violinen) klingen ziemlich dünn. Die Dynamik wirkt eingebremst. Das Blech ist nicht immer gleich präsent. Der Gesamtklang wirkt trocken und stumpf. Es fehlt auch die Wucht und das tiefe Fundament. Insgesamt wenig eruptiv. Der Klang alleine hätte nur ein 3-4 verdient gehabt. Etwas besser klingt die LP. Sie bringt etwas mehr Attacke und Klangfarbe ins trockene Ambiente, bleibt aber auch seltsam kühl und klingt wenig vollmundig, aber wie die CD transparent.

 

4-5

David Zinman

Tonhalle Orchester Zürich

RCA

2013, Rekonstruktion der Fassung von 1913

16:21  18:42  35:03 

 

2013, Fassung von 1947 (1967)

16:04  18:36  34:40

David Zinman und dem Tonhalle Orchester Zürich gebührt das Verdienst als einzige die beiden interessantesten Fassungen des „Sacre“ vorgelegt zu haben. Da die beiden Fassungen in einem Set vereinigt sind, kann man sie ohne weiteres miteinander vergleichen. Auf die Unterschiede der beiden Fassungen selbst sind wir bereits im „Hintergrund“ ein wenig eingegangen, sodass wir nun insbesondere die Lesart des Dirigenten in den Vergleich setzen wollen. Da die Einspielungen beider Fassungen sehr leise klingen, ist es zunächst erforderlich den Lautstärkeregler zu bemühen, damit die Aufnahme nicht allzu „flach“, entfernt und „läppisch“ klingt.

Zinman war in den letzten Lebensjahren Pierre Monteuxs dessen Assistent und man wird bei der Lektüre des CD-Booklets reichlich mit Informationen aus erster Hand versorgt. Das heißt, eigentlich ja schon aus zweiter Hand. Zu den letzten Arbeiten Zinmans für Monteux gehörte die Vorbereitung des Jubiläumskonzertes anlässlich des 50. Jahrestages der Uraufführung des „Sacre“ mit dem London Symphony Orchestra 1963. Monteux konnte diese Konzerte dann nicht mehr dirigieren.

Der Vortrag der beiden Versionen wirkt zu Beginn recht frei, aber im Gestus zurückhaltend, gar gebremst. Objektiv und äußerst gewissenhaft. Das ff des Orchesters wirkt noch recht lau. Insgesamt gleicht das Spiel des Orchesters einem Schweizer Uhrwerk. Präzise, fast makellos. Zugleich artikulatorisch schlank als auch opulent im Klanglichen. Eine teilweise betörende Verbindung. Funken werden jedoch kaum aus den Partituren geschlagen. Den mehr lyrischen Abschnitten kommt diese nachhaltige, gründliche Lesart sehr zugute, sie wirken so fein ziseliert und poetisch. Das exzellente aber zurückhaltende Spiel und die vorgelegte Gangart nimmt dem „Sacre“ viel Dramatik und betont das statuarische. Der Rhythmus prickelt weniger, es wirkt dazu etwas zu streng und ordentlich. Der musikgeschichtliche Aufbruch (insbesondere die „Absolution“ des Rhythmus), das Revolutionäre wird viel weniger vermittelt als in stürmischeren Einspielungen. Der „Danse de la terre“ vermittelt trotz des objektiv schnellen Tempos weder Rasanz noch Extase, sondern wirkt entschärft uns schwerfällig.

Die „Mystic cercles“ treten gefühlt fast auf der Stelle. Wir hören sehr gute Einzelleistungen der Orchestergruppen, die für sich genommen keine Wünsche offenlassen. Der „Danse sacrale“ bekommt, wie bei Urbanski ein betuliches, risikoscheues Tempo, bei dem erneut sehr sorgfältig nuanciert wird. Das Tam-Tam wirkt in der 47er Fassung innerhalb des Schlagwerks dominierend, was dem existenziellen Tanz ein gewisses exotisches Flair gibt.

Der Klang tönt weich und sehr räumlich, aber gedeckt und er bewegt sich am Rande zur Opulenz. Er wirkt sehr wenig dynamisch und eher wenig packend oder gar bissig. Einzig die Gran Cassa und das Tam-Tam durchbrechen den uns etwas zu heimeligen Gesamtklang.

 

Die Fassung von 1913 klingt dagegen dynamischer, akzentuierter und auch präsenter.

Die Änderungen wirken zumeist eher modifizierend und sollten (neben der Etablierung eines wirksamen Urheberrechtes vor allem in den USA) insbesondere für eine rhythmische und artikulatorische Vereinfachung sorgen, aber ohne Verlust an der Substanz. Über weite Strecken sind keine Unterschiede zu hören. Änderungen betreffen vor allem die Introduktion zum ersten Teil, bei der wir 1913 noch ein paar Takte mehr hören dürfen. Warum sie später verschwunden sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Ein paar Soli enden noch ein wenig anders. Weitere starke Änderungen betreffen den „Danse sacrale“ der rhythmisch noch ein wenig diffiziler ist und fast unzumutbare Spielanweisungen für verschiedene Instrumente gleichzeitig fordert.

Das Spiel des Orchesters in dieser 1913er Fassung kam uns etwas beherzter vor. Das Legato wird inbrünstig ausgespielt. Bei aller Klarheit verzichtet Zinman nicht auf etwas klangliche Romantik, die bei Strawinsky selbst kaum vorstellbar wäre. Vielleicht hört man daran auch noch seine Jahre bei Monteux? Das Pesante wirkt schwerer, da die Bässe stärker betont werden. Auch die Gran Cassa klingt ausdrucksstärker. Insgesamt wirkt das Spiel ausdrucksvoller, die Rhythmik zuweilen etwas weicher als üblich. Auch das Staccato wirkt nicht übermäßig „punktuell“.  Der „Danse de la terre“ erhält eine lehmige Schwere, woran auch die hohe Geschwindigkeit wenig ändert.

Der 2. Teil wirkt ebenso subtil wie in der 49er Fassung, aber lebendiger. Große Unterschiede ergeben sich im „Danse sacrale“, der erneut sehr kontrolliert wirkt, aber etwas dynamischer und energischer gespielt erscheint. Bei Roth werden die Effekte noch pointierter herausgearbeitet. Bei Zinman hört man die rhythmischen Schwierigkeiten noch ein wenig durch.

Zinmans Doppel-CD-Ausgabe ist besonders aus philologischer Sicht ergiebig, bietet sie doch als einzige Veröffentlichung den direkten Vergleich der ersten und der letzten Fassung des „Sacre“. Aus diesem Blickwinkel hätte sie sogar eine 5 verdient. Musikalisch gibt es mitreißendere, aber kaum gewissenhaftere Einspielungen.

 

4-5

Zubin Mehta

New York Philharmonic Orchestra

CBS–Sony

16:22  17:53  34:15

1977

 

Teldec

1990

16:15  17:48  34:03

Von Zubin Mehta sind wie bereits von Bernstein, Boulez, Chailly und Dorati drei Einspielungen bekannt geworden. Dier erste mit dem LAPO von 1969 (Decca) liegt uns leider nicht vor. Die beiden übrigen in New York, die erste davon zu seinem Einstand als Chef der Philharmoniker bei CBS. Auch hier ursprünglich eine Quadro-Aufnahme, die man derzeit auch in diesem Gewand als SACD (bei Dutton) erwerben kann. Uns lag jedoch nur eine schnöde Billig-CD vor, der aber ein ausgesprochen frischer und vorantreibender Gestus zu eigen ist. Das Orchester zieht mit dem ambitionierten Dirigenten voll mit und sprüht vor Spielfreude. Im packenden Spiel geht allerdings so manch eine Nebenstimme verloren. Mehta dirigiert in einem Zug durch. Im „Danse de la terre“ erklingen bei den Violinen vorantreibende Stereo-Effekte.

Das Orchester scheint in jener Zeit in guter Form gewesen zu sein, die Holzbläser klingen nicht mehr so hart wie bei Bernstein. Mehta versucht immer die Schönheiten der Musik besonders zur Geltung zu bringen.

Mehta findet auch in der zweiten Introduktion das richtige Maß an Detailakibie und fließendem Tempo. Hier wird nicht vergessen, dass es sich ursprünglich nicht um Stück für den Konzertsaal handelt, sondern um Ballettmusik. Dynamisch wird sehr genau der Partitur gefolgt. Besonders die lyrischen Abschnitte wirken stark, während bei den dramatischen Passagen die bruitistische Note zuweilen ein wenig zu kurz kommt. Nie hat man den Eindruck, hier sollten dirigentische oder orchestrale Qualitäten zur Schau gestellt werden. Im Hinblick auf differenzierte Artikulation und im Blick auf das Ganze ist er seinem Kollegen Barenboim weit voraus. Der „Danse sacrale“ erklingt in angemessenem Tempo, rythmisch schar und durchaus mit Ausdruck und Verve. Schlagtechnisch wirkt das Dirigat sehr sicher, was man natürlich nicht sieht aber dem präzisen, sicheren und kontrastreichen Orchesterspiel anhört. Das Tempo wird zudem im Verlauf angezogen, was den Eindruck von Extase ungemein steigert. Ganz am Ende geht Mehta wieder auf das ursprüngliche Tempo zurück, dennoch eine sehr gute Performance. Die Zeit vergeht wie im Flug.

Die Techniker waren sehr auf Räumlichkeit und Tiefenstaffelung bedacht, vernachlässigten aber dabei nicht die rechte Präsenz. Dynamische Exzesse, die Maazel drei Jahre später (bereits digital) vorführte werden vermieden. Der Gesamtklang wirkt recht ausgewogen, plastisch, voll und farbenprächtig.

Gegenüber der 77er Einspielung hat sich an Mehtas Auffassung 1990 nicht viel geändert. Ganz ähnliche Tempo, eher etwas weniger mit Spannung ausgefüllt. Das Orchester wird immer noch völlig ungefährdet und spielstark durch das Werk geführt, aber nicht mehr mir demselben Enthusiasmus. Nur phasenweise wirkt es etwas bemühter und rhythmisch nicht mehr ganz so exakt. Es ist jedoch, wie bereits bei der „Symphonie in drei Sätzen“ eine Steigerung spürbar. Insgesamt eine Wiedergabe von Strawinsky-Könnern, in dieser Version mit einemetwas geschöntem Spiel. Dass das Orchester einmal in einem schlechten Zustand gewesen sein soll, ließe sich mir dieser Einspielung nicht belegen.

Der Aufsprechpegel ist nun viel niedriger, sodass man unbedingt nachregulieren muss. Aber auch dann klingt das Orchester weniger präsent, als ob es weiter weg gerückt wäre. Bis auf die Gran Cassa, die nun extrem wuchtig und präsent klingt. Die Abbildung ist weniger breit, der Gesamtklang etwas feiner aufgelöst und ein wenig runder als 77.

 

4-5

Georg Solti

Chicago Symphony Orchestra

Decca

1974

14:41  17:17  31:58

CD und LP  Von Georg Solti gibt es zwei Einspielungen. Dieser Einspielung unter Studio-Bedingungen folgte 1991 eine weitere Live-Aufnahme in Amsterdam. Die Chicagoer ist unbedingt vorzuziehen. Während die Amsterdamer ziemlich misslungen ist, was bei Solti wirklich überraschen darf, ist die 74er umstritten. Den einen klingt die 74er ungehobelt, rau, ungebärdig und klotzig, den anderen dagegen als feurig und besonders energiegeladen.

Wir hören enorm geschärfte Rhythmen und energisch-impulsive, zugespitzte Verläufe. Mitunter grob oder gar krachend. Bei welchem Werk sollte dieser Gestus besser passen als beim „Sacre“? Bei Solti spielt das Orchester viel sicherer als bei Barenboim. Bei Ozawa wirkt der Zugang des Dirigenten geradliniger und das Orchesterspiel noch etwas sicherer aber nicht so exaltiert als bei Solti. Solti achtet auffallend darauf, dass das Holz nicht zu kurz kommt. Die Hörner kommen mit bester, um es korrekt zu sagen mit fast handgreiflicher Präsenz. Bei Solti herrscht der Blick aufs Ganze, während das Werk bei Barenboim wirkt wie aneinandergereihte kürzeste Episoden. Es wird wie in einem Stück durchgezogen. Man kam wohl mit wenigen Schnitten aus, weshalb man das Orchester und den „Sacre“ schon differenzierter gehört hat.

In der zweiten Einleitung nimmt Solti den Frühling mit viel warmen Streicherglanz schon ein wenig vorweg, das Eis ist bereits angetaut (insbesondere bei der LP). Sie bleibt atmosphärisch dicht. Das Solo der Celli wird sehr gut herausgearbeitet. Auch Solti such das cantabile. Immer wieder kommt der Temperamentsmusiker durch, wird dabei vom zumeist brillant klingenden Orchester voll unterstützt. Mangelnde Kontraste kann man Solti nicht vorwerden. Die einzelnen Triolen der Pauke kann man fast nicht unterscheiden, Sie wirken fast wie ein Schlag (das machen ziemlich viele so, ist aber eigentlich falsch, sind sie doch als drei einzelne Viertel notiert. Solti macht das viel Mal hintereinander. Im Diktat wäre es ein Folgefehler und würde nur einmal zählen. Wir fragen uns, wie es dazu kommen konnte. Aber wie gesagt, das unterläuft vielen, sodass von einer anderen Notation ausgegangen werden muss. Zum nachschauen, falls eine Partitur greifbar sein sollte: 1 nach 121, 2 vor 123, 2 nach 124 und 2 vor 128. In den Genuss von Chicagoer Hörnern in Bestform kommt man 1 nach Zf. 138. Die „Zwölftolen“ der einzelnen Trompete sind da, werden also auch gespielt, aber leise. Im „Danse sacrale“ hören wir saftiges Vollgas-Musizieren, das Strawinsky vielleicht weniger gefallen hätte, uns aber schon. Das CSO macht hier so richtig Spaß. Ganz besonders, wenn man eine gute LP zur Verfügung hat.

Wir hörten von der Aufnahme eine alte CD, eine nach dem AMSI remasterte CD, die mehr Raumklang bieten soll und auch Surround abgespielt werden kann und eine amerikanische LP. Die CD generiert eine lebendige Dynamik, sehr präsente Hörner und nur eine kaum herausgestellte Gran Cassa, die als dynamischstes Instrument weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt. Die AMSI-Version (damals als Budget-Angebot lanciert), klingt erheblich voluminöser, großräumiger und mit mehr Tiefenstaffelung. Der Aufnahmeraum wirkt plötzlich halliger als auf der normalen CD und der LP. Insgesamt wirkt der nun leicht schwebende Klang weicher, voller und etwas offener, auch dynamischer und präziser. Auch die Gran Cassa klingt etwas prominenter.

Die LP schließlich setzte bei der Tiefenstaffelung nochmal eins drauf, genau wie bei der nun glasklaren Transparenz und der besseren Differenzierung. Die Präsenz, nun hautnah, die Räumlichkeit, nun am großzügigsten und die Dynamik, nun am beherztesten, überzeugten uns am meisten. Schließlich reichte die Gran Cassa von der LP auch am tiefsten in den Basskeller hinab. Allerdings laufruhig ist die LP aus den USA nicht.

▼Eine weitere Einspielung von Georg Solti ganz weit unten in der Liste.

 

4-5

Gustavo Dudamel

Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela

DG

2010

16:10  17:45  33:55

Bei dieser Einspielung aus Caracas sollte man nicht vergessen, dass es sich bei diesem Orchester immer noch um ein Jugendorchester handelt. Dessen ungeachtet oder gerade deshalb erleben wir eine bewusst musizierte dabei lebendige und differenzierte Wiedergabe, sprühend und zugespitzt in Gestus und Tempo. Auch den kantablen Stellen wird Leben eingehaucht. Die Gran Cassa klingt voll und tief bisweilen massiv und auch explosiv. Auch das Tam-Tam lässt sich nicht bitten bei der massiven Cortège. Insbesondere bei den Streichern merkt man an, dass die Besetzung nochmals vergrößert wurde. 180 Jugendliche musizierten hier gemeinsam. Das Mehr von 70 Spieler und Spielerinnen. Auffallend geschmeidig und herausragend weich klingen sie auch im „Danse de la terre“, der auch mit kerniger Rhythmik besticht und wahrlich viel Zug dahinter hat. Nur im fff des Tutti kommt ein wenig Verunklarung mit ins Spiel.

Auch die Introduktion zum zweiten Teil erquickt mit liebevoll, finessenreich und weich gespielten Soli. Die Empathie des Spiels klingt durch. Bei Zf. Klingt die Gran Cassa ultimativ. An Zf. 104 spielt sich weniger ein Versteckspiel als eine wilde Jagd nach der Auserwählten statt, die sich vielleicht noch rechtzeitig fliehen möchte.  Das Machtwort der Ahnen (Zf. 121) erfolgt dann mit unmissverständlichem Nachdruck. Zumeist bltzeblankes Musiziern.  Zf. 134: die „Zwölftolen“ der trompete kommen kaum zur Geltung. 138: fff der gut geblasenen Hörner dennoch zu indirekt (zu weit weg). „Danse sacrale“: Lebendig und brillant aber gegenüber dem besten (Dorati, 1959) doch noch zu sehr einstudiert. Selten ist das Tam-Tam so gut hörbar. Über die Klasse und die Schönheit des Spiels kann man sich nur wundern.

