Dmitrij Schostakowitsch
Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op. 70
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Werkhintergrund:
Diese "Neunte" ist eine Unverschämtheit ohnegleichen. Ein Komponist zeigt dem glorreichen Führer der Sowjetunion die lange Nase. Und streckt ihm gleich die Zunge auch noch heraus. Keine Gesangs-Soli, kein Chor. Keine Hymne. Nicht einmal ein großes, sondern sogar ein relativ kleines Orchester. Kein Epos, kein Heroismus, keine Feier. Eigentlich nicht einmal eine Symphonie, sondern eher eine Sinfonietta, ein fünfsätziges Divertimento vielleicht sogar nur.
Auf den ersten Blick geht es ganz leicht und heiter zu. Offiziell sagt Schostakowitsch, das Werk stelle die Freude des russischen Volkes über das Ende des Krieges und den Sieg dar. Nur im 2. und 4. Satz schlägt Schostakowitsch im Moderato bzw. Largo dann in teilweise dünnen solistischen Linien andere Töne an - da klingt dann doch Trauer und Verzweiflung hinein. Im Moderato eher wenig und dann auch noch maskiert, vor allem, wenn man das vorgeschriebene schnelle Tempo wählt. Aber sonst: Jede heroische Geste wird abgebogen in ein Schmunzeln oder, noch schlimmer, in Belanglosigkeit. "Gar nicht hinhören auf das heroische Treiben", scheint Schostakowitsch uns sagen zu wollen. Die Wahrheit liegt natürlich tiefer.
Schostakowitsch wollte zunächst und tat das auch offiziell kund (was sich alsbald als ein großer Fehler herausstellen sollte), eine pathetische Antwort auf seine Achte geben, die von der Tragik des Krieges spricht. Er versuchte zunächst den Wünschen und Erwartungen des Regimes („so etwas wie Beethovens Neunte“) zu entsprechen, aber letztlich wäre es für den Komponisten eine Lüge gewesen. Das Fragment des ersten Entwurfes des ersten Satzes wurde 2006 von Gennadi Roshdestwensky uraufgeführt. Es gibt sogar eine Einspielung mit dem Polnischen Radio-Sinfonieorchester von 2009 unter Mark Fitz-Gerald. Sie dauert 6 ½ Minuten. Der Satz wäre marschartig, pompös und sehr laut geworden. Es klingt ähnlich wie bei der Siebten oder Achten. Zudem noch suchend und unentschieden, eine zündende thematische Idee hatte Schostakowitsch bis zum Abbruch noch nicht gefunden. Irgendwie merkt man der Musik an, dass kein großer schöpferischer Impetus dahintersteckt. Der Tragödie der Achten sollte dann schließlich als Gegenentwurf eine Komödie folgen, ein Satyrspiel (frei nach Frank Schneider und Michael Dasche (Deutschlandradio Kultur) in „Interpretationen“). Es sei eine Maskerade klassizistischer Klischees. Alles, so der Musikwissenschafter Frank Schneider weiter, könne auf klassische Modelle zurückgeführt werden. Der Ton sei haydnsch. Was auch Bernstein, der es ähnlich sah, in seiner Interpretation herausstellt. Das zweite Motiv von Mozarts KV 543 entlehnt (der 39. Sinfonie, bezeichnender Weise ebenfalls in Es-Dur), auch relativ viele Elemente von Beethovens Eroica sind in allen Sätzen entdeckt worden, Elemente des Schlusssatzes der Neunten Beethovens dann doch auch im 4. und 5. Satz. Was am Ende herauskam, war jedoch eine Anti-Eroica, eine Anti-Neunte. Wer sich für die Zusammenhänge der Eroica und Schostakowitschs Neunter interessiert, dem sei der Artikel von Daniel Allenbach „Eine heroische Neunte?“ nahegelegt, den man im Netz problemlos finden kann. Sie sind frappierend und reichhaltig, allerdings macht Schostakowitsch aus seinem Vorbild eine Art „Anti-Eroica“. Bei Beethoven ist es ja bekanntlich „nur“ zu einem Durchstreichen der ursprünglichen Widmung gekommen, als sich Napoléon tatsächlich zu erkennen gab. Schostakowitsch verwarf vorab schon das ganze Fragment. Er kannte ja seinen Herrscher bereits persönlich und besser als Beethoven „seinen“ Napoléon.
Als Schostakowitsch dann im Sommer 1945, nun nach Kriegsende, eine neue, klassizistisch orientierte und über weite Strecken verspielt gehaltene Neunte Sinfonie komponierte, wusste er genau, dass er sich damit den Erwartungen des ganzen Landes entzog und Publikum und Parteiobere im besten Fall erstaunen, viel wahrscheinlicher aber zumindest letztere gegen sich aufbringen würde: „Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens muss diese subtile musikalische Mischung aus Tragödie, Lyrik, Ironie und Groteske nicht nur als unverantwortlicher Unfug, sondern auch als direkte Herausforderung Stalins erschienen sein.“ Schreibt Solomon Wolkow (auch Volkov geschrieben) dazu in „Stalin und Schostakowitsch.“ Wolkow weiter: „Dabei war Josef Stalin nach dem Krieg erst recht unangreifbar geworden, hatte doch die Sowjetunion unter seiner Führung die Angriffe Nazi-Deutschlands abgewehrt und gleichzeitig an Einfluss und Autorität in der Weltpolitik gewonnen. Er konnte sich mit Recht als einer der Herren der Welt betrachten. Jetzt erwartete er, dass seine neue Rolle und Machtposition in großen Kunstwerken, die seines Genies würdig waren, besungen würde. Diese Huldigung war ihm geradezu ein persönliches Anliegen: Man wusste auch, dass Stalin sich um die Kunstproduktion persönlich sorgte (auch darum, ob sie seinen Ruhm mehrte).“ Schostakowitsch betont in seiner Charakterisierung zudem die maßlose Überheblichkeit des sowjetischen Führers: „Stalin hat ganz gewiss nie an seiner Genialität und seiner Größe gezweifelt. Doch als der Krieg gegen Hitler gewonnen war, schnappte er vollends über. Er war wie der Frosch in der Fabel, der sich zur Größe des Stiers aufblies. Mit dem einen Unterschied, dass auch seine gesamte Umgebung den Frosch Stalin für einen Stier hielt und ihm die entsprechenden Ehren erwies.“ (Schostakowitsch „Memoiren“) Wie sich die Geschichte wiederholt.
Am 3. November 1945 dirigiert Jewgenij Mrawinsky die Uraufführung. Knapp ein Jahr lässt sich die sowjetische Kritik mit der Beurteilung Zeit, anscheinend brauchte sie so lange zur Entschlüsselung, falls sie ihr überhaupt völlig gelang. Dann schäumt sie aber richtig: Die "ideologische Schwäche" der Symphonie "reflektiert nicht den wahren Geist der Völker der Sowjetunion." Schnell in die Schublade damit (in die allerunterste, falls dort neben der Vierten, der Achten, „Katharina Ismailova“ und „Die Nase“ überhaupt noch Platz sein sollte.) Es folgte bald das zweite Autodafé, das zur kompositorischen auch zur körperlichen Eliminierung hätte führen können. Vielleicht schützte ihn wieder seine Narrenkappe. Es dauerte lange acht Jahre bis zur Komposition der nächsten Sinfonie und Schostakowitsch wartete damit bis Stalin selbst „eliminiert“ war, er starb 1953.
Das russische Publikum hatte aber sehr wohl verstanden: Keine "Neunte" war das, sondern eine "Anti-Neunte", eine Ablehnung all dessen, was ideologisch zu erwarten gewesen war. Dem begeistert zuzustimmen, hätte in einem Staat, in dem jede Kleinigkeit für eine Denunziation genützt wurde, gefährlich werden können. Die flaue Publikumsreaktion basierte nicht auf Ablehnung, sondern auf der Angst, wegen der Zustimmung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Im Ausland war die Sinfonie sehr erfolgreich, obwohl man sich auch da über sie wunderte, denn auch dort hatte niemand mit solch einer „Siegessinfonie“ gerechnet. Bis heute ist die Neunte hinter oder neben der fünften die am meisten aufgeführte bzw. eingespielte Sinfonie Schostakowitschs. Oft erscheinen beide auch gemeinsam auf einer CD.
Im großformalen Aufbau fallen zunächst die fünf Sätze der Sinfonie (statt der üblichen vier) auf. Im Gegensatz zur klassischen Viersätzigkeit schiebt Schostakowitsch vor dem Finale einen weiteren Satz ein, erhält damit die Satzfolge schnell (Allegro) – langsam (Moderato) – schnell (Presto) – langsam (Largo) – schnell (Allegretto/Allegro) und somit starke Kontraste zwischen den einzelnen Sätzen. Wie bei einer Sinfonietta oder einem Divertimento. Die drei letzten Sätze gehen allerdings ohne Unterbrechung ineinander über, weshalb der vierte Satz auch als langsame Einleitung zum Finale gesehen werden kann.