Der Klang der Einspielung wirkt großräumig, die Transparenz und Tiefenstaffelung gut bzw. sehr gut. Allerdings wirkt das Orchester ein wenig entfernt, vor allem das Blech. So geht ein wenig Unmittelbarkeit verloren. Es klingt dennoch recht voll, sauber, warm und sonor. Die Dynamik wirkt ausladend. Die Balance innerhalb der Orchestergruppen ist glaubhaft und wirkt natürlich. Nicht zuletzt durch die besonders große Besetzung wirkt der Klang sinnlich und kulinarisch.

 

4-5

Mariss Jansons

Oslo Philharmonic Orchestra

EMI

1992

15:58  16:42  32:40

Da wir die beiden neueren Einspielungen etwas genauer unter die Lupe genommen haben, beschränken wir uns bei der Vorstellung der ersten Einspielung Jansons´ auf ein paar Stichworte. Zf.  13 ff und sf der Hörner zu schwach, mf der Trompeten dagegen lauter. Schlagwerk zu beiläufig. Gute Transparenz auch bei tumultösen Partien, leicht und locker, ohne Überdruck, Tempi flott aber nicht gehetzt. Kantabilität wo möglich in den Vordergrund gerückz. Gute Steigerungen, gutes Niveau des Orchesters, klanglich nicht ganz die höchste Güte, rhythmisch keinerlei Probleme, sehr musikantisch, Blech blitzeblank. „Danse de la terre“ mit glasklarer Transparenz und stringent gesteigert.

Intro 2 wohltuend bewegt, keine stehende Landschaftsbeschau, anschaulich, tänzerisch und fließend, keine Romantizismen, immer im Tempo. Geschmeidiges Spiel, nichts Ungelenkes wie z.B. bei Karajan (1964 und 1972), Solti oder Barenboim. Zwölftolen gut hörbar. „Danse sacrale“ mit gut angetriebenem Tempo, keine Trägheit, kein Buchstabieren. Hervorragend zugespitzt. Schlagwerk präsent genug, aber nicht so dominant wie bei anderen. Orchester in diesem Tanz ganz hervorragend.

Klang: sehr gute Durchhörbarkeut, dynamisch gut, präsent genug. Schlagwerk durch aufnahmetechnische Disposition zu passiv wirkend (größtes Manko der guten Einspielung).

 

4-5

Robert Craft

London Symphony Orchestra

Naxos

1995

15:26  16:24  31:50

Von Robert Craft, dem langjährigen Assistenten Strawinskys ist uns die Eistenz von vier Aufnahmen bekannt. 1962 dirigierte er bei der ersten Reise Strawinskys in die UdSSR nach seinem Exil das Staatliche Sinfonieorchester der UdSSR, zu der Strawinsky nur lapidar dem Sinn nach meinte: Braucht man nicht. Die zweite erfolgte 1991 mit dem Orchestra of St. Lukes, die beiden letzten lagen uns zum Vergleich vor: 1995 mit dem LSO und 2007 zum 125jährigen Geburtstag des Komponisten mit dem Philharmonia Orchestra, beide für Naxos. Von den beiden letzten Einspielungen sagte uns die mit dem LSO insgesamt mehr zu.

Hier nutzt Craft die Fassung von 1947. Der Orchesterklang wirkt etwas klarer und heller als beim PO zwölf Jahre später. Das Spiel des LSO wirkt ein wenig leichter, weniger voluminös und eine wenig rauer, was aber sicher auch von der Technik modifiziert sein kann. Auffallend sind die noch viel leichter wirkenden Abstriche der Streicher bei Sostenuto e pesante (Zf. 49 ff). Das liegt nicht am absolut souveränen Spiel des LSO, sondern gehört zum Konzept des Dirigenten, der in dieser Einspielung überhaupt einen leichten und luftigen Gestus pflegt. Der „Danse de la terre“ erklingz in hervorragender Transparenz und schmissiger Ekstase. 1995 hält sich Craft noch genauer an des Meisters Tempi als 2007.

So wird auch die zweite Introduktion noch erheblich zügiger genommen als 2007, als der Dirigent bereits auf 84 Lebensjahre zurückblicken konnte. Das gleiche gilt auch für den „Danse de la terre“, der durch das angezogene Tempo auch schlüssiger und entschlossener wirkt. Die Hörner warten mit einem tollen fff au (Zf. 134 und 138). Bei der Gran Cassa bleibt „die Kirche im Dorf“. Die Akzente der Piccolo-Trompete bleiben bei Zf. 165 unhörbar. Insgesamt ist die 95er gegenüber der 2007er insbesondere wegen der beiden deutlich ekstatischer klingenden Schlusstänzen zu bevorzugen.

Klanglich ist sie allerdings weniger brillant und auch etwas weniger transparent geraten. Auch wirkt das Orchester ein wenig zurückgesetzt. Eine für Naxos sehr gute Aufnahmequalität.

▼Eine weitere Einspielung von Robert Crafts direkt im Anschluss.

 

4-5

Robert Craft

Philharmonia Orchestra London

Naxos

2007

15:39  17:40  33:19 

Download  Diese Einspielung ist Robert Crafts letztes Wort in Sachen „Sacre“. Er greift nun auf die 1967er Fassung zurück (die aber gegenüber der Ausgabe von 1947 nur „re engraved“ ist), streut aber auch Elemente der Fassung von 1913 ein. Der abschließende „Danse sacrale“ erklingt hingegen in der rhythmisch etwas vereinfachten Version von 1947. Die Bezeichnung der Fassung schien uns hier vor allem dazu zu dienen, einen zusätzlichen Kaufanreiz gegenüber der erst 12 Jahre alten Produktion mit dem LSO zu liefern. Hier nun kurz das Wesen der Aufnahme und ihre Einordnung: Tempi nun durchweg langsamer als 1995, damit auch langsamer als der Meister selbst. Holz stets enorm präsent, Altflöte mit sehr viel „Nebenluft“, Zf. 29, Zymbel und Triangel sehr deutlich, Hörner ohne echtes p, Gestus lebendig und wuchtig. Crafts Umgang mit dem Werk ist auch im hohen Alter immer noch souverän, die lange Erfahrung mit dem Werk ist nicht zu überhören. Auch das Tam-Tam ist deutlich herausgestellt, Craft zeigt das Werk durchaus noch als ein musikalisches Werk des Bruitismus, obwohl das Orchester in Top-Form spielt und sehr kultiviert klingt, nicht glatt. Der „Danse de la terre“ klingt angemessen wild aber nicht mit der Extase von Dorati, Markevitch, Chailly (1985) oder Bernstein (1958).

In der Introduktion zum zweiten Teil hat man größten Wert auf eine hautnahe Präsenz gelegt, das wirkt besonders stimmungsvoll. Die aufmerksamen Hörer werden aber bemerken, dass die Aufnahme hier mit anderen Einstellungen erfolgt sein muss, also nicht ohne Schnitt ausgekommen ist. Die Balance im Orchester ist insgesamt sehr gut aber nicht über jeden Zweifel erhaben (Zf. 90, Hörner (pp) viel zu laut gegenüber der Bassklarinette (p), die man leider gar nicht hört). Im zweiten Teil spielt die Altflöte nicht mehr mit „Nebenluft“. Die dynamischen Verhältnisse sind im Großen und Ganzen sehr stimmig. Überhaupt wurde hier sehr gewissenhaft gearbeitet. Das Orchester geht auch an seine Grenzen, was einen großartigen, mächtigen Klang zur Folge hat (ab Zf. 121), aber leises wirkt fast durchweg zu laut. Bei Zf. Könnten die Hörner ihr fff durchaus eindringlicher schmettern. Das Problem mit dem indirekten Klang wollte Strawisnky mit der Anweisung „Trichter hoch“ lösen, die Aufnahmetechnik hat seinen Wunsch jedoch nicht unterstützt. Zum Beginn des „Danse sacrale“ klingt das Orchester plötzlich halliger, als ob es in einen anderen Aufnahmeraum umgezogen wäre, was natürlich nicht der Fall war. Zum Hall scheint das Orchester nun auch etwas nach hinten gerutscht zu sein und die einzelnen Schallquellen wirken nun verkleinert. Dadurch wird extatisches Potential verschenkt. Allerdings agiert die Gran Cassa nun ohne Rücksicht auf Gehörverlust bei den umgebenden Musikern und auch bei den Hörers. Gegenüber den Einspielungen von Chailly (besonders Cleveland, aber auch Luzern) oder den mittlerweile einschlägig bekannten Extatikern (Dorati, Markevitch, Bernstein) aber auch Crafts eigener Einspielung mit dem LSO wirkt das Tempo etwas zu gemütlich, der Gestus statt hitzig nur lauwarm. Dennoch von musikalischer Seite eine mustergültige Einspielung, die in sich durchaus überzeugt. Aber das Bessere ist des Guten Feind.

Der Klang ist offen und glasklar, sehr präsent mit fast raumfüllenden Holzbläsern, sehr wuchtige und mächtige Gran Cassa, brillanter als bei Cambreling oder Currentzis, dynamisch und lebendig.

 

4-5

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DG

1977

14:53  18:16  33:09 

CD und LP  An dieser Produktion arbeitete man insgesamt drei Jahre. In Angriff genommen wurde sie bereits 1975, 1976 musste sie wegen der schweren Rückenprobleme Karajans unterbrochen werden, sodass sie erst 1977, als ein glücklich genesener Maestro mit viel musikalischem Nachholbedarf wieder mit dem Werk in den „Ring“ steigen konnte, um das Projekt zu beenden. Für seine Einspielung von 1964 wurde Karajan von Strawinskys Kritik nicht verschont (wahrscheinlich wirkte sie bei Karajan wie ein harter Schlag, davon mehr bei der Besprechung der 64er weiter unten), sodass er immer wieder daran arbeitete, sie zu übertreffen. Der Mitschnitt aus London 1972 zeugt von diesen Bemühungen und dem damaligen Misslingen. Unserer Ansicht ist mit der Einspielung von 1977 durchaus eine substanzielle Verbesserung der musikalischen Darbietung verbunden, wobei es sich immer noch nicht genau erschließt, warum Karajan das Werk überhaupt in sein Repertoire aufgenommen hat. Er war ja nicht unbedingt ein genuiner Rhythmiker, wie beispielsweise Boulez und er quälte sich sicherlich mit dem Werk. Vielleicht wollte er es den Kritikern beweisen (wie mit den Einspielungen der Musik der Neuen Wiener Schule in den frühen 70ern), dass er es sozusagen drauf hat.

Man kolportiert, dass für die neuerliche Aufnahme des „Sacre“ kaum Schnitte notwendig waren und so fast eine Live-Aufnahme vorläge (im Text des Beihefts der Testament Live-Aufnahme aus London, 1972!).

Natürlich (möchte man sagen) prägt der Klang der Berliner und vor allem der Karajans auch diese Darbietung des „Sacre“. Ob sie sich nun mehr nach Strawinsky oder nach Karajan anhört, möge man selbst für sich entscheiden. Man hört exquisit geblasene Holzbläsersoli in der Einleitung, jedem Melodiefetzen wird nachgespürt und wenn man es so ausdrücken darf, er wird „kantabilisiert“. Die Philharmoniker klingen nun (im Gegensatz zu 1972) mit der gewohnten Präzision, ja Perfektion, klanglich prall, voll und glanzvoll. Das Sostenuto e pesante (bei Zf. 49 und nachfolgend) klingt nun viel tiefer, schwerer und voller. Karajan scheint mit den Taktwechseln und schwierigen Rhythmen nicht mehr kämpfen zu müssen. Die Hörner klingen nun ganz besonders voll und so „schön“, dass es ein besonderer Genuss ist, zuzuhören. Insgesamt geht es zügiger voran als zuvor, mit weniger „Sostenuto“. Beim sehr warm timbrierten und meist gar nicht einmal so „freundlichen“ Orchesterklang ist es etwas schwieriger den Nebenstimmen zu folgen als bei den transparenteren Aufnahmen von Boulez, Dorati oder Markevitch, um nur eine paar zu nennen. Die Innenbalance des Orchesters ist jedoch sehr viel stimmiger als in London 1972. Der Bassbereich ist besonders präsent, was zum fülligen, satten Gesamterscheinungsbild einiges beiträgt. Der Klang transportiert so etwas weniger aggressive Schärfe als bei den schlankeren Einspielungen der Berliner mit Rattle oder Haitink.

In der Einleitung zum 2. Teil, die bei Karajan wenig dissonant klingt, kommt der in diesem Fall unangemessene typische Schmelzklang Karajans wieder sehr gut zur Geltung, das disparate Nebeneinander oder Untereinander von cis-Moll, d-moll und dis-Moll, das bei Boulez (1969) vorbildhaft so sehr aneinander reibt, wird bei Karajan klangkulinarisch „versuppt“. Klangkulinarik pur und solchermaßen viel mehr Karajan als Strawinsky ist in diesem Abschnitt zu hören. Da gibt es wahrscheinlich keine Diskussion. Für viele sicher trotzdem ein Hochgenuss, andere wird es dagegen abschrecken.  Die Hörner zeigen bei Zf. 138 mit ihrem fff ein bewunderungswürdiges Durchsetzungsvermögen. Der „Danse sacrale“ klingt nun viel deutlicher, gewaltiger und perkussiver, letztlich viel stimmiger als in den beiden vorangegangenen Einspielungen. Karajan bleibt dem Bruitismus wenig schuldig, zeigt er hier doch eine maschinenhafte Unerbittlichkeit. Die klangliche Polyphonie und das Primitive des „Sacre“ ist Karajans Sache immer noch nicht. Er bereichert aber mit dieser Einspielung durchaus die Vielfalt des Gesamtangebotes an substanzeichen Einspielungen des „Sacre“.

Klanglich verfügt die nun in der Philharmonie erfolgte Aufnahme über kräftigere, vollere Klangfarben, eine höhere Transparenz und Körperhaftigkeit. Die Transparenz ist jedoch immer noch nicht gerade beispielhaft. Die Gran Cassa klingt nun erheblich wuchtiger, aber nicht so brillant wie in den besten Aufnahmen. Die Dynamik ist merklich geweitet (gegenüber 1963) und kontrastreicher. Ein Quercheck mit der alten LP zeigt, dass damals mustergültig produziert wurde. Es klingt noch etwas glanzvoller und dynamischer als von der CD. An der Transparenz ändert sich jedoch nicht viel. Keinerlei Störgeräusche!

▼Zwei weitere Einspielungen Karajans ziemlich weit unten in der Liste.

 

4-5

Bernard Haitink

London Philharmonic Orchestra

Philips

1973

15:30  18:31  34:01 

Schon Bernard Haitinks erste Einspielung zeigt ein bewegtes, musikantischer, recht flexibles Spiel von angenehmer Zurückhaltung und hoher Transparenz. Nichts wirkt hier zu laut oder auch zu leise. Die Akzente wirken stimmig, der Rhythmus sicher und ziemlich geschärft.  Die Interpretation wirkt geradlinig, schnörkellos und temporeich, fast spritzig. Das blech tönt sicher und rein, die Hörner sind klasse. Der rasante „Danse de la terre“ wird eindrucksvoll gesteigert.

Die Introduktion zum 2. Teil fällt durch die langsamere Tempogestaltung etwas ab. Der „Danse sacrale“ wird tadellos gespielt, wirkt jedoch etwas nüchtern. Eine Einspielung, die nichts falsch macht aber emotional nicht so richtig mitreißt. Sie vereinigt hohe Qualitäten auf sich, wirkt aber wenig individuell. Wir vermuten, dass sie Strawinsky sehr gut gefallen hätte, lässt si doch vor allem die Partitur sprechen.

Das Klangbild wirkt ausgewogen, gut gestaffelt und transparent. Die Räumlichkeit wie auch die Klangfarben wirken natürlich. Pauke und Gran Cassa sind weite voneinander entfernt aufgestellt, was ihre Individualität unterstreicht. Ihr Zusammenspiel ist trotzdem präzise. Sehr gutes Tam-Tam. Auch hier hohe Qualitäten aber insgesamt etwas unauffällig.

 

4-5

Yuri Temirkanov

Royal Philharmonic Orchestra, London

RCA

1988

16:18  18:56  35:16

Die Einspielung macht einen etwas heterogenen Eindruck. Sie verbindet sehr hohe Werkkompetenz mit einer etwas schludrigen Sorgfalt, denn es sind zwei deftige Patzer unkorrigiert stehen geblieben. Da es sich um keine Live-Produktion handelt, wären sie korrigierbar gewesen.

Der erste Patzer ereilt die A-Klarinette bei Zf. 10, die statt kontrolliert anzublasen ein unkontrolliertes Plärren erzeugt. Außerdem hätte sie „très en dehors“ zu klingen, also von weit draußen, was so ebenfalls konterkariert wird. Der Duktus erscheint bei Temirkanov, von dem es mittlerweile auch noch eine Einspielung mit den Sankt Petersburger Philharmonikern gibt, zurückhaltend., als ob er niemandem mehr etwas beweisen müsse. Das Spiel wirkt leicht und beweglich, nicht aufgeblustert, sondern stringent, etwas trocken, aber schön tänzerisch, als ob die Musik nicht von der (hier nicht vorhandenen) Szenerie ablenken soll. Es wirkt weniger motorisch als sensibel. Die sensible Note am „Sacre“ zu zeigen ist an sich keine schlechte Idee, sie sind aber verbunden mit teils recht schleppenden Tempi. Sie machen den fraglos vorhandenen episodenhaften Charakter des Werkes deutlicher als nötig, andere Maestri versuchen im Gegenteil alles unter einen Bogen zu zwingen, was machen gelingt es auch.