Jakob Knaus, Musikwissenschafter und ehemaliger Redakteur von Radio SRF 2 Kultur, schreibt zur Neunten seine neuesten Erkenntnisse und liefert uns zugleich eine Analyse des ersten Satzes. Wir zitieren wörtlich und nehmen die kleine Wiederholung zu Beginn gerne in Kauf. Schließlich fördert häufigeres Auftauchen von Fakten auch die Erinnerungswahrscheinlichkeit. „Als der Zweite Weltkrieg zu Ende und Stalin der große Sieger war“ so Knaus, „durfte er erwarten, dass ihm eine große Siegessinfonie gewidmet würde. Die Siebente von Dmitri Schostakowitsch hatte 1942 die Leiden der Leningrader unter der jahrelangen Belagerung durch die Deutschen und die heldenhafte Verteidigung thematisiert und nimmt den damals noch keineswegs vorhersehbaren Sieg vorweg (Anm. von uns); die Achte von 1943 war dann finster, lärmig, ja gewalttätig gewesen und bar jedes Optimismus. Die Neunte sollte nun den Sieger feiern und ihn dem Volk als den größten der Helden hinstellen. Eine Reihe von Ehrentiteln hatte man ihm schon verliehen, «Väterchen Stalin», «der Tapferste der Tapferen», «der große Held der Revolution», «der weise Lehrer aller Wissenschaften», «der weise Führer und strahlende Held» und als Summe all dieser Verehrung: «der Weiseste der Weisen».
Immer wieder wird an diesem ersten Satz kurz herumgerätselt, aber niemand, soweit ich (dies ist immer noch Jakob Knaus) die Fachliteratur überblicke, hat bisher in diesen «witzig burlesken» Satz genauer hineingehört. Leonid Gakkel hat Ironie herausgehört und sich gefragt, ob denn die Haupttonart Es-Dur nicht auf das «Invasionsthema» der Siebenten anspiele, das in derselben Tonart steht. „Zweifellos gab es diese Anspielung, und dadurch unterstrich er die Nähe des Bösen zu den ‹sanften Themen› der neuen Sinfonie. Oder könnte es auch Ironie sein, in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes, als eine ‹geheuchelte Unkenntnis› der Siebten? Dann wäre die Ironie umso bitterer.“
Hören wir uns diesen ersten Satz der Sinfonie einmal an – er dauert kaum mehr als 5 Minuten. Das Auffällige ist zum einen die brave Wiederholung der Exposition mit erstem und zweitem Thema. Dies suggeriert «klassische Sinfonie» und Orientierung an der Tradition. Wer aber nicht auf die Form achtet, sondern primär auf die Musik, dem fällt die Posaune auf mit den häufigen Quartsprüngen nach oben – im Ganzen sind es fünfzehn, sechsmal allein in den Takten 167 bis 195. Dann sind es die Kuckucksrufe, die mindestens zwölfmal zu hören sind, und das Vogelgezwitscher, das von der Piccoloflöte mehrmals eingeworfen wird, immer wieder leicht verändert. Man kann es formal als zweites Thema bezeichnen. Auch dieses trifft man zehnmal an. Was sollen wir davon halten? Der Quartsprung aufwärts verweist auf die Gattung Volkslied, die im deutschen Sprachbereich sehr häufig mit einem Quartsprung aufwärts beginnt, man denke nur an «Ade zur guten Nacht», «Die Gedanken sind frei», «Kein schöner Land in dieser Zeit» oder auch «O Tannenbaum».
Hört man das Vogelgezwitscher genauer an und vergleicht es mit dem originalen Ruf einer Nachtigall, so sind wir bereits auf der richtigen Spur. Berücksichtigt man dazu noch den Kuckucksruf, so sind wir bei Kuckuck und Nachtigall angelangt – und bei der Frage, wer denn schöner singe. Der 16 Jahre alte Schostakowitsch hatte 1922 als op. 4 jene Fabel von Krylow vertont, wo der Gesang der Nachtigall mit dem des Hahns verglichen wird. Noch viel näher aber liegt als Bezugspunkt ein Lied aus «Des Knaben Wunderhorn» mit seinem Wettbewerb zwischen Kuckuck und Nachtigall. Die Musik Mahlers war Schostakowitsch bestens bekannt (Anm. von uns).
Denn Gustav Mahler hat es vertont – unter dem Titel «Lob des hohen Verstandes». Es beginnt mit dem besagten Quartsprung nach oben, nicht nur in seinen ersten beiden Takten, sondern auch beim Sängereinsatz in den Takten 9 und 10 auf «Einstmal in einem tiefen Tal». Und wer ist hier der Richter, wer entscheidet über die Qualität des Gesangs? «Der Kuckuck sprach: ‹So dir's gefällt, hab ich den Richter wählt, und tät gleich den Esel ernennen!» Und weshalb den Esel? «Weil er hat zwei Ohren gross, Ohren gross, Ohren gross, so kann er hören desto bos, und, was recht ist, kennen!» Auf diesen Satzschluss hin hämmert die Pauke zweimal wiederum die Quarte aufwärts! Daraus darf man folgern, dass die Quarte aufwärts mit dem Entscheid des Esels gleichgesetzt wird. In Schostakowitschs Sinfonie wird der Quartsprung aufwärts in der Phase der Entscheidung, nämlich gegen Ende der Durchführung, in den Takten 166 bis 194 achtmal wiederholt!