Die hell klingenden Violinen betonen das Eisige und Starre der Szenerie in der Introduktion zum zweiten Teil. Obwohl auffallend behutsam und sorgfältig gespielt wird bleibt diese Passage nicht ohne Spannung. Der zweite (kleine) Patzer betrifft die Solo-Violine bei Zf. 88.  Dass die Triolen der Pauken zu schnell sind (Zf. 121 und 122) kommt ziemlich oft vor und verwundert kaum noch.  Die Hörner entschädigen mit ausgezeichnetem Durchsetzungsvermögen des fff (Zf. 138). Wie bei „Leutenant Kije“ spart Temirkanov auch im „Danse sacrale“ nicht mit schrillen Flötentönen, die bei ihm ganz besonders die schmerzhaften, qualvollen Akzente befördern. Die Bässe hingegen werden unterbelichtet. Das Tam-Tam hingegen wird schrill und schatf eingefangen wie sonst hier. Durch die instrumentale Neubewertung klingt Temikanovs „Danse sacrale“ sehr individuell. Komplettiert wird der eindrucksvolle Abgang des sterbenden Mädchens mit einer sehr guten rhythmischen Genauigkeit und einer hervorragenden Steigerung. Kompliment vor allem an das komplette Blech. Das Orchester wirkt in dieser Einspielung insgesamt besonnener, sorgfältiger und auch schlanker als bei Yuri Simonov. Leider auch fehleranfälliger.

Klanglich: Klar und offen, guter Mix aus Präsenz und Räumlichkeit, sehr gute Staffelung, impulsive, trockene, allerdings wenig voluminöse Gran Cassa. Der deutliche Gesamtklang ist teilweise sehr dynamisch, jedoch wenig voluminös. Den Streichern fehlt es an Schmelz (Concertgebouw mit Jansons, Berliner, Staatkapelle!).

 

4-5

Seiji Ozawa

Chicago Symphony Orchestra

RCA

1968

15:00  17:25  32:25

Außer in dieser Produktion spielte Seiji Ozawa den „Sacre“ nochmals 1979 in Boston, dieses Mal für Philips ein. In unserem Vergleich müssen wir leider mit der Chicagoer Aufnahme vorliebnehmen. Ozawa bringt eigentlich die besten Voraussetzungen für die Realisierung des „Sacre“ mit, denn bei ihm hat man den Eindruck, dass ihm das Ergebnis immer überzeugender gelingt, desto komplizierter die Partitur ist, um die es geht. Das CSO, vielleicht auch noch von seiner Zeit mit Reiner gepägt agiert hier noch als Präzisionsklangkörper oberster Güte. Das Werk klingt nämlich viel besser strukturiert als bei Barenboim und leichter und rhythmisch flüssiger als bei Solti. Solti allerdings arbeitet die Grellheiten des Stückes noch besser heraus. Der „Danse sacrale“ temperamentvoll mit wild entfesselter Percussion. Auch Ozawa fasst die letzten beiden Akkorde zu einem zusammen.

Klanglich erreicht die Einspielung nicht mehr die ungeheuere Präsenz und Lebendigkeit der besten „Living Stereos“, deren Zeit bedauerlicher Weise um 1962 bereits abgelaufen war. Der damalige spezielle Klang hätte auch dieser Aufnahme sehr gut angestanden. Es ist uns überhaupt keine „Living Stereo“ des „Sacre“ bekannt. Eine schmerzliche Repertoirelücke. Die Gran Cassa wird nicht in vollem Umfang als Dynamik-Instrument genutzt, weshalb der Gesamtklang unspektakulär bleibt. Wir hören ein leichtes Rauschen, wenig Klangzauber, einen eher weniger sinnlichen Orchesterklang. Deutlich nüchterner als die Einspielung Skrowaczwewskis, nur um einmal eine konkrete Einordnung zu liefern.

 

4-5

Lorin Maazel

Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München

BR Klassik

1998

16:26  17:43  34:09

Die erste Bekanntschaft mit Maazel haben wir bereits bei den SACDs mit dem Cleveland Orchestra gemacht. Die Einspielung aus München wirkt klanglich harmloser, aber viel ausgewogener und feiner im Musikalischen. Sie wirkt im besonderen Maß kühl kalkuliert und strategisch aufgebaut. Die perfekte Schlagtechnik Maazels verleiht den Orchestern in allen drei Einspielungen Sicherheit und Präzision. Verschiedentlich sind die Tempi weniger zügig als in Cleveland und die Brillanz des Orchesters wirkt nun lange nicht mehr so vorgeführt, wobei die Aufnahmetechnik bei diesem Kritikpunkt eine größere Rolle spielt als die musikalische Darbietung. Bei Zf. 53 wird Maazel erneut plötzlich langsamer, überhaupt nimmt er ein wenig Rubato, weniger als in Wien, wieder mit ins Portfolio der Gestaltung auf.  Das Orchester wirkt, nun allerdings (bei zwei Konzerten) aufgezeichnet nicht ganz so locker und perfekt wie das CO 1980 aber auch das SO des BR selbst in der Einspielung mit Jansons, die ebenfalls live erfolgte. Aber immer noch viel besser als die Amsterdamer unter Solti, live, 1991. Zum zweiten Teil nur so viel: Der „Danse sacrale“ hat nun mehr Tempo, das Blech präsentiert sich in Bestform. Insgesamt organisch wirkende, fast perfekte Wiedergabe, die einen Schuss Eleganz in die Archaik mischt.

Klanglich steht die Aufnahme zwischen der Wärme der Decca aus 1975 und der kühl timbrierten Telarc von 1980. Die Gran Cassa macht gegenüber 1980 einen gebändigten Eindruck, auch die Pauke wirkt mehr ins Gesamtklangbild integriert. Der Gesamtklang ist nicht ganz so sonor und brillant wie bei Jansons mit demselben Orchester 2009. Direkt nach der Telarc gehört, wirkt die BR-Aufnahme Maazels etwas blasser aber viel ausgewogener,

▼Eine weitere Einspielungen Maazels etwas weiter unten in der Liste.

 

4-5

Sylvain Cambreling

SWR Sinfonieorchester Baden Baden und Freiburg

Hänssler

2006

16:48  19:27  36:27

Gegenüber der Einspielung von Teodor Currentzis wirkt der Beitrag Cambrelings mit wärmerem Klang musiziert organischer und weniger ziseliert. Das Tempo giusto wirkt nicht so wie von der Tarantel gestochen wie beim Griechen. Cambreling lässt gelassen aber nicht unpräzise spielen. Das Orchester ist weicher konturiert und nicht immer völlig transparent. An der letzten Präzision, die Francois-Xavier Roth mit ihm bei der „Alpensinfonie“ erreicht, fehlt es dieses Mal noch. Immer wieder wird der Wunsch spürbar der Musik viel Kantabilität mitzugeben. Ab Zf. 68 kommt das Tam-Tam prominent ins Klangbild, ein Instrument das in den Aufnahmen dieser Liste oft ein Schattendasein hinter der Cran Cassa führen muss. Im „Danse de la terre“ agieren die Hörner zu schwach, die Dynamik ist gut aber die letzte Zuspitzung fehlt.

Der zweite Teil beginnt atmosphärischer als bei Currentzis, fast schon romantisch schwelgend mit einem teils impressionistisch anmutendem Farbenspiel. Auch die zurückgenommenen leisen Passagen wirken nie langweilig, Auch bei Zf. 138 bleiben die Hörner zu weit im Hintergrund. Dem „Danse sacrale fehlt dann zunächst doch die nötige Schärfe in Rhythmus und Artikulation, aber auch hier ein beeindruckendes Tam-Tam und eine hervorragende Steigerung. Eine gute Einspielung um „sacrephobe“  Musikfreund/innen an Strawinsky Werk zu gewöhnen. Für bereits akklimatisierte Spezialist/innen wirkt diese Darbietung ein wenig zu philharmonisch-weich. Ihr geht das Raue und Unkultivierte weitgehend ab.

Klanglich wirkt das Orchester etwas zurückgesetzt und weniger transparent als z.B. die Einspielung von Currentzis. Sie hat aber eine natürlich wirkende Räumlichkeit, eine gute Staffelung und wirkt ausgewogen. Die Dynamik könnte weiter gespreizt sein, der Gesamtklang überraschend warm. So wird dem Stück eine gewisse Behaglichkeit verliehen, die manchem unangebracht erscheinen mag. Denn auch das Schlagwerk ist eher weich konturiert, weniger straff und hart. Die Aufnahme klingt nicht mulmig.

 

4-5

Gennadi Roshdestwensky

London Symphony Orchestra

Nimbus

1987

16:46  18:42  35:28 

Roshdestwnsky nimmt im Verlauf der Introduktion jeden Überdruck raus, lässt sie wie einen langsamen Entstehungsprozess wirken, aus der sich bald alles entwickelt. Wie sonst nur Boulez und vielleicht noch Tilson Thomas legt Roshdestwensky die Faktur offen, insbesondere die harmonische. Bei 3 T. nach Zf. 12 lässt er die Pizzicati der 1. Violinen so klingen, als ticke die Uhr, oder als laufe eine Uhr ab. Die des Winters oder die des noch unbekannten Mädchens? Auch das Tempo giusto wirkt wie in Zeitlupe. Das sf der Hörner ist sehr kräftig. Das Blech allgemein strahlkräftig. Zu konstatieren ist eine akribische Notentreue, der Ausdruck wirkt aber nicht neutral oder gar lasch. Zum Mitlesen der Partitur ist diese Einspielung noch besser als die Salonens (LAPO) geeignet. Es entstehen immer wieder bildhafte Assoziationen, vieles klingt unerhört anders.  Jede neue Episode wird wie ein neues Charakterbild gestaltet. Das Prestissimo des „Danse de la terre“ erinnert auch hier wieder besonders an das Presto der siebten Beethovens, Leider nutzt der Dirigent nicht die Möglichkeit, dass sich erste und zweite Geigen antagonistisch gegenübersitzen.

Im zweiten Teil bringt Roshdestwensky die Paukentriolen in der richtigen Länge vier Mal (ab Zf. 121). Auch hier wirken die Tempi langsam ohne aber je zu schleppen, im Gegenteil, das Musizieren klingt außergewöhnlich plastisch. Immer hat man das Gefühl, dass sich in dieser Einspielung ein Könner und ein ausgezeichnetes Orchester zusammengefunden haben.  Der „Danse sacrale“ klingt in den massiven Passagen jedoch nicht immer ganz geordnet. Durch das reduzierte Tempo erscheint er komfortabler spielbar (bzw. tanzbar) zu sein. Auch Roshdestwensky führt die beiden Schlussakkorde zu einem zusammen. Phasenweise wirkt diese Einspielung wie eine Perlensuche. Sie bleibt nicht erfolglos. Es werden einige gefunden über die andere hinwegmusizieren.  Das Umstürzlerische wird der Musik jedoch zu großen Teilen entzogen. Das LSO spielt besser als unter Abbado (ist ja auch viel langsamer).

Klanglich wirkt die Aufnahme glasklar und (Nimbus-üblich) sehr weiträumig. Dieses Mal wirkt die breite und tiefe Staffelung jedoch nicht hallig. Höchste Transparenz wird auch im Tutti geboten. 

 

4-5

James Levine

MET Orchestra (Orchester des Metropolitain Opera House, New York)

DG

1992

16:05  17:17  33:22 

Mit einigen Aufnahmen bei der DG sollte das New Yorker Opernorchester auch als Konzertorchester weltweit hoffähig gemacht werden. Obwohl das Orchester sich bestens rausgeputzt hat, funktionierte das nicht so recht. An der Spitze ist eben einfach nicht für viele Platz, sonst wäre es keine Spitze mehr. Manches Orchester fällt dann einfach wieder runter, obwohl es die Fähigkeiten hätte. Dann kam ja auch noch die Klassik-Krise und weitere Krisen dazwischen, die den Ausleseprozess erheblich verstärkten.

Das MET Orchestra zeigt sich also in allerbester Form. Die Dynamik wird nach Herzenslust voll ausgespielt und dabei gerne auch einmal übertrieben. Z.B. Zf. 49: Bässe mf, aber trotzdem wackeln bereits die Wände. Das Blech ist wirklich eine Pracht und sticht, was die Brillanz angeht, so manches andere amerikanische Spitzenorchester aus. Allerlei Passagen wirken allerdings weniger schlank und ansatzweise dicklich. Der „Danse de la terre“ lässt an Explosivität und Stringenz nichts zu wünschen übrig. Der 1. Teil wird mit einem ziemlich dicken Pinsel farbkräftig aufgetragen.

Der 2. Teil gelingt nicht ganz so gut. Die Introduktion wirkte auf uns einfach ein wenig langweilig. In den lyrischen Passagen enttäuschen die Violinen durch geringe Klangfülle (mitunter erstaunlich dünn und spitz). Die Percussion wirkt hingegen besonders akzentuiert und wuchtig. Das Vivo wirkt vorantreibend (Zf. 104). Ein ums andere Mal fühlt man sich in einen Hollywood-Streifen versetzt. Der abschließende „Danse sacrale“ offeriert brachiale Pauken, schneidendes Blech und gestochen scharfe Rhythmik. Die sf wirken sehr kurz und emotional aufgebracht. Insgesamt stilistisch zwiespältig aber ein Fest für Freunde von „Brass and Percussion“.

Der Klang erfreut mit viel Farbe, Transparenz und brachialer Dynamik. Schlagwerk und Blech erreichen Höchstwerte an Wucht. Gute Staffelung wird vor allem in der Breite des Raumes, weniger in die Tiefe hinein erreicht. Der Gesamtklang wirkt sehr saftig mit einer ansatzweisen Tendenz zum dicklichen. Besonders sinnlich wirkte der Orchesterklang auf uns jedoch nicht, dazu fehlte dem Blech die Äquivalenz bei den Streichern. Dazu muss man nur einmal in eine Aufnahme der Berliner reinhören oder in Jansons Concertgebouw-Einspielung. Dann hat man diesbezüglich den Maßstab. Irritierend bei der MET-Aufnahme sind die mitunter leicht wechselnden Perspektiven (durch Schnitte?).

 

4-5

Pierre Monteux

Orcheste des Concerts du Conservatoire de Paris (heute: Orchestre de Paris)

Decca

1956

16:06  17:37  33:43

Download  Dies ist die einzige Einspielung Monteuxs, die stereophon einspielt wurde. Die französische Färbung insbesondere der Holzblasinstrumente und der Hörner könnte uns besonders gut an die Gegebenheiten der Uraufführung erinnern. Gerade das französische Fagott mit seinem ausgedehnten Solo in der Einleitung klingt in der hohen Lage durchaus fremdartig, was man vom Fagott des Originalklangensembles „Les siècles“ nicht unbedingt behaupten könnte, denn dieses intoniert ebenfalls mit einem (richtig)  alten Instrument ohne Intonationsprobleme. Die Simmen in der Introduktion wirken wie in den anderen Aufnahmen Monteuxs auch wieder völlig disparat. Das Orchester wirkt gut vorbereitet, dennoch klingen die Pauken weit unterbelichtet und es kommt trotzdem nicht zu einem wirklich guten Zusammenspiel. Die Violinen wirken stets ein wenig dünn. Die Abstriche bei Zf. 49 Sostenuto e pesante klingen nicht so schwer wie üblich. Bei Zf. 56 Tranquillo klingt die Klarinette nicht intonationsrein. Den ultimativen Biss bekommt man auch beim „Danse de la terre“ nicht geliefert, die Gran Cassa verschläft einmal ihren Einsatz oder setzt ein crescendo zu leise an, dass man ihn nicht hört. Orchestral ist der Tanz kein Knaller, er wirkt weicher als üblich und die Rhythmen weniger geschärft ohne deshalb voll oder abgerundet zu klingen.

Die Introduktion zum zweiten Teil erklingt sehr transparent und stimmungsvoll, da macht Monteux niemand etwas vor. Auch die Flageoletts gelingen sehr schön.  Der Gran Cassa fehlt hingegen die Energie, das dürfte allerdings am Alter der Aufnahme liegen. Der Gestus wirkt etwas betulicher als noch 1951. Erneut hat Monteux ein Auge auf das Tambourin. Damit hat er nicht Schule gemacht, denn zumeist geht es im großen Orchester unter. Auch die „Zwölftolen“ sind sehr gut hörbar. Die Hörner kommen wieder zu schwach ins Bild, was für den Gesamtklang sehr bedauerlich ist.  Der „Danse sacrale“ hat nicht den ultimativen Biss eines Markevitch oder Dorati.  Seltsam war das plötzliche Fehlen der kompletten Bläserfraktion von Zf. 186 bis Zf. 189. Man hört tatsächlich nur noch die Streicher und das Schlagzeug.  Diesmal geht der Tanz ohne Verlangsamung in einem Tempo durch. Im Gegensatz zu den Einspielungen von Dorati und Markevich haben die Einspielungen von Monteux ein wenig Patina angesetzt.

Diese Stereo-Aufnahme ist viel besser aufgefächert als bei den Monos der anderen Monteux-Einspielungen. Der Klang wirkt bereits ziemlich frisch und farbig. Die Streicher klingen noch ein wenig dünn, das Orchester insgesamt aber schon erstaunlich offen und brillant aber noch ziemlich wenig körperhaft und im Bass noch wenig konturiert. Klanglich ist sie den Bostoner Einspielungen vorzuziehen, orchestral sind die Bostoner die bessere Wahl.