In Mahlers Lied reagiert der Esel auf den Gesang der Nachtigall ganz ungehalten: «Du machst mir's kraus. I-ja! Ich kann's in Kopf nicht bringen.» Und weiter heißt es: «Der Kuckuck drauf fing an geschwind sein Sang durch Terz und Quart und Quint.» Die Entsprechung findet sich bei Schostakowitsch am Beginn der Durchführung (Takte 92 ff.), wo die Bratschen nur Terzen, die Celli nur Quarten und die Bässe nur Quinten spielen, um nicht zu sagen: «grapschen». Wenn wir die beiden Schlüsse vergleichen, so hören wir beide Male nur noch den Kuckuck und im Lied das «I-ja!» mit einem Oktavsprung abwärts, in der Sinfonie den Quartsprung aufwärts. Und endlich entdecken wir noch, dass die erste Liedzeile «Einstmal in einem tiefen Tal» schon im Sinfoniebeginn, in den Takten 3 bis 5, zitiert ist.
Der «Weiseste der Weisen» ist also eindeutig der Esel. Und warum entscheidet er sich für den Kuckuck als Sieger? Weil dieser nur zwei Töne singt und ihn, den Richter, nicht derart verwirrt wie die Nachtigall, die so variantenreich singt und trillert, dass er konfus wird. Noch wichtiger aber ist es, dass der Kuckuck mit seinen zwei Tönen beim einfachen Volk gut verstanden werden kann, während die Nachtigall zu kompliziert singt – sie ist demzufolge eine Formalistin, zu intellektuell, also «volksfeindlich».“ Soweit Jakob Knaus.
Man könnte auch folgern: Der Kuckuck macht die Musik, die Stalin fordert, die Nachtigall ist die Kunstmusik, die sich gerne frei von Zwängen entfaltet hätte, wenn man sie denn ließe, die Musik, die Schostakowitsch vorschwebt.
Ganz unbemerkt von der Zensur hat Schostakowitsch demnach offenkundig seine ganz eigene „Apotheose“ auf den großen Sieger Stalin komponiert und sie mutig vor aller Ohren aufführen lassen. Der Mann spielte mit seinem Leben. Musste es aber insgeheim genau wissen, wie weit er gehen konnte, wie weit er seine Botschaft verstecken musste.
Unabhängig von dieser Exegese von Jakob Knaus, der man folgen kann oder auch nicht (unwahrscheinlich ist sie jedenfalls ganz und gar nicht), wird der einfache, klassizistische Ton in der Durchführung immer militanter, marschartiger, greller. Schließlich zu einer musikalischen Machtdemonstration. Da ist nun nichts mehr heiter spielerisch oder gar lustig. „Das Einfache entgleist“, so Frank Schneider. Dieser ausgedünnte Marsch könne auch ein Verweis auf die vielen toten Soldaten in den Militärkapellen nach dem Krieg sein, die keine für ihr Musizieren hinreiche Besetzung mehr aufbringen konnten. Den Sinfonieorchestern wird es nicht anders ergangen sein, denn da fehlten auch noch die toten Zivilisten. Daher wollte Schostakowitsch auch keine prunkvolle Besetzung servieren, sondern nur eine ausgedünnte, wie die hier spielende Blaskapelle. Um dies noch weiter zu verdeutlichen ist die Streicherbesetzung enorm stark gewählt, wenn man den Besetzungsempfehlungen in unserer Taschenpartitur aus der ehemaligen DDR glauben darf. So fällt die Diskrepanz auch optisch deutlich ins Auge.
Für Bernstein ist die „angriffslustige Posaune mit dem nichtsagenden Tusch“ eine Art „Running Gag“, wie er auf dem Video erklärt, das seinem Wiener Konzertmitschnitt, den es auch auf CD gibt, vorangestellt wird. Sie fabriziert sechs Mal den falschen Einsatz und erst beim siebten Mal gelingt der richtige. Ein billiger, aber zündender musikalischer Scherz, wie Bernstein meint. Für den einen ein Scherz für den anderen ein Esel. So vieldeutig ist Schostakowitschs Musik, musste sie sein. Falsch einsetzende Musiker wurden übrigens auch früher schon als belebendes Element mit einkomponiert, denken wir nur an Mozarts „Ein Musikalischer Spaß“ oder Beethovens „Pastorale“ (im Scherzo). Im letzteren Fall, wir erinnern uns, folgt der vermeintlich falsche Einsatz wohl einem Alkoholgenuss der exzessiveren Art beim heiteren Beisammensein der Landleute.
Der zweite Satz passt sich ebenfalls dem Aufbau einer klassischen Sinfonie an. In diesem ist jedoch nichts von Groteske oder Absurdität zu spüren. Vielmehr ist er durch bedrohende und klagende Motive bestimmt. Zwei klagende Motive werden entwickelt, die beide von gedämpften Holzbläsern geprägt sind. Diesen gesellt sich in Takt 99 ein drittes hinzu, das bei Schostakowitsch oft verwendete bedrohliche Motive verwendet. Hier sind es chromatisch ansteigende Streicher, die in ein langgestrecktes Crescendo eingebettet sind. Dieses dritte Motiv kann man als eine Sarabande ansehen. Barocke Formen verwendete Schostakowitsch schon in den vorhergehenden beiden Kriegssinfonien als Ausdrucksmittel für Leid, Trauer, Gewalt und Brutalität. Generell ist der ruhige, mollgetönte zweite Satz von einer tiefen Ernsthaftigkeit geprägt, die den ersten denkbar stark kontrastiert. Diese bei Schostakowitsch oft zu findende Herangehensweise ist auf die Notwendigkeit zurückzuführen, der Trauer und dem Leid einfacher Menschen Ausdruck zu verleihen und sie der auslösenden Gewalt der Herrschenden gegenüberzustellen. Er konterkariert den eher lässigen ersten Satz, es geht hier um die Opfer und die Trauer um sie. Es ist die Stelle des langsamen Satzes, eigentlich jedoch nur ein Moderato. Zu lamentohaft sollte es nicht wirken, der oberste Genius hätte sonst womöglich Verdacht geschöpft und „falsche Schlüsse“ gezogen. Bernstein (und andere) helfen hier nach, korrigieren gleichsam das damals unmögliche, indem sie das Tempo merklich verlangsamen, Bernstein macht fast ein Adagio draus. Andere versuchen ähnliches (den Vogel schießt dabei Efrem Kurtz ab, der unserem Gefühl nach deutlich überdehnt), manche nehmen es partiturgemäß zügiger (allen voran Celibidache, nur in Berlin, und Ferenc Fricsay). Wie das Tempo doch den Charakter dieses Satzes verändert! Er steht übrigens in h-Moll. Das setzt Assoziationen zu Tschaikowskys „Pathetique“ frei, deren Kenntnis Schostakowitsch von jedem St. Petersburger Konzertbesucher als selbstverständlich voraussetzen konnte. Es gesellt sich eine Passacaglia als Begleitung hinzu, ein weiterer Hinweis für Klage und Trauer. Stockend wirkt er durch die Taktwechsel zwischen ¾ und 4/4-Takt. Stocken, ein weiteres deutliches Attribut der Trauer und Klage. Mache Aufnahmen stellen es überdeutlich heraus, andere wischen diesen Eindruck fast beiseite. Dieser Satz eröffnet den weitesten Spielraum für die Interpretation von allen fünfen. Der Höhepunkt des Satzes ist einem Schmerzensschrei gleichzusetzen, nachdem der Tonsatz vom Kargen ausgehend fülliger geworden ist. Das Morendo am Ende verliert sich im Nichts, eine der vielen Reminiszenzen an Beethovens „Eroica“, dessen Dekomposition am Ende des zweiten Satzes ebenfalls im Nichts endet. Für die Interpreten und die Zuhörer gibt es hier, wie auch im ersten Satz, viel zu entdecken.