 

4-5

Jonathan Darlington

Duisburger Philharmoniker

Acousence

2009, Live

16:06  19:14  35:20

DVD im Format Flac 24 Bit-96 KHz  Dieses Label bot seine Aufnahmen (oder bietet sie immer noch) im nicht kopiergeschützten Flac-Format an, ist also nicht mit der längst untergegangenen DVD-Audio zu verwechseln. Die Einspielung ist ein überzeugender Leistungsbeweis des Duisburger Orchesters, das sonst nicht gerade im Fokus der Tonträger-Industrie steht und noch mehr ein Plädoyer für den hochaufgelösten Klang und die engagierten Techniker des kleinen deutschen Labels. Dort gibt man auch kleineren Orchestern, die keine Rundfunkstation im Rücken haben, eine Chance, sich zu profilieren. So sind auch Einspielungen mit Orchestern aus Mainz, Hagen, Dessau oder Wiesbaden im Katalog zu finden.

Für den „Sacre“ das Duisburger Orchester gewählt zu haben, stellt sich als eine glückliche Wahl heraus. Sie sind auch die erste Adresse des Labels, was die Quantität der Einspielungen anlangt. Sie machen unter ihrem damaligen Chefdirigenten (2002 – 2011) einen erstklassigen Job, der das Pariser Conservatoire Orchester gerade oben drüber gelistet, auch im übertragenen Sinn alt aussehen lässt.

Das Fagott-Solo nutzt den vom Komponisten gewährten Gestaltungsspielraum (ad libitum) durchaus. Die ganze Introduktion wirkt sehr gut ausgehört. Besonders die sonst nicht so sehr im Fokus stehenden Streicher wirken in allen Gruppen sehr gut aufgefächert und präsent. Der Gestus wirkt unaufgeregt und recht souverän. Auch außerhalb der Hauptstädte gibt es also längst Orchester, die den „Sacre“ vollgültig spielen können. Das Blech könnte im Tutti jedoch noch ein wenig knackiger herauskommen, Dafür hört man die Bässe selten einmal so gut heraus (eine Domäne der Berliner Philharmoniker) wie hier, sogar wenn die Gran Cassa die Akzente setzt. Klasse!  Das Vivo bei Zf. 54 kommt frisch heraus, die sf im Blech wirken jedoch noch ein wenig zaghaft. Das Blech kann aber auch mal scharf zur Sache gehen und dabei auch unangenehm wirken. Der „Danse de la terre“ profitiert von der sehr plastischen Pauke und erreicht gegen Ende einen beängstigenden Furor, der sich auch in einer ohrenbetäubenden Laustärke Nachdruck verschafft (kein Lärm!).

Die Intro zum 2. Teil klingt fast so atmosphärisch wie bei Monteux, die Flageoletts der ersten Violinen sind jedoch nicht ganz klar und rein, winzig kleine Präzisionsprobleme gibt es eher an den ganz leisen Stellen (z.B. Trompete).  Die Fernwirkung der Hörner gelingt nicht so gut, was bei einer Live-Aufnahme schwierig ist, denn während der Aufnahme raus zu marschieren könnte mit Geräuschen verbunden sein und welches Orchester hat mehr als acht Hörner zur Verfügung, dass sich extra welche draußen bereithalten könnten?  Das pppp (es ist wirklich ein vierfaches Piano, was so viel bedeutet wie ein Viertel eines Piano und nicht vier Mal so laut wie ein einfaches Piano) des Horns gelingt sehr gut (Zf. 97).  Die Tempi werden sicher gehalten, können bei Bedarf aber auch modifiziert werden, wo dies angebracht erscheint. Das Kammermusikalische gelingt nicht ganz so perfekt wie bei den Orchestern mit den ganz großen Namen. Mit zunehmender Dauer des Mitschnitts ändert sich auch die Stimmung innerhalb des Orchesters, sodass der Gesamtklang nicht mehr ganz sauber erscheint. Das war beim Bonner Beethoven-Orchester, um einmal in der Nähe zu bleiben, nicht der Fall.  Die Soli kommen alle sehr präsent und laut, was auch mit der Dirigentenperspektive zusammenhängt, die uns vom Aufnahmeteam geboten wird.  Der „Danse sacrale“ wirkt vom Tempo her etwas vorsichtig, was das Unerbittliche nur unwesentlich schmälert. Das Blech klingt nun schon etwas angestrengt und angeraut, nicht mehr mit der überzeugenden Rundung, wie noch im ersten Teil, was auch für die anderen Instrumentengruppen gilt. Die Ekstase wirkt auch hier tödlich. Es wurde live in zwei Konzerten mitgeschnitten. Eine sehr gute Leistung aller Beteiligter.

Der Klang ist zumeist glasklar, großräumig und hervorragend gestaffelt und trotzdem sehr präsent, ausgewogen und natürlich. Der fast unkomprimierte wuchtige Klang der Gran Cassa löst Beben aus. Bisweilen wirkt das Tutti etwas dicht. Es wird große Plastizität und Brillanz erreicht.

 

4-5

Pierre Boulez

Orchestre National de l´RTF, Paris (heute : Orchestre National de France)

Concert Hall, Devega removo

1963

15:26  16:48  32:14

Download    Diese Produktion entstand anlässlich des 50. Jahrestages der Uraufführung des „Sacre“ als eine Art Probenmittschnitt. Es ist die erste von drei Einspielungen von Pierre Boulez. Der Komponist selbst hat sich damals als Kritiker betätigt, verglich sie auch noch mit Karajans 1964er Einspielung und schrieb dazu:

„Resümee: Erstens die Aufnahme: Die immense dynamische Breite von „Sacre“ wird auf das übliche Aufnahmestudio-Mezzoforte reduziert; neben der Verpackung allen Klangs in Hallraumflanell ist dies eine der schlimmsten Verfälschungen der Schallplattenindustrie. Lärm selber ist eine Art von Sprache und Lautstärke ein Element; und während die Nivellierung der Klangpegel bei einigen Musikstücken nur geringfügigen Schaden anrichtet, raubt sie der Partitur von „Le Sacre“ eine ihrer wesentlichen Dimensionen; das ist zum Teil der Grund, weswegen sogar heute eine Konzertaufführung für jeden einen Schock bedeutet, der das Werk durch Schallplattenaufnahmen kennengelernt hat. Zweitens die Aufführung: Sie ist weniger gut, als ich mir erhofft hatte, da die Ansprüche im Falle von Maitre Boulez sehr hoch sind. Man hätte vermutet, dass diese Musik sein Bier wäre, zumal die Tatsache, dass ihm Herrn von Karajans Art von Kultur völlig abgeht, hier von Vorteil ist. Von einigen schlampigen Stellen abgesehen, in dieser Aufführung überraschend, doch nicht von Wichtigkeit, gibt es einige sehr schlechte Tempi. Die Artikulation ist im Allgemeinen ausgezeichnet und sehr erholsam gegenüber der Aufnahme der Deutschen Grammophon Gesellschaft.“

Bereits vor seiner Dirigenten-Laufbahn hörte Boulez Abhandlungen über den „Sacre“ während seines Studiums bei Olivier Messiaen. Später verfasste er selbst Schriften über das Stück. Es wird also kaum einen kundigeren Interpreten für den „Sacre“ gegeben haben. Aber Theorie und Praxis sind ja bekanntlich „Zwei Paar Schuhe“. Uns stand ein günstiger aber dennoch hochwertiger Download der Einspielung zur Verfügung, sodass wir dem Komponisten gegenüber sicher ein wenig im Vorteil waren, was den Klang der Aufnahme anlangt, denn so übel und dynamisch nivelliert ist er im Vergleich zum damals verfügbaren Angebot nicht. Dann sollte man wissen, dass Strawinsky fast alles ziemlich niedergemacht hat, was zu beurteilen war. Im Falle „Sacre“ hielt er große Stücke auf Leonard Bernstein, dessen Interpretation der Psalmensinfonie (im Konzert), die er gemeinsam mit dem „Sacre“ erlebt haben muss, er ebenfalls sehr schätzte.

Aber zurück zu Pierre Boulez. Das Fagott-Solo wirkt nicht zuletzt durch den spezifischen Klang der französischen Bauart archaisch und urwüchsig. Das komplette Holz schließt sich rau spielend an. Es gibt eine Menge intonationssicherer intonierte Darbietungen des Holzbläsersatzes. Das scheint Strawinsky gar nicht gestört zu haben. Auch, dass das ganze Orchester ziemlich unkultiviert klingt nicht. Strawinsky selbst kommt ja auch vom „Sacre-Klang“ von 1913 her und nicht wie die heutigen Hörer von 2022. Außerdem passt der Pariser Klang von 1963 gut zu dem Stück. Glätte kommt so keine auf. Die Steigerungen werden sehr gut gebracht, fast schon stürmisch. Auch die Spontaneität des Orchesters gefällt, man merkt aber zu jeder Zeit, dass es stark gefordert wird. Boulez geht bis an die „Machbarkeitsgrenze“. Eine Aufnahme nach weiteren Proben und vielleicht nach den Konzerten wäre vielleicht vorzuziehen gewesen. Großen Wert legt es auf das Blech, dessen Strahlkraft durchaus überzeugt. Besonders die Trompeten und Hörner. Das bringt die Archaik zusätzlich „nach vorn“. Beim „Danse de la terre“, der mit viel Tempo gespielt wird und spannend gelingt, fehlt die letzte Dynamik.

Die Introduktion zum zweiten Teil, im schnellen Tempo gespielt, erklingt ohne Geheimnis. Das könnte Strawinsky bemängelt haben, mit den „einigen sehr schlechten Tempi“. Boulez selbst hat 1969 auch darauf reagiert. Das Schlagwerk klingt lebendig. Die Hörner sind 1 nach Zf. 138 trotz fff – Vorschrift schlecht vernehmbar. Der „Danse sacrale“ wirkt zupackend, viel aggressiver als z.B. bei Stefan Blunier. Den wild zuckenden Todestanz bringt Boulez sehr anschaulich. Die abenteuerlichen Taktwechsel und Rhythmen machen Boulez keine Probleme. Er kann sich hier ein vorantreibendes Tempo erlauben.  Vom Tam-Tam ist wieder einmal nichts zu hören.

Diese Einspielung wirkt abenteuerlich und frisch. Orchestral ist sie nur unterer Durchschnitt. Gegen den zweiten Versuch Boulez´ 1969 hat sie im Großen und Ganzen nicht den Hauch einer Chance.

Der Klang wirkt sehr präsent und transparent. Eine Staffelung in die Tiefe gibt es kaum. Der Gesamtklang ist von der Dominanz des Blechs geprägt. Die Gran Cassa kann zwar laut, wirkt aber wie aufgeschwemmt und kaum konturiert. Der tiefe Frequenzkeller ist ihr fremd. Sie ist jederzeit gut zu hören. Dass die Einspielung gegenüber dem Live-Konzert, zumal wenn man wie Strawinsky als Dirigent direkt inmitten der Schallquellen steht, dynamisch zurückfällt, sollte man ihr nicht zum Vorwurf machen. Heute kommt man da allerdings schon etwas näher dran.

 

4-5

Esa-Pekka Salonen

Philharmonia Orchestra London

Sony

1989

14:36  17:06  31:42

Anders als in der späteren Einspielung aus LA spielt das Fagott das Solo zu Beginn noch ohne Rubato. Das Tempo giusto im Tanz der Jungfrauen erfolgt noch erheblich flotter aber stromlinienförmig und nahezu akzentfrei. Überhaupt wird hier vieles flink und stromlinienförmig durchgepeitscht. Mit einem ein wenig selbstgefällig wirkenden, jugendlichem Überschwang. Die hohe Sicherheit im Zusammenspiel deutet dabei auf die ausgezeichnete rhythmische Zuverlässigkeit des Dirigates hin. Die „Rondes printainières“ werden als kontrastierender Ruhepol hingegen sehr langsam genommen und mit geschmeidigen, weichen Akzenten versehen. Bei den „Jeux des cités rivales“ dann wieder wie zuvor mit viel Aufruhr, schnellem Tempo und glatt durchgezogen, ohne sich mit Details sonderlich aufzuhalten. Der „Danse de la Terre“ erhält, was bei dieser Einspielung nicht mehr verwundert, ein stark aufgeheiztes Tempo, was dem Orchester wahrscheinlich ziemlich rücksichtslos vorgekommen sein muss. Es wird von ihm trotzdem hervorragend gemeistert.

Auch im zweiten Teil werden die schnellen Partien zu den Glanzstücken der Darbietung. Das altehrwürdige PO wird hat man seit seiner Aufnahme mit Markevitch wohl in keiner Aufnahme so virtuos und draufgängerisch erlebt. Der „Danse sacrale“ wird zu einem Fest für alle Fans von „Brass and Percussion“.

Gegenüber der späteren Einspielung aus LA (bei den SACDs gelistet) liegt der Focus noch viel weniger auf den einzelnen mit Leuchtkraft präsentierten Details und Nuancen als auf dem temperamentsvollen, fast draufgängerisch, aber zugleich auch extrem kontrolliert wirkenden Blick auf das Ganze.

Nicht dass der junge Salonen nicht bereits tief in die Partitur geschaut hätte, der ältere bringt einfach mehr davon zu Gehör. Wobei die auflichtende, sehr präzise Aufnahmetechnik der DG gewiss eine gehörige Rolle mitspielt. Der jüngere Salonen wirkt dafür emotional etwas mitreißender. Beide Einspielungen sind gute Beiträge zur Diskographie, auf die man nur ungern verzichten würde. Klanglich liegt die DG-Aufnahme vorne. Wären die glattpolierten Passagen zwischendurch nicht so stark spürbar, wäre die Philharmonia-Einspielung noch etwas höher einzugruppieren. Salonen wirkt oft wie der „Kühle“ aus dem Norden. Hier zumindest in Teilen - nicht.

Klanglich ist sie bereits transparent und mit einer plausiblen Räumlichkeit gesegnet.  Den frühen Makeln der Digitaltechnik ist sie schon weitestgehend entwachsen.  Die Dynamik ist gut, die Gran Cassa schnell und flink, sie klingt aber wenig wuchtig.

 

 

 

4

Lorin Maazel

Wiener Philharmoniker

Decca

1975

16:13  18:25  34:38

In Maazels erster Einspielung klingt der „Sacre“ deutlich weniger kantig und scharf wie üblich. Rubato hält relativ reichlich Einzug. Das Orchester nutzt, ähnlich wie die Berliner Philharmoniker bei Karajan, jeden cantablen Motivfetzten aus, um ihn schön zu gestalten. Das Musizieren wirkt schlank, man hat jedoch den Eindruck, dass Maazel das Stück „musikalischer“ machen will, als es sein will. Vielleicht um es den Wienern schmackhafter zu machen? Später macht er das übrigens nicht mehr in diesem Maß (1980 Cleveland und 1998 München). Die Wiener verleihen dem Stück eine große, balsamisch wirkende Klangfülle. Der Ausdruck den ein Kritiker (war es Ulrich Schreiber?) zur Zeit, als diese Aufnahme neu auf den Markt war, ist uns bestens im Gedächtnis haften geblieben. Er meinte, Maazel mache aus dem Stück eine „akustische Sacher-Torte“, spielte dabei sowohl auf die Herkunft der Aufnahme, als auch auf den Klang des Orchesters an. Nun herausschmecken lässt sich das nicht unbedingt, aber die Einspielung gleicht klanglich tatsächlich der ersten Karajan-Einspielung mehr als z.B. der in etwa zur gleichen Zeit auf den Markt gekommenen Chicagoer Einspielung von Solti, ebenfalls von Decca. Sie verliert so erheblich an statuarischer Kraft. Dass die Wiener das Stück nicht unbedingt lieben, zeigt sich schon daran, dass es unseres Wissens weder davor noch danach von ihnen noch einmal eingespielt wurde. Sie spielen jedoch sehr schön, absolut professionell, allerdings durchaus mit einer gewissen Süße. Beim „Danse de la terre“ verdienen sich die Wiener Hörner mit ihrem fantastischen Klang ein Sonderlob. Als Ganzes wirkt er jedoch erheblich weniger transparent als in den besten Einspielungen.

Konsumentenfreundlich wirkt auch die Introduktion zum zweiten Teil. Die Wiener überziehen ihn zwar nicht mit einer Zuckerglasur, aber schon mit großer Wärme. Die Lagerfeuer des vorchristlichen Russlands erwärmen hier die spätwinterliche Nacht so sehr, als hätte der Frühling bereits Einzug gehalten. Die Wiener Violinen betören wieder einmal mit ihrem Schmelz. Eine Spezialität Maazels (1 T. nach Zf. 103) ist die enorme Breite dieser Stelle, bei der sonst immer Pauke und Gran Cassa (f) alle Streicher (ff) zudecken. Hier hört man wirklich einmal auch alle Streicher. Alle anderen lassen die elfmaligen Schläge erheblich schneller passieren und wirken weniger affirmativ. Der „Danse sacrale“ klingt weich konturiert und zunächst etwas zu sanft und danach weniger transparent. Die Akzente wirken „süffig“ oder um im Bild zu bleiben, „schokoladig“. Kaum konvulsivische Zuckungen, an Dynamik mangelt es hingegen nicht.

Der Klang rauscht ein wenig und wirkt samtweich, körperhaft, voluminös und recht räumlich. Die Klangfarbenpalette wirkt reichhaltig. Er zerfällt nicht in Einzelteile. Guter Decca-Klang der 70er mit dem Blick aufs Ganze. Warm und ziemlich opulent. Ein Beitrag zur Diskographie in einer ganz eigenen Geschmacksrichtung.

 

4

Yannick Nézet-Seguin

Philadelphia Orchestra

DG

2013

15:26  17:29  32:55

Auch diese Einspielung entstand anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums der Uraufführung. Das Orchester und die Klangtechnik erscheinen gegenüber der Einspielung mit Riccardo Muti nochmals ein wenig verbessert. Das Orchester spielt das rhythmisch so komplexe Werk nun mit einer Sicherheit als wäre es von Vivaldi. Man hat den Eindruck, als ginge es hier nur noch um Klassikerpflege, so leicht und einfach geht es von der Hand. Alles läuft wie am Schnürchen, leicht, geschmeidig, flott, absolut genau, hervorragend musiziert, aber auch völlig widerstandslos. Und glatt wie mit Schmierseife eingeseift oder geölt, vor allem durch den Verzicht auf Nachdruck, Bildhaftigkeit und Entdeckerfreude, sprudelt die Musik hier wie Quellwasser. Ein Beispiel: Zf. 49 Sostenuto e pesante erklingt ohne jede Schwere auszudrücken immer noch sehr geschmeidig.

Das Orchesterspiel klingt auch im zweiten Teil, nun ja, wenn perfekt noch steigerbar wäre, wäre diese Form hier angebracht. Sie bietet aber keinerlei neue Aspekte. Höchstens die Erkenntnis, dass sich das Orchester spieltechnisch auf dem allerhöchsten Niveau befindet und dass Herr Nézet-Seguin ein ganz ausgezeichneter Schlagtechniker sein muss. Dazu hätte es nicht unbedingt dieser Einspielung bedurft. Sie enthält sich jeder persönlichen Note macht nur das was in den Noten steckt, versucht aber das Ursprüngliche und Revolutionäre erst gar nicht auch nur ein kleines Bisschen nahezubringen. Die Einspielung geht ohne Eindruck zu hinterlassen spurlos an den Hörern vorbei. Uns hat sie jedenfalls keinen cm vom Hocker gerissen. Das Orchester spielt ähnlich perfekt wie das Cleveland Orchestra bei Chailly aber ohne dessen Abenteuerlust und Entdeckerfreude.

Ihr Klang ist glasklar, brillant, dynamisch, agil, natürlich und plastisch. Keineswegs besonders voll und rund. Die Ortbarkeit wird perfekt auf den Punkt gebracht. Die Gran Cassa klingt staubtrocken, tief und quasi durchtrainiert und ohne Bauch, jedoch mit dem gebührenden Nachdruck. Das Schlagwerk klingt als Ganzes enorm knackig.

 

4

Valéry Gergiev

Kirov Orchestra (heute: Orchester des Marijsky-Theaters, St. Petersburg)

Philips

1999

15:35  18:53  34:28

Aufgenommen wurde diese Darbietung bei einer der zahlreichen Residenzen des Orchesters in Baden Baden. Sie ist eine der drei uns bekannten rein russischen Einspielungen des „Sacre“. Die beiden anderen sind übrigens die im Vergleich leider nicht vertretene Einspielung von Yevgeni Svetlanov und dem Staatlichen Sinfonieorchester der UdSSR und die mit Vladimir Fedosejev mit dem Großen Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR, die weiter unten noch in Erscheinung treten wird. Das zeigt auch, wie dünn die Strawinsky-Kultur in des Komponisten Heimatland immer noch ist. Sie macht mit ihrer bodenständigen und kraftvollen, aber nur vordergründiger Betrachtung standhaltender Virtuosität, gehörigen Effekt. Wenn man jedoch genau hinhört wirkt sie nicht sonderlich präzise. Das merkt man besonders an der leicht schwummrigen Transparenz im Tutti. Die instrumentalen Eckpunkte Trompeten, Pauken, Gran Cassa und Violinen treffen aber immer am Ende so passgenau zusammen, dass es kaum auffällt. Zudem wirkt die entfachte Dynamik elementar, das lenkt ab. Beim Sostenuto e pesante klingt es geradezu umgekehrt wie bei Nézet-Seguin. Sehr schwer wie der Bass-Gesang der Wolga-Schlepper vor allem durch die Betonung der Bässe und der Gran Cassa. Die einzelnen Tableaux gehen fließend ineinander über. Die Darbietung unterliegt in ihrem Brio ziemlich stark musikalischen Fliehkräften, wirkt bisweilen ohne rechte Struktur etwas zu klangflächig, al fescohaft und pauschal. Das Orchester hingegen klingt trotz allem noch substanzreich, farbenreich und kräftig. Aufgrund Gergievs Einspielung könnte man die Partitur jedenfalls nicht rekonstruieren, wie bei Salonen (DG). Da käme wahrscheinlich nicht viel mehr als ein grauer Blätterberg mit den exponierten Stimmen heraus. Anders als bei Barenboim wirkt das Orchesterspiel aber trotzdem noch geläufig, profunder, sogar hitzig. Beim „Danse de la terre“ erreicht Gergiev so etwas wie eine „vordergründige Perfektion des Wilden“, allerdings ohne viel Substanz dahinter, aber doch mehr als nur Fassade, er erreicht es, sagenhaften Druck in die Musik reinzudrücken.

Beim zweiten Teil herrscht zu Beginn dagegen ein undefinierter Klangbrei, wobei nicht ganz klar ist, ob damit eine Art von „Ursuppe“ gemeint ist, aus der das Leben (freilich erst nach dem Menschenopfer) entstehen wird. An schneidigen Bläserattacken mangelt es keineswegs, sie wirken fast wie Laserstrahlen. Den Trompeteneinsatz mit den „Zwölftolen“ vermisst man, aber immerhin ist die Piccolotrompete an dieser Stelle präsent.  Der „Danse sacrale“ kommt rhythmisch nicht so scharf umrissen wie bei den besten. Das Schlagwerk verblasst über weite Passagen gegenüber dem Blech. Der letzte Akkord klingt zwar besonders saftig, setzt aber verzögert ein. Was soll das? Insgesamt macht diese Einspielung einen ambivalenten Eindruck. Einerseits werden die Tempi rigide eingehalten und sie wirkt enorm aufgeheizt, macht aber nur einen vordergründig kontrollierten Eindruck, der sich bei genauem Hinhören jedoch nicht bestätigt. Die urwüchsig brutalen Elemente bringt das Orchester zur Geltung wie kaum ein anderes, an den komplizierten verliert es jedoch die Kontenance. Könnte es sein, dass Gergiev das Stück nicht durch und durch beherrscht?

Der Klang ist strahlkräftig, brillant, sehr dynamisch und insgesamt sehr angenehm. Die Gran Cassa klingt extrem wuchtig, der Bass des übrigen Orchesters bewirkt eine gute Grundierung.

 

4

Eliahu Inbal

Philharmonia Orchestra London

Teldec

1989

16:32  18:13  34:45

Das Fagott in Eliahu Inbals Einspielung klingt kaum wie ein solches. Auch die übrigen Holzbläser wirken zu Beginn wie versachlicht, geben also kaum persönliche Zutaten Preis. Der Eindruck ist entsprechend neutral. Die Farbgebung, die sich dadurch einstellt, wirkt kühl, quasi winterlich. Die Partituranweisungen werden strikt befolgt. Die Tempi wirken zügiger als sie sind, zünden aber nicht. Die Artikulation und Klangfarbe erklingen mustergütig neutral. Und das sogar beim zu dieser Zeit eigentlich so warm klingenden Philharmonia Orchestra. Es hat den Eindruck, als kenne Inbal die Meinung Strawinskys zum Thema Interpretation seiner Werke ganz genau. Rhythmisch sehr präzise und dabei sehr wohl gut akzentuiert wirkt das Spiel ebenfalls. Trotz der an den betreffenden Stellen angezogenen Tempi wird der Gestus kaum archaisch oder gar wild. Einen gewissen Drive vernimmt man auch beim „Danse de la terre“ durchaus, die letzten Schleusen werden jedoch nicht geöffnet. Trotz schnellen Tempos kommt das Orchester nicht richtig aus sich heraus, wird kein ekstatisches Level erreicht.

Die Introduktion zum zweiten Teil wirkt kristallin und eisig. Die frostige Landschaft wirkt so erneut ein wenig farbschwach. Im Verlauf wirken die fff der Hörner und Trompeten zu schwach, die Posaunen kommen etwas besser weg. Da hilft allein die Gran Cassa nicht viel. In Verbindung mit den nun mäßigen Tempi lässt sich bei den Hörern kein Feuer entfachen. Die Schusssteigerung allerdings ab Zf. 198 bekommen nicht viele so überzeugend hin. Insgesamt kommt Inbal Strawinskys Eigeninterpretation ziemlich nah, wirkt jedoch glatter, nicht ganz so stimmig (oder besser etwas zu stimmig) und weniger ekstatisch.

Der Klang ist klar, transparent und dynamisch, die Gran Cassa sogar sehr dynamisch. Die kühlen Farben werden sicher auch von der noch recht frühen Digitalaufnahme gefördert. Die Sony-Techniker konnten dem gleichen Orchester im gleichen Jahr lebendigere Klangfarben einhauchen (Salonen).

 

4

Antal Dorati

Detroit Symphony Orchestra

Decca

1981

15:52  17:42  33:34

CD und LP  Aus Antal Doratis (nun bereits 75 Jahre alt) atemloser Hatz in der Aufnahme von 1959 ist in dieser Einspielung, die im zehnten Todesjahr Strawinskys entstand, eine vergleichsweise großväterliche Temponahme geworden. Aber nur im Vergleich zu seinen eigenen Einspielungen, die nicht nur in dieser Beziehung die höchste Messlatte legen. Er lässt tief in die Partitur blicken und ohne das Orchester zu drillen, geht er nun maßvoller, aber auch konventioneller mit dem Stück um. Die ultimative rhythmische Straffheit und der emotional hocherhitze Ausdruck ist auf das Normalmaß abgekühlt. Das gute Orchester folgt den sachkundigen Anweisungen des Dirigenten sehr gut und weiß auch entlegener Stimmen offenzulegen. Die gar nicht so seltenen kantablen Passagen klingen nun im Vergleich zur 59er Aufnahme fast balsamisch. Der Dirigent geht nun rücksichtsvoller mit dem Orchester um. An die Besessenheit, die das Orchester aus Minneapolis gepackt hat, darf man allerdings nicht denken. Der „Danse de la terre“ ist in Tempo und Dynamik immer noch ziemlich mitreißend aber kein Vergleich zur Attacke der Wahnsinnigen, in der der Boden sich zu öffnen scheint, den man in der 59er Einspielung Doratis erlebt.

Im zweiten Teil klingt das Vivo ab Zf. 104 immer noch mit Verve, während der Paukeneinsatz 1 T. nach 121 ganz fehlt, obwohl er eigentlich ff zu hören sein sollte. Die Hörner 1 T. nach 135 klingen nun viel harmloser und wirken gegenüber 1953 und 59 nach hinten versetzt. Der „Sacre“ wirkt nun auch bei Dorati gebändigt, ist auch bei ihm zum „Klassiker“ geworden. Im „Danse sacrale“ klingt das Marcato nun längst nicht mehr so brutal, das Staccato nicht mehr so elektrisierend. Die Einspielung wirkt sehr gut erarbeitet und fernab lässiger oder glatter Routine gespielt. Die Gran Cassa klingt am Schluss sehr lange nach.

Der Klang wirkt nun ausladender und weiträumiger als bei den Mercury-Aufnahmen. Die Hörner werden nur noch matt belichtet. Die Gran Cassa klingt nun tiefer und voluminöser, wirkt im Tutti etwas halliger. Sie ist kaum weniger dynamisch aber lange nicht mehr so anspringend direkt und unmittelbar. Leichte Härte in den frühdigitalen Höhen, aber insgesamt gut zu goutieren.

Die LP klingt tiefer gestaffelt, weicher und etwas sonorer. Es sind fast keine Laufgeräusche zu hören. Die Dynamik lässt bei unserem Exemplar im Platteninneren, also gerade bei der extremen Dynamik des „Danse de laterre“ und des „Danse sacrale“ etwas nach.

 

4

Riccardo Chailly

Radio Sinfonie Orchester Berlin (heute: Deutsches Sinfonieorchester Berlin)

SFB

1981

15:55  16:32  32:27

LP  Im Mitschnitt des damaligen SFB, der anlässlich des Einstandes von Riccardo Chailly als Chefdirigent des Orchesters gefertigt wurde, hat der Dirigent bereits alles im Griff. Er hält die Tempi exakt, hat stets ein Auge auf das Holz und lässt uns die horizontalen Schichten der Komposition exakt verfolgen. Das Orchester verfügt über eine sehr gute Innenbalance, einen reichhaltigen Klang, ein exzellentes Marcato. Es spielt beschwingt und musikantisch auf. An die virtuose, völlig ungehemmte Leichtigkeit des Cleveland Orchestra in der Einspielung Chaillys nur vier Jahre später, kommt es nicht heran.

Auch der zweite Teil beginnt atmosphärisch dicht, klanglich leicht und luzide. Das „très lointain“ der Hörner (Zf. 89) wird sehr gut umgesetzt (auch von den Rundfunktechnikern). Das Orchesterspiel wirkt differenziert. Das Vivo ab Zf. 104 rasant. Ungeschnitten und ein Vergnügen zuzuhören. Was für ein Unterschied zur Schnitzeljagd bei Barenboim. Durch die Taktwechsel wird das Orchester sicher und recht locker geführt. Nur die beiden Schlussakkorde fallen zusammen.

Die Crux dieser Einspielung ist ihr Klang. Er lässt das Orchester zwar gut gestaffelt hören und legt es in ein gutes Panorama, aber die Dynamik lässt zu wünschen übrig, wirkt rundfunkmäßig komprimiert. Zudem wirkt der Gesamtklang wenig brillant, sogar stumpf. Kein Vergleich zur Decca-Aufnahme mit Chailly aus Cleveland von 1985.

 

4

Ernest Ansermet

Orchestre de la Suisse Romande

Decca

1957

15:52  17:45  33:37

Ernest Ansermet, ein langjähriger Weggefährte des Komponisten und Nachfolger Pierre Monteuxs bei den „Ballets russes“ Djaghilews, hat bereits eine Mono-Aufnahme im Jahre 1950 für Decca produziert. Decca selbst hatte damals schon ein Tonstudio in der akustisch hervorragenden Genfer Victoria-Hall installiert und immer auf dem neuesten Stand gehalten. Die erste Stereo-Aufnahme in Genf datiert bereits von 1954. Daher gibt es sehr viele Einspielungen von Ansermet und dem Orchester, die meist den damaligen Standard definierten. Zumindest aufnahmetechnisch. Wie bei Boulez´ erster Einspielung begrüßt uns zur Introduktion ein klanglich sehr helles Fagott französischer Bauart, das wahrscheinlich ähnlich klingt, wie es 1913 bei der Uraufführung geklungen haben mag. Die Intonation ist problematisch. Im weiteren Verlauf scheinen sich die verschiedenen Intonationsprobleme im Holzbläsersatz zu addieren. Der Gestus erscheint erheblich „impressionistischer“ eingefärbt, wie z.B. bei Ancerl oder dem Komponisten selbst. Monteux mag hier ein Wahlverwandter sein. Die „Abstriche“ ab Zf. 49 wirken recht konziliant, klingen nicht mit der Schärfe Ancerls. Die Flatterzuge bringen die Genfer sehr gut, oft genug hört man sie gar nicht. Die Gesamtatmosphäre erscheint stimmig. Klanglich bleibt das Blech bisweilen in der Lautstärke hinter den Streichern zurück. Die Transparenz verschlechtert sich bei orchestralen Massierungen, sodass sogar die Gran Cassa zu verschwinden droht. Dieses Phänomen ist kaum auf die Technik zurückzuführen. Im „Danse de la terre“ fehlt das Tam-Tam gänzlich. Das Orchester kommt an die Virtuosität der besten nicht heran und scheint auch dynamisch begrenzt, die lauten Instrumente (Blech, Gran Cassa) ragen dynamisch nicht aus dem Gesamtklang hervor. Das gilt auch für den „Danse sacrale“ der nicht mit dem beherzten Zugriff und der gleichen Spannung gegeben wird, wie dies bei Ancerl gelingt. Er klingt recht hell und das ekstatische Tempo der besten fehlt auch.

Noch eine kurze Ergänzung zum Verhältnis Ansermet-Strawinsky. Später kam es zu Verstimmungen im so viele Jahre freundschaftlichen Verhältnis. Bei Ansermet wegen der Zuwendung Strawinskys zur 12-Ton-Musik nach Schönbergs Tod, den er nicht nachvollziehen konnte und umgekehrt, weil Ansermet die vielen Neufassungen, die Strawinsky von seinen Werken (meist aus Copyright-Gründen) anfertigte, heftig kritisierte.

Ansermet beschreitet interpretatorisch einen Mittelweg zwischen Strawinskys Nüchternheit und dem überhitzten und bisweilen überzeichneten Gestus eines Gergiev. Heute vermisst man die Klarheit und kompromisslose Offenlegung der Faktur und eine bessere Orchesterleistung. Das kundige Dirigat ist zu würdigen.