Der dritte Satz, ein Presto, übernimmt die Funktion eines Scherzo. Er kontrastiert den zweiten und vierten wiederum äußerst stark. Es ist dreiteilig angelegt, zwei Hauptsätze betten ein Trio in der Mitte des Scherzos ein. Das Trio ist wiederum marschartig. Interessant ist in diesem Marsch die anfängliche Tonart fis-Moll, die in der Romantik als Tonart des Todes galt. Der Satz endet in einer dem Scherzo-Charakter stark widersprechenden Stimmung, die auf den vierten Satz hinleitet. Der Satz ist spieltechnisch sehr anspruchsvoll und feingliedrig. Ein eigentlich brillantes, blendend vitales Scherzo, das das Publikum jubeln lassen könnte. Ein echtes Virtuosenstück für Orchester. Wir dürfen nicht vergessen, Schostakowitsch durfte auf keinen Fall bei seinem subversiven Streich erwischt werden. Die Interpreten sollten heutzutage hier das gepresste und gehetzte betonen, damit es als eine künstliche Veranstaltung erkennbar wird, die hilft die Herrschaft über Menschen weiter zu erhalten, und als solche entlarvt werden kann. Veranstaltungen, die auch heute noch nicht nur in Russland zur Volksverdummung eingesetzt werden. Damals wird das nicht so direkt und unmittelbar ausgedrückt worden sein. Ein Mitschnitt der Uraufführung mit Mravinsky wäre wünschenswert gewesen. Manche reden über einen Mitschnitt mit ihm, wir konnten hingegen bis heute keinen finden. Gerade bei den alten sowjetischen Einspielungen gelingt es besonders gut, das Gehetzte auszudrücken, aber sie entstanden ja auch, als Stalin längst tot war. Der Satz erinnert auch an die Burleske in Mahlers Neunter Sinfonie, „Sinnbild eines schäbigen Weltenlaufes und einer vitalen Maskerade,“ so erneut Frank Schneider in der Sendung „Interpretationen“. Ein weiterer Bezug drängt sich ebenfalls auf. Zu Alban Bergs „Wozzeck“, bei dessen Aufführung in Leningrad, so Schneider, Schostakowitsch nachweislich dabei war. Besonders im 1. Akt die Szene, in der Wozzeck den Offizier rasiert und von ihm gefragt wird, ob er denn keine Moral hätte und Wozzeck antwortet sinngemäß: Ihr könnt Moral haben, aber wir arme Leut´… Dieser Tonfall erscheint hier. Viele Leningrader dürften ihn wiedererkannt haben. Wir erinnern uns: In der Oper macht sich ebendieser Hauptmann wenig später an Wozzecks Frau Marie heran, Auslöser für die finale Katastrophe. Das zum Thema Moral der Herrschenden.
Immer wieder durchbrechen Akzente wie Peitschenhiebe den gleichmäßigen Lauf dieses Scherzos. Das Solo der Trompete, wie eine „Kindertrompete“ zu hören, so Schneider, entlarvt die Szenerie ebenfalls als eine „schäbige Lebensfreude“. Durch die musikalische Ambivalenz kann dieser Satz das Publikum durch seine Virtuosität aber auch hellauf begeistern. Schostakowitsch muss darauf spekuliert haben, dass das auch bei den Funktionären funktioniert.
Der vierte Satz verarbeitet dialektisch die zwei Aspekte des Krieges. Ein martialisches Fanfaren-Thema eröffnet den Satz und wird in Takt 10 nach einem Beckenschlag von einem stark melodiösen und sehr innigen Thema kontrastiert, das von nur einem Fagott vorgetragen wird. Die dialogische Struktur aus dem nur mäßig variierenden Fanfaren-Thema und der Fagott-Melodie setzt sich über den gesamten Satz fort. Auffällig ist die unterschiedliche Behandlung der Dynamik. Während das Fanfarenthema weitestgehend einheitlich in Fortissimo gehalten ist, weist das Fagott-Thema ein breiteres Spektrum auf. Der Satz endet mit einem an eine Erstickung erinnernden Decrescendo. Die Szenerie erinnert auch und das vielleicht noch stärker an eine Verhörsituation. Wobei der Beckenschlag und der Trompeteneinsatz schon sowas wie eine Verurteilung darstellen könnte. Die Macht (Obrigkeit) wird durch Posaune und Tuba repräsentiert. Sie intonieren die Schreckensfanfare aus der 8. Sinfonie. Das Fagott ist das bittende, flehende, wehklagende Individuum, das es erwischt hat. Der rezitativische Redegestus ist bekannt aus der Neunten Beethovens, auch aus dem langsamen Satz des Vierten Klavierkonzertes, nur hier ist eine böse Macht beteiligt. Bei Schostakowitsch bleibt die Verbrüderung, anders als bei Beethoven, aus. Das Rezitativ fungiert also nicht als Einleitung zum freudigen Ereignis im Finale, sondern führt zur katastrophischen Zuspitzung. Dass Schostakowitsch auch noch sich selbst zitiert, eines der Sechs Lieder von 1943: „McPhersons Antwort“, fügt sogar noch eine Art musikalisches Selbstportrait hinzu. McPherson, so etwas wie ein Robin Hood Schottlands sitzt wegen seiner ambivalenten „guten Taten“ im Gefängnis, wird aber (anders als Robin Hood) nicht errettet. Er ist zudem auch noch Musiker, zerbricht seine Geige, da sie nie mehr erklingen wird, denn Rettung ist aussichtslos und er lässt sich schließlich erhängen. Das könnte Schostakowitsch auf seine eigene Situation bezogen haben. Das wäre dann blutiger Ernst, andere wiederum meinen, es würde vor allem später im Verlauf mehr einer Zirkusmusik ähneln. Beides mag wohl stimmen.
Der fünfte Satz (formell ein Rondo, in einem Allegretto-Tempo), der sich attacca an den vierten anschließt, wird mit der charakterlich veränderten Fagott-Stimme des vierten Satzes eingeleitet. Es zeigt sich nun als Humorist mit einem tapsigen Einsteigen, umsichtigen Herumschauen, ob sich denn nun die dunklen Wolken verzogen haben, die Luft vielleicht wieder „sauber“ ist. Wenn dem so wäre, könnte ich auch um meinen Galgen tanzen, scheint es sich zu sagen. Oder wie ein Clown, der sich vergewissert, ob der Bösewicht verschwunden ist und sich dann über ihn beginnt lustig zu machen. Dann sind wir ja schon mitten drin im Zirkus. Mache gestalten den Übergang starr und das neue Tempo wird subito geändert, andere gestalten feinen flexiblen Übergang, das letztere wirkt musikalischer und lässt die zuvor beschriebene Gestaltung erst zu. Ein gebremster Einstieg und ein insgesamt ruhiger Beginn würden hier zudem den Spielraum schaffen für eine weit gespannte, sich ins Grandiose hin entwickelnde Steigerung. Der Satz entwickelt drei Themen und steht wiederum in der Ausgangstonart Es-Dur. Eine marschartige Charakteristik tritt schon recht früh auf. In der Durchführung werden alle drei Themen entwickelt. Sie dient auch der Steigerung und Verdichtung des Materials, zunächst ausgelassen, schließlich entfesselt. Das 2. Thema in den Streichern, zunächst eigentlich leicht beschwingt wird ins Brutale gesteigert. Der Höhepunkt findet sich in der Reprise (ab Takt 288), in der das Material zu einem grotesken Zirkusmarsch in der „heroischen“ Tonart Es-Dur gesteigert wird. Das kann man als Satire sehen. Formal bleibt auch der letzte Satz äußerst einfallslos, er entspricht noch immer der Lehrbuchform. Inhaltlich bzw. gestisch erscheint der Satz episodenreich bunt, fantasievoll, vermeintlich fröhlich, dann aber bedrohlich und ins Zügellose gesteigert, lässt er schlussendlich das klassizistische Gewand fallen. Der Schluss schließlich ist besonders applaustreibend, man kann sich dieser Entwicklung und der Virtuosität des Orchesters (so sie denn vorhanden ist) und seinem mit dem geballten Blech entwickelten vollen Glanz, den es entfaltet, einfach nicht entziehen. Schostakowitsch spielt mit unseren Erwartungen und führt auch unsere Gefühle hinters Licht. Aber gemeint ist es nicht positiv, denn das Ganze, nun sind es ja bereits wieder Attitüden der Gewaltherrschaft, die wie da hören, ist längst nicht mehr lustig und leider kein Zirkus.
Eine weitere Möglichkeit der Erklärung für die Exaltation am Schluss: Den Oberen wird doch noch die so geliebte Folklore-Show in Form eines auf die Spitze getriebenen Kosakentänzchens geboten, um sie das zuvor gehörte vergessen zu lassen.
Um die Ambivalenz auf die Spitze zu treiben, könnte es aber nun auch der befreite exaltiert kichernde Clown sein (der Narr, als der sich Schostakowitsch sehen musste und teilweise auch gesehen wurde), der dem Diktator eines Tages eine lange Nase macht und dem er dann (im Falle Schostakowitschs erst posthum nach acht Jahren sinfonischen Schweigens) auf dessen Grab herumtanzt. Das wäre dann allerdings die Satire eines Lebensmüden, der Schostakowitsch nicht war, gewesen und bleibt vielleicht doch eher Spekulation. Manche völlig überdrehte Interpretationen nähren jedoch diese Vermutung durchaus.