Klanglich erwartet uns keine völlige Transparenz bei vollem Orchestereinsatz. Der Klang wirkt für heutige Ohren etwas dünn. Er ist aber für die Aufnahmezeit schon recht voll und brillant.

 

4

Eiji Oue

Minnesota Orchestra

Reference Recordings

1996

15:20  17:55  33:15

Das Fagott klingt in dieser Einspielung in der hohen Lage mehr wie ein Sopransaxophon. Bei Oue wirken die Marcati wenig heftig, was dem „Tanz der jungen Mädchen“ nicht schlecht bekommt. Auch das Sostenuto e pesante (ab Zf. 49) klingt sehr leicht (also keineswegs pesante) und kaum sostenuto (gehalten), auch die Phrasierung bleibt locker. Überhaupt wirkt das Stück nun wenig schwer, trotz der guten Präsenz der Basslinie. Die Tempogestaltung meidet die Extreme, der Gestus bleibt meist unforciert.

Das Orchester spielt weit weniger glatt aber auch weniger mühelos als das Orchester aus Philadelphia bei Nézet-Seguin oder das MET Orchestra. Die Darbietung wirkt lebendig vor allem in den schnelleren, eruptiven Passagen, die leisen geraten meist kühl und ausdrucksschwach. Einen spezifisch eigenen Weg schlägt Oue mit dieser Interpretation nicht ein.

Die einzelnen Instrumente werden sehr gut fokussiert, das Gesamtklangbild wirkt aufgeräumt, sauber und sehr dynamisch, verbreitet aber wenig Wärme, es ist ja auch noch Winter. Die Gran Cassa klingt besonders wenn man die HDCD-Kodierung beim Abspielen nicht aktiviert bisweilen rekordverdächtig brutal. Insgesamt hat der Klang wenig Schmelz, was besonders von den Streichern ausgeht (bzw. ihrer Aufnahme).

 

4

Krzystof Urbánski

NDR Elbphilharmonie Orchester, Hamburg

Alpha

2016

16:00  19:45  35:45

CD und Blu Ray  In dieser Einspielung aus der Elbphilharmonie kommen wir in den Genuss eines Holzbläserspiels auf höchstem Niveau. Die Tempi sind alles andere als hastig und strahlen viel Ruhe aus. Das präzise Spiel wirkt nie so glatt wie z.B. bei Salonen und dem Philharmonia Orchestra oder Nézet-Seguin. Nachteilig macht sich bemerkbar, dass die Balance zugunsten der Bläser verschoben ist, oder vielmehr umgekehrt, dass die Streicher viel zu schwach ins Bild kommen. Das Spiel mutet sehr subtil an, kann jedoch über weite Passagen keine rechte Spannung aufbauen, sie hängt sogar ein wenig durch. Auch der „Danse sacrale“ beginnt ohne Spannung zwar sehr präzise und deutlich, aber auch sehr langsam. Unbegreiflich ist es, dass nun die Bläser wie weggedimmt erscheinen. Wenn eine Tänzerin dafür in den Fokus rücken würde, wäre das noch hinnehmbar, dem ist aber nicht so. Gemeinsam mit dem fast schon zeitlupenhaften Tempo fehlt dem Tanz fast jeder Biss und er wirkt insgesamt flau und wenig mitreißend. Die Gran Cassa klingt allerdings uneingeschränkt furchteinflößend. Das allein reicht aber nicht.

Der Klang der CD ist füllig und körperhaft, sauber und klar, luftig und gut gestaffelt, dynamisch weit, jedoch wenig sonor. Die Streicher müssten präsenter sein, auch um den Bläsern ein adäquates Gegengewicht zu bieten. Der Klang könnte opulent genannt werden, wären die Streicher fülliger und wärmer eingefangen worden. Ob dies am Klang dieser Instrumentengruppe, an der aufnahmetechnischen Disposition oder an einer Eigenheit des Konzertsaals liegt, ließe sich kaum entscheiden, wenn der CD nicht auch noch eine Blu-Ray vom Konzertmitschnitt beigelegt wäre, der zwei Monate später als die CD-Aufnahme, ebenfalls in der Elbphilharmonie, entstanden ist. Im gehörten 5-Kanal-Modus (DTS Master-Audio 5.1) werden die Streicher gut, recht plastisch und im besseren Verhältnis zu den Bläsern positioniert. Am weichen, wenig bissigen, entfernten Gesamtklang ändert sich jedoch nichts, genauso wenig wie an den gewählten Tempi, die den Rhythmus zwar leichter ausführbar werden lassen, aber auch wenig ekstatische Zuspitzung hervorbringen. Man sieht jedoch, wie effektvoll der junge, auswendig dirigierende Dirigent das Orchester durch das Werk führt. Das Hamburger Publikum war begeistert.

 

4

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

DG

1963-64

15:31  19:01  34:01

Zum 50jährigen Jubiläum 1963 ist Karajans erste Einspielung aus der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche nicht ganz fertig geworden. Eine Nachproduktion Anfang 1964 war noch erforderlich. Auch zu dieser Einspielung gibt es eine Kritik vom Meister persönlich, geschrieben im Oktober 1964 für die Zeitschrift HI-FI Stereo, teilweise aus Verärgerung über die unnützen Verallgemeinerungen in den meisten Schallplattenrezensionen. Die können wir uns nicht entgehen lassen:

„Resümee: Die Aufnahme ist im Allgemeinen gut, die Aufführung im Allgemeinen seltsam, wenn auch auf ihre eigene Weise verfeinert? in der Tat verfeinert: ein domestizierter Wilder, kein wirklicher. Der Hauptfehler liegt im Hang zum sostenuto; hier sind die Längen der Töne eigentlich dieselben, wie sie bei Wagner oder Brahms wären: das dämpft die Energie der Musik und lässt das, was an rhythmischer Artikulation vorhanden ist, mühsam erklingen. Aber vielleicht hätte ich damit beginnen müssen, dass die Musik der Kultur ihrer Ausführenden fremd ist. Schönberg erkannte sie als einen Angriff auf die mitteleuropäische Tradition, als er sagte, es erinnere ihn an »die wilden Negerpotentaten, die nichts weiter anhaben als Krawatte und Zylinderhut«. (Als ihm 1925 berichtet wurde, ich hätte erklärt, sein Zwölftonsystem sei eine Sackgasse, antwortete er: »Es gibt keine sackere Gasse als >Sacre<.«) Aber ich zweifele, ob „Le Sacre“ befriedigend im Rahmen der Tradition des Herrn von Karajan aufgeführt werden könnte. Ich möchte nicht unterstellen, dass er nun dabei nicht in seinen Tiefen sei, sondern dass er in meinen Untiefen ist? beziehungsweise meinen einfachen Massenbildungen und Vergegenständlichungen. Es gibt im Sacre du printemps einfach keine Bereiche der Seelenforschung.“

Zu ergänzen wäre, dass die Einspielung weniger transparent klingt als die allermeisten hier versammelten. Das karajansche „Sfumato“ ist jedoch in vielen seiner Einspielungen noch stärker zum Einsatz gekommen. Die ausgeprägte Legato-Kultur Karajans findet in diesem Werk einfach nicht das passende Objekt. Rhythmisch ist der „Sacre“ sowieso ein Brett, dass sich von Karajan nur schwer bohren ließ. Er übte immer weiter daran und verbesserte sein Ergebnis schließlich in der zweiten Studioaufnahme. Sicher nahm er sich Strawinskys Kritik zu Herzen (vielleicht nur insgeheim). Die Berliner hätten mit Dorati, Fricsay oder Markevitch damals sicher ein ganz anderes Ergebnis hinbekommen, aber auch mit Karajan spielen sie motiviert auf. Wo bekommt man überhaupt so eine schöne Flöte oder so ein schönes Horn geboten? Glenn Gould meinte damals zu der Einspielung, sie sei die fantasievollste und für sich genommen die inspirierteste, wobei unbekannt ist, wie viele er überhaupt kannte. An romantisch leuchtenden Klangfarben wird nicht gespart. Seltsamkeiten gibt es allerdings auch. Von Zf. 32 bis 37 („Jeu du rapt“) dreht man plötzlich den Pegel runter (wahrscheinlich ein eingesetztes Stück vom Vorjahr?). Die Akzente wirken nicht immer hart genug. Das Orchester spielt nicht immer ganz zusammen, der ein oder andere Rhythmus gerät ein wenig weich. Das ppp gelingt aber, wie so oft bei Karajan unerhört gut und die Strahlkraft des Bleches ist überragend, klingt mitunter aber mehr nach Strauss, Brahms oder Wagner, als spezifisch nach „Sacre“. Was aber auch daran liegen könnte, dass man das Orchester damit am besten kennt und sofort mit diesen Komponisten assoziiert. Die Percussion wirkt klanglich zurückgedrängt, fast so, als wollte man nicht so viel von ihr hören.

In der Introduktion wird jedes Legato und Cantabile dankbar und eifrig angenommen und schönst möglich ausgeformt. Die Flageoletts der Geigen klingen einmalig schön. Ein Fest an Klangfarben mit durchaus geheimnisvoller Wirkung. Die dynamische Abstufung ist überaus verfeinert und vom Papier her zutreffend. Diese Überfeinerung mag manch Hörer/in dennoch geschmäcklerisch vorkommen. Heidnisches Russland trifft Galeries Lafayette sozusagen. Auch bei Karajan sind die Triolen der Pauke eigentlich zu schnell (1 nach 121, 122, 3 nach 122 und 3 nach 124), das machen aber einige so (die Minderheit). Die Streicher klingen mit der Sordine unglaublich schön. Details wie die „Zwölftolen“ der Trompete (1 nach 134) fallen dagegen unter den Tisch. In der „Action rituelle des ancêtres“ bleibt Karajan nicht ganz im Tempo. Der rhythmisch so tückische „Danse sacrale“ wirkt recht langsam (wie bei Urbánski) und wie vorsichtig durchgezählt. In der zweiten DG-Aufnahme gelingt Karajan das viel besser. Es kommt einem so vor, als wäre überall ein Bindebogen mitgedacht worden. Reduzierte Ekstase.

Der Klang belässt das Orchester in natürlich wirkenden Relationen zueinander, nichts wirkt aufgeblasen oder zurückgesetzt. Aufnahmetechnisch dieselbe Disposition wie bei Brahms oder Tschaikowsky. Weich und rund wie immer. Wie meist bei den Berlinern: gute Durchzeichnung der Basslinie. Insgesamt ein wenig streicherlastig (wie immer beim Karajan jener Zeit). Die Gran Cassa fällt nicht aus dem Gesamtklang heraus, aber auch kaum auf.

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4

Teodor Currentzis

MusicAeterna

Sony

2013

15:56  19:15  35:11

Und schon wieder eine „Jahrhundertaufnahme“, aber nur wegen des Aufnahmejahres, nicht aus musikalischer Sicht. Die Introduktion in einheitlicher Lautstärke wirkt ziemlich starr, zumindest bis zum ff der Es-Klarinette. Erst ab Zf. 13 Tempo giusto wird es hier lebendiger und energetischer. Dann allerdings drängend. Durchaus tänzerisch und sehr transparent. Die Gran Cassa ist eine wahre Wuchtwumme.  Bei Zf. 25 hören wir das Horn sehr schön von draußen. Das Orchester kommt an die Virtuosität und an den Klangfarbenreichtum z.B.  der Cleveländer bei Boulez nicht heran. Das Wilde und Archaische bleibt im herkömmlichen Rahmen einer guten Einspielung. Das Guero (die Ratschgurke) im Abschnitt „Cortège du Sage“ (Prozession des Weisen) ist unhörbar, damit ist sein einziger Einsatz „vergurkt“. Der „Danse de la terre“ stellt das Tam-Tam sehr aufmerksam vor, wirkt ziemlich hurtig und kühl und lässt die extreme Ekstase (Markevitch, Dorati (1953 und 59), Bernstein (1958) vermissen.

Das Tempo der zweiten Introduktion wirkt langsam und träge, eine besondere Atmosphäre will sich nicht einstellen.  Auch eine Vorahnung auf das, was noch kommen soll, bleibt aus. Irgendwie einschläfernd.  An 1 nach Zf. 103 schaltet Currentzis dann auf stürmisch. Es gibt jedoch immer wieder spannungslose Abschnitte. Der „Danse sacrale“ wirkt dann lahm und lasch, wie durchbuchstabiert, als Ganzes irgendwie desinteressiert und lustlos. Es fehlt vor allem ein crispes Tempo. Einige interessante Details retten nicht viel. Wir vermissen die Überraschungsmomente und/oder die Spontaneität von Currentzis´ Mozart-Aufnahmen. Gut gespielter, gut klingender Durchschnitt.

Der Klang zeigt eine gute Transparenz und eine ordentliche Staffelung. Die Dynamik ist gut. Die Körperhaftigkeit bleibt für so eine relativ aktuelle Aufnahme hinter der Erwartung zurück. Der Gesamtklang wirkt ein wenig seziert und steril, bleibt nur eine Summe von Einzelheiten ohne zu einem klingenden Plenum zu werden.

 

4

James de Preist

Oregon Symphony Orchestra

Delos

2000

15:19  16:44  32:03 

Das Fagott-Solo ist so präsent und plastisch, dass es sehr nah am Ohr der Hörer erklingt. Das gilt auch für alle weiteren Soli der Introduktion, die in der typisch amerikanischen Ton- und Farbgebung erklingen. Vor allem bei den Streichern ist das Spiel mitunter rhythmisch etwas verschliffen. Der „Abstrich“ bei den Streichern bei „Rondes printainières“ klingt wenig gewichtig. Das Spiel wirkt als Ganzes nicht gerade leichtgängig, aber auch nicht schwerfällig. Das Orchester ist ausgeglichen besetzt, spielt ziemlich schlackenlos, wenn auch nicht übermäßig brillant. Die Tempi überzeugen, der Gestus erscheint an den betreffenden Stellen wenig eruptiv. Die „Klangregie“ des Dirigenten ist untadelig, wenn man auf etwas Biss verzichten kann. So wird gerade die Intro zum zweiten Teil feinsinnig ausgehört, jedoch mit impressionistischer Note. Dass die Pauke nur schwach durchkommt, ist ein Verlust. Bei der dynamischen Gran Cassa gelingt das viel besser, was den Verlust bei der Pauke aber umso auffälliger werden lässt im ansonsten gut organisierten Klang. Der „Danse sacrale“ wird flüssig gespielt in einer insgesamt zurückhaltenden Gesamtlautstärke, nur um gegen Ende ohrenbetäubende Grade zu erreichen (kein Lärm!). Auch die Pauke fordert jetzt selbstbewusst ihr Recht. Die gut abgestufte Gran Cassa schießt nun quasi explosionsartig „den Vogel“ ab.

Gut gemeistert und dabei ohne ins Schwitzen zu kommen, eine solide Unternehmung.

Homogen, klar und deutlich, jedoch nicht wie bei Currentzis beinahe schon seziert, wirkt der Gesamtklang sogar einigermaßen warm und natürlich abgetönt.  Das Blech und das Holz kommen besser zur Geltung als die zurückhaltenden Streicher. Besonders den Violinen fehlt die rechte Substanz.  Die Dynamik ist in Ordnung, abgesehen von der am Ende „den Vogel abschießenden“ Gran Cassa. Es fehlt insgesamt ein wenig an Strahlkraft.

 

4

Eduardo Mata

Dallas Symphony Orchestra

Dorian

1991

16:39  19:35  36:14

Bei Eduardo Mata erklingt die Introduktion mit den genauso vorgesehenen leisen Tönen. Sie wirkt hier aufsehenerregend schüchtern und unschuldig, wie es bisher noch nie geklungen hat. Im weiteren Verlauf stört dann jedoch das tranige Tempo und die teils behäbigen Akzente. Das Spiel ohne Drive wirkt beschaulich, so als dufte es bereits nach Veilchen und die Krokusse und Narzissen stünden bereits in voller Blüte. Ob Mata sein Orchester nicht überfordern wollte? Dafür gibt es keine Anzeichen, denn zumindest in diesem Tempo spielt es makellos. Der Gestus wirkt nicht durchbuchstabiert, das wäre in dem Zusammenhand unbedingt zu erwähnen. Erstaunlicher Weise bringt Mata bei Zf. 48 tranquillo nun ein zügiges Tempo. Das Warum bleibt sein Geheimnis. Ab Zf. 49 Sotenuto e pesante ist er aber sogleich wieder im alten Fahrwasser. Beim „Danse de la terre“ kommt keine archaische Wildheit auf. Viel domestizierter noch als bei Karajan (1964). Das revolutionäre im Gestus der Musik bleibt ganz weit im Hintergrund.

Bei der Introduktion zum zweiten Teil werden die impressionistischen Farbreize gut herausgearbeitet. Man fühlt sich eher einer lähmenden Schwüle (Largo), denn vorfrühlingshafter Kühle ausgesetzt. Dem dolcissimo (Zf. 87) wird das Spiel vorbildlich gerecht. Insgesamt wirkt die Szenerie durchaus geheimnisvoll. Das Tänzerische der folgenden Abschnitte bleibt durch das behäbige Tempo etwas unterbelichtet. Das „Ritual“ wirkt dadurch hingegen treffend statisch. Es fehlt dieser Einspielung keineswegs an vorbildlicher Detailarbeit, so sind die „Zwölftolen“ der Trompete hervorragend hörbar (Zf. 134) und der Hörnerchor (1 nach 138) wird exzellent präsentiert, ihr fff überstrahlt den Rest des Orchesters, wie es die Partitur nahelegt. Der „Danse sacrale“ fällt einerseits mit mustergültiger Detailarbeit und andererseits mit der angezogenen Handbremse auf, mit der es hier voran geht. Die Partitur könnte wohl mitgeschrieben werden, aber kann man sich bei dem Tempo wirklich tottanzen?

Das Orchester wird besonders in die Tiefe des Raums sehr gut gestaffelt, es fehlt hingegen anspringende Präsenz. Die Transparenz ist sehr gut, die Instrumente werden sauber und genau fokussiert. Die Klangfarben wirken bereits natürlich und warm getönt. Die Gran Cassa verfügt mit ihrer besonders weit gespreizten Dynamik über hohe Schauwerte.

 

4

Rafael Frühbeck de Burgos

New Philharmonia Orchestra London

EMI

1966

15:52  18:28  34:20

Diese Einspielung ließ die Hörer bereits 1966 in der Introduktion tief in das Orchester hineinhören. Bei Zf. 8 wird die Altflöte zwischen Piccolo und großer Flöte erstmals völlig präsent gemacht. Das Spiel des Orchesters wirkt spannend, die Akzente gelingen besonders grell und Genauigkeit geht vor Tempo. Eine musikalische Darbietung, die das Rohe der Komposition auch durch schönes Spiel und Legato-Kultur konterkarieren möchte, ähnlich wie bei Karajan. Wie er lässt auch Frühbeck die einzelnen Blöcke kraftvoll aufeinanderprallen. Sostenuto e pesante klingt hingegen zu leichtgewichtig. Bei Frühbeck wirkt „Sacre“ eher wie ein lebendiger Organismus, weniger sacral-statuarisch. Das Orchester spielt recht kontrastreich und engagiert, aber nicht ganz perfekt. Beim „Danse de la terre“ wird leider eine Hallglocke über das Orchester gezogen, die merklich Transparenz raubt. Traute man dem Orchester nicht zu, einem scharfen Blick standzuhalten?

Auch im weiteren Verlauf erweisen sich die leiseren Partien als die starken. Das fängt schon bei der Introduktion an, die vielgestaltig und ausdrucksstark erscheint. Sie werden auch vom Team der Technik transparent und mit viel Präsenz gefördert, während die lauten immer gefährdet erscheinen, als wäre nicht genug Kapazität für die Dynamik des Orchesters vorhanden. 1959 bei Markevitch gelang das noch viel besser. 

Noch schnell zwei Anmerkungen: Bei Zf. 129 erreicht Frühbeck ein suggestives Spiel wie beim Stierkampf, bei Zf. 134 gibt es keine „Zwölftolen“ von Trompete und Flöte. Der „Danse sacrale“ erklingt langsam und behäbig, jedoch differenziert und ziemlich spannend. Die Marcati und sf werden stark herausgestellt. Trotz langsamen Tempos gute Zuspitzung. Je lauter das Orchester spielt, desto schärfer und schriller erscheint der Klang. Knackig und straff ist er nicht. In dieser Einspielung hat die Technik mehr Probleme als das musikalische Personal.

Vernehmbares Rauschen, recht plastisches, groß dimensioniertes, gut gestaffeltes Klangbild, leicht hallig. Transparenz und Präsenz sind so lange in Ordnung, bis das Orchester voll aufdreht, dann wird es unübersichtlich, bisweilen zudem auch schrill. Der zu unbedämpfte Raum führt dann zu einer gewissen Härte, wirkt dann blechern und scharf. Die Violinen klingen mitunter silbrig und wenig sonor, Gran Cassa und Pauke weit entfernt und wenig wuchtig. Sie sind sehr klein abgebildet. Die Pauke wirkt zu weich.

 

4

Djansug Kachidze

Tiflis Symphony Orchestra

HDC

unbekannt

17:31  18:32  36:03

In Tiflis wird das Fagottsolo in eine sakrale Aura entrückt. Die Introduktion erhält besonders sehnsuchtsvolle Züge. Im weiteren Verlauf wird die folkloristische Herkunft des Stückes deutlich gemacht. Der Trompeteneinsatz 5 Takte nach Zf. 21 bleibt aus. Da der Aufsprechpegel bereits sehr hoch ist, erlangen die dynamischen Spitzen einen ohrenbetäubenden Level. Trotzdem bleibt der Orchesterklang klar und transparent. Das Sostenuto e pesante wirkt leidend und gedrückt., sodass die „Frühlingsrundtänze“ im weiteren Verlauf auch keinen Grund zur Freude evozieren. Die „Abstriche“ der Streicher klingen wie unbeantwortbare Fragen. Die Melodiefetzen werden, ohne jeden Versuch sie mittels Kantabilität zu erheben, in ihrer ganzen Einfachheit voll ausgespielt. Horntriller klingen ziemlich harmlos, dafür die Tuben 3 T. vor Zf. 65 ff besonders bedrohlich. Der „Danse de la terre“ wirkt wohl sortiert aber nicht besonders aufregend. Das Orchester bietet solide Mittelklasse, einige gut hervorgezauberte Details bei zumeist sehr gelassenen Tempi.

In der Introduktion zum zweiten Teil werden die Dissonanzen ungeschönt ausgespielt, sie klingt leider durchweg viel zu laut. An Präsenz und Transparenz mangelt es hingegen überhaupt nicht. Die Gran Cassa wirkt über lange Strecken schwach, als ob keine Reserven mehr da wären, erst ab Zf. 124 erhebt sie ihre eigenständige „Stimme“. Im „Danse sacrale“ hören wir ein beeindruckend entschlossenes Marcato, das Tam-Tam kommt hervorragend heraus, wie die Schläge einer metallenen Peitsche. Eine bemitleidenswerte „Auserwählte“, die auch das noch ertragen muss. Zum Finale hin wird heißblütig gesteigert.  Insgesamt ist die Einspielung keineswegs so randständig in der 4er-Grupee platziert, wie es aussieht. Bis zur nächsten folgt ein gehöriger Abstand.

Der extrem hohe Aufsprechpegel bewirkt eine enorme Präsenz der Holzbläser, die Instrumente scheinen zum Anfassen vor den Hörern ausgebreitet. Der Klang ist über weite Passagen hin sagenhaft transparent, sehr großräumig aber bei höherer Lautstärke leicht schwammig. Vordergründig wirkt die Aufnahme extrem dynamisch, was sich aber nach dem korrekten Einpegeln normalisiert.

 

 

 

3-4

Sixten Ehrling

Schwedisches Radio-Sinfonie-Orchester Stockholm

BIS

1988

15:47  17:43  33:30

Auch Sixten Ehrling mit dem schwedischen Orchester erreicht eine große Deutlichkeit in der Introduktion. Die Staccati kommen aber längst nicht so spitz und scharf wie bei Dorati. Ehrling lässt die Piccolo-Flöte ganz besonders als schrilles Element hervortreten, diese Chance lassen die allermeisten Dirigenten ungenutzt. Auf eine exakte Realisierung des Notentextes kann man sich bei Sixten Ehrling verlassen. Der Darstellung fehlt es jedoch an jugendlicher Frische, ohne dass sie müde wirken würde. Das immanent Wilde kommt für den Hörer, nur durch seinen weiten Abstand zum Geschehen, gefiltert und mittelbar zur Geltung. In Anbetracht des vom guten, aber nicht überragenden Orchester getriebenen Aufwands ist das bedauerlich.

Auch im zweiten Teil wirkt die Darbietung dynamisch sehr verhalten, denn nur das Schlagwerk bringt die erforderliche Durchschlagskraft mit.  Im „Danse sacrale“ werden vom Spiel her alle Schleusen geöffnet, die erforderliche Wirkung bleibt durch die erhebliche Distanzierung jedoch weitgehend versagt.

Der Klang zeigt eine übertriebene Tiefenstaffelung, wie so oft bei diesem Label wirkt das Orchester zudem zurückgesetzt, was die Distanz weiter erhöht. Musik zum Zuschauen, nicht zum Miterleben ist die Folge. Fehlt so doch jede dazu erforderliche anspringende Präsenz. Dennoch wird eine sehr gute Transparenz vor allem der Holzbläser erreicht. Der Gesamtklang erscheint etwas weniger rund und klangfarbliche Kühle macht sich breit (Violinen!).

 

3-4

Daniel Barenboim

Chicago Symphony Orchestra

Teldec

2000

16:05  18:16  34:21

Von Daniel Barenboim sind uns zwei Einspielungen bekannt, wovon die erste aus Paris noch etwas mehr unter der Unerfahrenheit des Dirigenten mit einem richtig großen Orchester und komplexen Rhythmen leidet. Die zweite aus Chicago wirkt auch aufnahmetechnisch besser durchgezeichnet. Sie beginnt aber, wie bei den alten Monos und einigen frühen Analog-Aufnahmen, sehr laut, vom vorgegebenen p keine Spur. Die Holzbläser wirken wie herangezoomt. Im weiteren Verlauf geht es im Tempo wenig geradlinig und vom Rhythmus her bisweilen unorganisiert weiter. Wozu braucht es hier ein derartiges Rubato? Fast hat es den Eindruck, dass einzelne Takes aneinandergeschnitten wurden, die nicht ganz dasselbe Tempo hatten. Eine greifbare Atmosphäre stellt sich nicht ein. Barenboim scheint nur auf vordergründige Klangpracht aus zu sein. Diese wird auch geliefert. Es scheint, als gäbe Barenboim nur den Rahmen vor und überlasse das Orchester im Übrigen seinem Schicksal. Dieses Prozedere fängt das als fabelhaft bekannte CSO besser auf als das Orchestre de Paris 14 Jahre zuvor. So zeigt auch der „Danse de la terre“ oberflächlichen Drive aber wenig Stimmentransparenz. Man hört eigentlich nur das lauteste Blech und die heftigsten Akzente der Gran Cassa heraus, ansonsten nur Mulm. Die Einspielung erinnert an die Gergievs, gelingt aber nicht mit dessen Drang und Verve.

Auch der zweite Teil beginnt ungeniert viel zu laut mindestens mf statt p. Allerdings spielt das CSO lange nicht mehr so „impressionistisch“ wie das OdP, die Struktur ist nun besser durchhörbar. Das CSO scheint mit Barenboims Dirigierstil besser zurecht zu kommen. Es spielt kraftvoller und ein wenig unmittelbarer, mit mehr Autorität. Der „Danse sacrale“ wirkt nun besser durchgezeichnet (im Vergleich zu 1984), vom Schluss-Crescendo hört man nichts.

Der Klang ist deutlich dynamischer und präsenter als 1984 in Paris. Die Gran Cassa erheblich imposanter.

 

3-4

Charles Dutoit

Orchestre Symphonique de Montréal

Decca

1984

15:57  18:57  34:54

CD und LP  Dutoit nutzt eine Partitur von 1921, was kaum aufgefallen wäre, wenn es nicht im Booklet zu lesen wäre. Das wäre die erste offizielle Ausgabe gewesen. Gleichmäßig, nahezu akzentfrei und in einer Lautstärke zieht die Musik anfangs ihre Bahn. Aber immerhin klar durchgezogen und tadellos gespielt. Im Verlauf kommen dann zwar die Bewegung und Dynamik ins Spiel, muss ja auch, steht so in der Partitur, die Ecken und Kanten fehlen aber noch immer. Falls das Orchester den Biss bringt, mildert ihn die Akustik stark ab.

Ganz anders als bei Dorati (1953 und 59, weniger 81) wird bei maßvollen Tempi die wohlige Kantabilität hier hochgehalten. Das Spiel in den leisen Partien wirkt deutlich und geschmeidig. Kontrastreichtum und ländliche Rauheit sucht man vergeblich, geboten wird stattdessen großstädtischer Feinschliff. Durch die Klangtechnik werden wir auf Distanz gehalten.  Das Orchester wirkt in keiner Weise aus der Reserve gelockt. Wenn wir an die hervorragende Einspielung Dutoits bei der „Sinfonie in drei Sätzen“ denken, wundern wir uns nun über die vertane Chance bei „Sacre“.

Tiefe Abbildung und leichter Hall lassen auf eine Kirche als Aufnahmeraum schließen. Das Klangbild und die leichte frühdigitale Härte erinnern an die Dorati-Einspielung von 1981, die uns aber insgesamt besser gefiel. Die Klangfarben wirken bei Dutoit kälter und abweisender. Der Sound des Orchesters wirkt in Montréal sogar ein wenig künstlich, wie leblos. Keine Chance für den Frühling.

Die LP verstärkt das softe Klangbild noch ein wenig, ein Rezept gegen die digitale Härte hat sie leider auch nicht.

 

3-4

Leonard Bernstein

London Symphony Orchestra

CBS-Sony

1972

15:47  19:40  35:27

Diese mittlere Einspielung Bernsteins entstand anlässlich eines Gedenkkonzertes zum einjährigen Todestag des Komponisten in London, wozu der Dirigent eingeladen wurde. Man nutzte dazu das EMI-Studio in der Abbey Road. Es war vielleicht nicht die beste Idee, dafür ein Studio der Konkurrenz anzumieten, denn aufnahmetechnisch ist der Einspielung zumindest von unserer CD gehört eine glatte Enttäuschung. Mittlerweile gibt es bei Dutton eine SACD-Ausgabe, die das originale Quadro-Format der Aufnahme wieder zugänglich macht. Da könnte es sich ganz anders anhören.

Bernsteins Herangehensweise erscheint nun rubato-reicher und mehr von romantischer Attitüde erfüllt als noch 1958. Vielleicht lag es an dem noch nahen Tod des Komponisten? Die Holzbläser (besonders Oboe und Englischhorn) klingen hart, die Tutti wirken monumentaler (z.B. Zf. 32 ff), das Orchester generell wenig transparent, im ff des Tutti wird es auch schon einmal tumultös. Das Orchester wirkt sehr stark gefordert, als wolle es Bernstein noch besser machen als zuvor. Wenig schlank wirkt der Klang und nicht selten hollywoodartig aufgebauscht. Der „Danse de la terre“ klingt zwar enorm effektvoll aber weniger strukturiert und mitreißend gespielt, klingt er einfach zu massig.

Noch ein paar Stichworte zum 2. Teil. 1 vor Zf. 85 klingen die beiden Trompeten als spielten sie in der „West Side Story“. Bei Zf. 129 klingt das Englischhorn urplötzlich viel weiter vom Hörer entfernt als noch in der ersten Einleitung. Bei Zf. 132 klingen die Trompeten wie aus weiter Ferne, vielleicht um einen Quadro-Effekt zu demonstrieren oder zu verstärken? Das Tam-Tam kommt sehr gut ins Bild. Der „Danse sacrale“ klingt in dieser Akustik lärmend, vor allem in den letzten Passagen. Viel weniger suggestiv als 1958. Den Musikern sei daraus kein Strick gedreht. Es war ein Spiel auf fremden Platz, auf dem es akustisch nicht harmonierte. Übrigens: Auch in London lässt Bernstein den letzten Akkord mit Verstärkung von Tam-Tam, Zymbel (?) und Ratschgurke spielen.

Klanglich ist diese Einspielung, das kam ja bereits heraus, weniger gelungen, vielleicht war das Beatles-Studio einfach zu klein für das riesige Orchester? Im Tutti ist der Klang jedenfalls viel weniger transparent als 1958 im New Yorker Hotel. So ist eine Tendenz zum mulmigen Durcheinander zu konstatieren. Es lässt sich nur schwer einen Vordergrund und einen Hintergrund ausmachen. Insgesamt zwar voluminöser als 1958, aber nun klotzig. Die eindeutige Empfehlung geht an den 58er Jahrgang.

 

3-4

Simon Rattle

National Youth Orchestra of Great Britain

ASV-Brillant

1977

15:33  17:46  33:19 

In Simon Rattles erster Einspielung dirigierte es, selbst erst 22 Jahre jung, das Jugendorchester Großbritanniens. Das Fagott zu Beginn wirkt entfernt, um nicht zu schreiben entrückt. Das restliche Holz bleibt ebenfalls in dieser Position. Er schlägt ein relativ entspanntes, mitunter betuliches Tempo an, vielleicht auch um das jugendliche Orchester nicht in Schwierigkeiten zu bringen. In diesen Tempi (objektiv sind sie meist schneller als sie wirken) machen die Jugendlichen jedoch einen durchaus sattelfesten Eindruck, ohne je an das Simon Bolivar heranzureichen. Einige Soli und mitunter auch das Zusammenspiel wackeln etwas, es fehlt eben noch ein wenig an selbstbewusster Souveränität. Vor allem bei Trompeten und Hörnern könnte die Treffsicherheit, den höchsten Standard anlegend, noch besser sein. Trotzdem entwickelt sich ein recht spannender Gestus, aber nicht, weil man den jungen Musikern die Daumen drückt, dass alles gut geht.  Das Tam-Tam wird selten so angemessen ins Bild gerückt, nämlich richtig grell. Der „Danse de la terre“ ist besonders gut eingeübt worden, da merkt man den jungen Virtuosen die Lust am Musizieren besonders an. Das hohe Tempo zu gehen muss ja auch Spaß machen, wenn es so gut klappt.

Auch die zweite Introduktion wird gut gestaltet und im abschließenden „Danse sacrale“ erreicht das junge Orchester sogar eine sehr gute Transparenz, spielt fast keine Fehler und klingt sogar richtig sonor. Die Hörner bringen nun einen großartigen Sound hervor. Rattles Tempo wirkt erneut langsam, nicht aus Rücksicht, denn in seiner zweiten zehn Jahre später schlägt er das gleiche Tempo an. Langer Nachhall am Ende. Insgesamt eine tolle Leistung der jungen Musiker, die sich während der Aufführung stets steigern konnten.

Leider wirkt der Klang relativ distanziert, bleibt aber dabei noch erstaunlich transparent.

 

3-4

Dennis Russell Davies

Sinfonieorchester Basel

Eigenproduktion des Orchesters

2013

17:24  18:20  35:44 

Diese Einspielung, erneut eine aus dem „Jahrhundert“-Jahr 2013, wirkt durchgängig ein wenig konventionell und mit zurückhaltenden Tempi musiziert. Mitunter ein bisschen langweilig und buchstabiert. Das Orchester spielt insgesamt professionell aber nicht superpräzise. Es fällt beispielsweise gegenüber dem Orchester „Les siècles“ der im gleichen Jahr entstandenen Einspielung Francois-Xavier Roths in allen Belangen ab. Der Gestus wirkt, auch in den Soli etwas steif-statuarisch, was auch Teil der Interpretation sein könnte. So hat Strawinskys „Ödipus Rex“ stilistisch seine Wurzeln bereits im „Sacre“. Zugleich wirkt das Spiel auch ziemlich legato-fixiert. Nach so vielen nach Geschwindigkeitsrekorden heischenden „Danses de la terre“ wirkt der aus Basel etwas träge. Ein Tanz auf dem noch tief gefrorenen Permafrostboden.

Die Introduktion zum zweiten Teil wirkt ein wenig zu schwelgerisch und vibratoreich, bei erneut statisch-verträumtem Tempo. In dieser Einspielung will kein Drive aufkommen und auch im zweiten Teil spielt das Orchester nicht immer ganz präzise. Auch der „Danse sacrale“ klingt bieder, ohne das gewisse „Thrilling“ und wenig spritzig. Wirkt sogar etwas träge und bieder. Die Gran Cassa klingt bauchig und plump.

Die Aufnahme wirkt weniger farbstark und im ff des Tutti leicht nebulös. Wenn es leise zugeht aber schön transparent. Der Klang der Gran Cassa ist tief klingt aber oft über ihren Notenwert hinaus nach, mitunter wird sie aber auch nicht ungeschickt und fast unmerklich von den Bässen klanglich verlängert. Dynamisch wirkt die Aufnahme eingeschränkt.

 

3-4

Sir Eugene Goossens

London Symphony Orchestra

Everest

1959

16:44  20:56  37:40 

An den Erfolg bei unserem Vergleich der „Sinfonie in drei Sätzen“ kann Sir Eugene Goossens dieses Mal nicht anknüpfen, obwohl ihm auch beim „Sacre“ das damalige Monteux-Orchester zur Verfügung stand. Schon die Introduktion klingt wenig brillant, ab Zf. 11 gibt es dann schon ein erstes (bewusst herbeigeführtes?) Durcheinander. Ab Zf. 2 wird das Tempo dann sehr langsam und ohne jeden drängenden Gestus. Ab Zf. 37 wird es dann zügiger, aber ein echtes Presto wird kaum erreicht. Bei Zf. 49 pesante wird es dann sehr schwer nachdem es bei Zf. 48 bereits sehr tranquillo zuging. Der „Danse de la terre“ wirkt zu Beginn wenig transparent und blockartig, erklingt aber in einem wirklich aberwitzigen Tempo. Das Prestissimo wird voll eingelöst. Leider wird dieses Spannungsniveau im zweiten Höhepunkt, dem „Danse sacrale“ nicht mehr erreicht. Er hört sich an wie ein Probedurchlauf bei dem man noch mit sehr stark reduziertem Tempo auf größtmögliche Sicherheit geht. Insgesamt wirkt die Einspielung seriös aber betulich, die erforderliche Dringlichkeit in der Temponame fehlt, aber auch das archaisch-urwüchsige. Goossens führt das Orchester dieses Mal kaum an seine Grenzen.

Das Orchester wird gut in die Breite hinein gut gestaffelt, weniger gut in die Tiefe aber es wirkt trotzdem sehr übersichtlich. Der Klang wirkt nicht sonderlich brillant, sondern etwas gedeckt und verhangen, Die Dynamik bleibt wenig eruptiv. Kaum zu vergleichen mit Sargents „Kije“ ebenfalls bei Everest aus derselben Zeit.

 

 

 

3

Vladimir Fedoseyev

Großes Rundfunk-Sinfonie-Orchester der UdSSR

Melodiya-ZYX

1981

16:12  19:31  35:43 

Selten ist eine exzellente Interpretation so qualvoll anzuhören wie in dieser Einspielung. Dirigent und Orchester hätten eine adäquate technische Realisierung mehr als verdient gehabt, denn die Tempi sind konzise, die einzelnen Stimmen sind prima zu verfolgen, es hagelt unerbittliche Schläge und das Orchester spielt präzise wie eine Maschine. Der „Danse de la terre“ erklingt in echtem Prestissimo. Die „Zwölftolen“ von Flöte und Trompete (1 T. nach Zf. 134) werden sehr gut hörbar gemacht. Der „Danse sacrale“ wird so wild und bissig gegeben, dass förmlich die Fetzen fliegen. Mit anderen Worten alles bestens?

Nein. Obwohl uns der Klang des Orchesters bestens bekannt ist, klingt es hier wie durch den aufnahmetechnischen Fleischwolf gedreht. Leises wird laut gemacht, lautes leise. Das ff im Tutti klingt einfach schrecklich, aber nicht im Sinne von kongenial zum Stück, sondern im Sinne von unerträglich. Permanent ist ein tieffrequentes Rumpeln zu hören, bekannt von alten LPs, die Streicher klingen erbarmungslos drahtig, das Gesamtklangbild hat wenig Tiefenstaffelung, keine rechte Dynamik und einen gnadenlos harten, schrillen Charakter. Es gab einmal von dieser Einspielung eine LP, die in den achtziger Jahren höchste Bewertungen in anerkannten Fachblättern bekam. Von den dort beschriebenen uns noch gut im Gedächtnis haftenden Qualitäten, ist nach dem Remastering durch Zyx nichts mehr übriggeblieben. Der Gipfel ist der unterschiedliche Nachhall für einzelne Orchestergruppen, als ob sie separat aufgenommen worden wären. Manche bekommen sogar noch eine Echofahne mit auf den Weg ins klangliche Fiasko.

 

3

Daniel Barenboim

Orchestre de Paris

Erato

1986

16:02  18:20  34:22 

In Barenboims erster Einspielung beginnt das Durcheinander der Stimmen schon bald nach dem Fagott-Solo. Es folgt ein Musizieren an den Hauptstimmen entlang, was solange ganz gut geht, bis es komplexer wird, denn bei zunehmender Massierung der Stimmen oder auch zunehmender Dynamik, wird es auch zunehmend undeutlicher.  Ab „Jeu du rapt“ (Spiel der Entführung) rückt das Klangbild plötzlich nach hinten, da wurde wohl eifrig geschnitten. Das Spiel wirkt rhythmisch flüchtig. Die Tempi wenig stringent, eher schleppend. Das gewollt wirkende Rubato drückt eine gewisse Unsicherheit aus, statt sprudelnder Musikalität (oder sind weitere Schnitte der Grund für die Temposchwankungen?) Die Artikulation wirkt legato-geprägt und gehalten statt marcato und straff. Noch viel mehr als bei Karajans erster Einspielung. Beim „Danse de la terre“ wird das Tam-Tam auffallend gut exponiert, auch das Tempo ist gut, aber das Orchester steigert sich überhaupt nicht. Wenn die Gran Cassa nicht wäre, sowieso ein Aktivposten der Einspielung, die Lautstärke bliebe während des Tanzes so gut wie gleich.

Die Introduktion zum 2. Teil atmet den Geist des Impressionismus, ist wenig strukturiert. Der weitere Verlauf erscheint schwammig und langweilig, ohne Biss, denn dem Rhythmus fehlt es an Härte und zugespitzter Schärfe. Im „Danse sacrale“ fehlt dem Orchester die rechte Grundspannung, nur Tam-Tam und Gran Cassa irrlichtern rhythmisch und akustisch hervor, alles andere wird zum Hintergrund degradiert. Insgesamt eine sehr wenig profilierte Darstellung des Jahrhundertwerkes. Dirigieren mit eingeschaltetem „Autopilot“, das funktioniert beim „Sacre“ nicht.

Der Klang ist weit aufgefächert und suggeriert einen sehr großen Raum. Zwischen Fagott und Englischhorn liegen in der Introduktion, wenn man dem Höreindruck glauben darf, duzende Meter. Bei der Dynamik werden bei weitem nicht alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft.

 

3

Hans Peter Gmür (?)

Philharmonia Slavonica (?)

Intersound-Disky, ZYX, De Agostini, Masters Classic, VMS, Mona Lisa, Pilz, New Classical Dimension

Unbekannt, Live

16:36  17:53  34:29

Bei einer Besprechung von Aufnahmen des „Sacre“ von Hartmut Lück in den frühen Neunzigern erwähnt der Autor, dass der hier angeführte Dirigent Stein und Bein schwört, den „Sacre“ nie produziert zu haben. Da es sich um einen Live-Mitschnitt handelt, käme so allenfalls ein „Raubmitschnitt“ infrage. Da es die gleiche Aufnahme auch unter dem Dirigenten Carlos Pantelli gibt, scheint es müßig, weiter zu graben, wer nun tatsächlich der Dirigent war. Letztlich kommt diese Art von „Fakes“ aus der Fälscherwerkstatt von Alfred Scholz. Auch beim Orchester bleiben Fragen offen, so könnten es auch die Münchner Symphoniker sein, die ebenfalls bei der einen oder anderen Ausgabe dieser Einspielung genannt werden. Die Philharmonia Slavonica (die Slowakische Philharmonie oder die Slowenische?) gibt es eigentlich gar nicht. Ähnlich verhält es sich bei der Einspielung Swarowskys, der das Werk ebenfalls nie eingespielt hat. Dahinter soll sich Milan Horvat und das ORF Sinfonieorchester verbergen, dem man auf diese Weise Tantiemen vorenthalten konnte. Diese Einspielung konnten wir leider nicht kurzfristig auftreiben.

Was verbirgt sich nun hinter diesem Silberling musikalisch und klanglich? Fagott so là là, Englischhorn unschön, Oboe mit Intonationsmängeln, wenig energische Rhythmik, träge und lethargisch wirkender Gestus, staccato und marcato wenig ausgeprägt, und davon wimmelt es nur so im „Sacre“. Die Verläufe erfahren kaum Zuspitzung. Die Es-Klarinette klingt „echt schräg“ (Zf. 48), Phrasen werden teilweise nicht ganz ausgespielt. Das mittlerweile oft zitierte Sostenuto e pesante ist weder schwer noch voll, noch gehalten. Bei Zf. 54 Vivo ist die Figur der Flöten unvollständig, bei Zf. 56 erneut eine total schräge Es-Klarinette. Die Dynamik wird wenig kontrastreich gestaltet, die Crescendi klingen halbherzig. Das Orchester hat mit dem Notentext seine liebe Not.  Das Zusammenspiel ist oft mit kleinen Mängeln behaftet, oft unausgewogen und unpräzise. Alles deutet auf ein „Muckenensemble“ (Adhoc-Orchester) mit wenig Vorbereitungszeit hin. Oder ein anderes, jedenfalls mit wenig Vorbereitungszeit.

Auch dem zweiten Teil fehlt es an Klangzauber und Raffinesse. Stets erscheint die Intonation gefährdet, die Dynamik eingeebnet. Der „Danse sacrale“ klingt lahm und uninspiriert, der Dirigent hat dabei alle Mühe, den Laden einigermaßen zusammenzuhalten. Nun der langen Sätze kurzer Sinn: Man merkt hier erstmal, wie gut die anderen Orchester das schwierige Stück gemeistert haben, insofern hat auch diese Einspielung ihre Daseinsberechtigung.

Noch ein paar Worte zum Klang. Das Orchester wirkt räumlich distanziert, klingt mit wenig Fülle, wenig Tiefenstaffelung und schlecht aufgefächert. Die Dynamik ist unbefriedigend. Einige Huster und laut aufgenommene Umblättergeräusche deuten auf eine Live-Aufnahme hin, trotzdem prickelt es überhaupt nicht. Vom Kauf abzuraten.

 

3

Herbert von Karajan

Berliner Philharmoniker

Testament

1972, Live

15:31  18:08  33:39 

Auch dies ist ein Konzertmitschnitt dem der Dirigent, hätte er von seiner Veröffentlichung gewusst, dieser mit Sicherheit niemals zugestimmt hätte. Wahrscheinlich auch wegen des Todes des Komponisten 1971 wieder von Karajan aufs Programm gesetzt, erklang der „Sacre“ auch auf einer Tournee 1972, aufgenommen in diesem Fall von der BBC in der Royal Albert Hall. Es ist anzunehmen, dass die Techniker von einer anderen Sitzordnung des Orchesters ausgegangen sind, denn so unausgewogen wie er hier zu hören ist, kann man sich den Klang der Berliner eigentlich gar nicht vorstellen. Indiz dafür sind die vielen viel zu schwach und zum Teil farblos ins Bild kommenden Holzbläsereinsätze (z.B 1 vor Zf. 7: Flöte viel zu schwach, ähnlich Zf. 27). Besonders drastisch bei Zf. 40 ff hört man die Trompeten (mf) als Hauptstimme, obwohl dies in allen anderen Einspielungen einschließlich in den beiden von Karajan selbst, korrekt eindeutig die Hörner sind (f). Das birgt so wie hier geschehen keinen Sinn. Auffallend ist, wie schlecht die Hörner generell in Bild kommen. Aber auch die Akzente wirken seltsam schlaff, oft wirkt die Artikulation sogar akzentfrei. Der Gestus wirkt über weite Passagen hölzern, das Zusammenspiel spröde. Der „Danse de la terre“ erklingt kaum fiebrig erhitzt. Man hat das Gefühl, dass sich Dirigent uns Orchester nicht wohlfühlen mit dem Stück. Zumindest an diesem Abend. Vieles läuft einfach nicht richtig rund in London. Trotzdem tosender Beifall in London, was den Verdacht stärkt, dass es im Konzertsaal selbst wohl ganz anders geklungen haben mag. Karajan selbst meinte zum Konzertauftritt, dass eine bessere Horngruppe und eine bessere Unterstützung seitens der nebengeordneten Holzbläser nötig wären. Wie bitte? Die Berliner hätten eine bessere Horngruppe nötig? Wenn er da mal nicht vom eigentlichen Problem ablenken wollte.

Die Klangtechnik ist alles andere als hellhörig zu nennen. Blech und Holz sind zu weit im Hintergrund platziert, sodass das Blech wie ein Papiertiger wirkt, statt richtig die Pranken zu zeigen. Man hört zwar, dass es dasselbe Orchester ist wie 1964, aber es klingt, als wären ihm die Flügel gestutzt worden. Blech en miniature eben. Besonders die Hörner trifft es hart, so matt wie sie an diesem Abend klingen.

Wenn Karajan, dann bitte die DG-Einspielung von 1975-77 wählen.

 

3

Sir Georg Solti

Concertgebouw Orchester Amsterdam

Decca

1991, Live

15:02  18:24  33:26 

Es bleibt völlig unverständlich, wieso die CD dieses Live-Mitschnittes aus Amsterdam veröffentlicht werden konnte, denn er stand unter keinem guten Stern. Oder anders formuliert, es ging fast alles schief. Schon das Beiheft bringt außer der korrekten ersten und letzten Seite innen die Beschreibung von Soltis Einspielung mit Debussys „La mer“ und „Trois Nocturnes“, die auf der CD gar nicht enthalten sind. Dann klingt auch das Fagott bereits in der Introduktion schwerfällig und klanglich nicht top.  Ein ganz schlimmer Schnitzer unterläuft dem Pauker. Statt seinem Einsatz bei T. 6 und 7 nach Zf. 63 Folge zu leisten, bringt er ihn erst T. 8 und 9 nach Zf. 43. Da passt er dann überhaupt nicht mehr. Im weiteren Verlauf klingt dann auch einmal das weltberühmte Amsterdamer Orchester flach, wackelig und ziemlich unausgewogen, wie infiziert vom Malheur des bemitleidenswerten Kollegen. Danach ist die Aufführung nicht mehr zu retten. Es ist kaum anzunehmen, dass dem Pauker das gleiche Malheur an den zwei weiteren Abenden noch einmal unterlaufen ist, warum hat man nicht den Mitschnitt eines anderen Abends mit dem korrekten Einsatz genommen?

Zur Introduktion des zweiten Teils erscheint das Orchester ein wenig erholt, ausgewogener und klanglich voller, aber es passieren immer wieder kleine Missgeschicke, die man von ihm nicht kennt. Letztlich erklingt auch der „Danse sacrale“ für Solti untypisch ziemlich betulich, bar jeden ungarischen Feuers. Solti und dem Orchester hat man mit dieser Veröffentlichung, die übrigens zumindest in Japan immer noch im Katalog steht und käuflich zu erwerben ist, einen Bärendienst erwiesent. Unser Rat: wenn Solti, dann mit dem CSO, 1974.

 

 

Vergleich beendet am 8.6.2022