Daniel Allenbacher, in seinem bereits kurz angesprochenen Artikel „Eine heroische Neunte“ schreibt dann noch ergänzend und zusammenfassend: „Die Karikatur und Ironie, die in diesem Werk zum Ausdruck kommen, gelten denn auch nicht etwa der Zeit der Klassik oder gar dem Vorbild Beethoven, sondern sind auf Schostakowitschs Gegenwart und die Erwartungen seiner Zeitgenossen gemünzt. Dass dies ausgerechnet mit jenem Werk gelang, dessen ursprünglicher Widmungsträger Napoleon Bonaparte auf dem Titelblatt durch Beethoven vehement wieder ausgekratzt wurde, nachdem er sich selbst zum Kaiser hatte krönen lassen, lässt zu guter Letzt noch eine weitere Assoziation zu: Auf Stalin, diesen selbsternannten Heroen, und seine Siegestaten kann und will Schostakowitsch weder eine Eroica noch eine klassische Neunte schreiben. Erst in der Zehnten Sinfonie wird er den Diktator schließlich darstellen – doch auch hier, nach dessen Tod, nicht als Helden, sondern als brutale Fratze.“
Mit gerade 25 Minuten Spieldauer insgesamt unterbot Schostakowitsch mit seiner gesamten Neunten den ersten Satz seiner eigenen «Leningrader» Symphonie. Wen mochte es wundern, dass Stalin schäumte und das halbe Land vor den Kopf gestoßen war? Für die Kritik war klar: Der Komponist hatte nicht begriffen, in welch glorreicher Stimmung sich das Land im Augenblick zu befinden hatte! Ein Könner von diesem Rang durfte im Moment des Triumphs nicht als Spötter dastehen. Schostakowitsch kommentierte angeblich später lakonisch: «Ich konnte keine Apotheose auf Stalin schreiben, konnte es einfach nicht.» Und er prophezeite seinem Werk: «Die Musiker werden sie mit Vergnügen spielen, aber die Kritiker werden sie vernichten.»
Noch ein paar ergänzende Worte zur Wirkungsgeschichte, die wir zuvor nur kurz anrissen. Am 3. November dirigierte Jewgeni Mrawinsky die Leningrader Philharmoniker, die die neunte Symphonie im Rahmen der Saisoneröffnung uraufführten. Das Werk stieß auf Kopfschütteln und Unverständnis, die Kritik sparte nicht mit den von Schostakowitsch selbst vorausgesagten vernichtenden Pamphleten. Mit seiner neunten Sinfonie mag Schostakowitsch den Rahmen der Provokationen, wie sie sich in vielen seiner Werke aus der Stalin-Zeit finden, überspannt haben. Ihr folgte die Ächtung durch die Kulturpolitik der Sowjetunion und spätestens nach den Schdanow-Referaten das bereits angesprochene zweite Autodafé 1948 mit neuerlichen Repressionen. Nach der neunten Sinfonie legte Schostakowitsch, nun wieder „Formalist“ und Volksfeind, eine unfreiwillig lange Pause von acht Jahren in seinem sinfonischen Schaffen ein. Er verlor seine beiden Professuren (in Leningrad uns Moskau) und damit seine Haupteinnahmequelle und überhaupt begann das Regime mit der großen Säuberung, für die der Krieg, so Stalin, „keine Zeit gelassen“ hätte. Ganze Berufsgruppen wurden obsolet, schließlich verfolgt und eliminiert. Schließlich auch die Juden, was Schostakowitsch erneut betraf. Als große Ausnahme kann das oft als Sinfonie mit einer Solo-Violinstimme bezeichnete 1. Violinkonzert op. 77 bezeichnet werden, das sich mit der Situation der Juden in der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der einsetzenden antisemitischen Stimmung auseinandersetzt. Das Konzert wurde aufgrund der politischen Situation erst zwei Jahre nach Stalins Tod uraufgeführt. Erst nach Stalins Tod durfte auch die Neunte wieder aufgeführt werden.
Wir haben es hier also mit einem nur äußerlich leichtgewichtigen, tatsächlich aber sehr vielfältigen und vielschichtigen Werk zu tun, das gar nicht so leicht in seiner eigentlichen Tiefe darzustellen ist und bei dem man die historisch bedingte Charade durchhören sollte und das zugleich auch noch so selbstbewusst auftreten sollte, dass es auch heute noch einen Stalin hinters Licht führen könnte. Ist das überhaupt zu schaffen und wer wird diesen Spagat am besten meistern?
Die diskographische Situation stellt sich mittlerweile insgesamt sehr gut dar. Es gibt viele gute und sogar einige ausgezeichnete Einspielungen, die dem schwierig zu entschlüsselnden Werk gut bzw. besonders gut gerecht werden.
Der besseren Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit wegen haben wir bei den Einspielungen, bei denen die Spielzeit der letzten drei Sätze, die ja attacca in einander übergehen sollen, nur in Summe bekannt waren, separat angegeben. Ein bereits bekannter Service. Wie immer erfolgte die Zeitmessung nur mit Musik, also ohne die Satzpausen.
Noch ein Zitat:
Verbandssekretär Tichon Chrennikow zur Musik Schostakowitschs, während eines Komponistenkongresses, bei dem Schdanow das Einführungsreferat hielt: „Eine eigentümliche Chiffriertheit und Abstraktheit der musikalischen Sprache verbirgt oftmals im Hintergrund Gestalten und Emotionen, die der sowjetischen realistischen Kunst fremd sind: expressionistische Übertreibung, Nervosität, eine Hinwendung zur Welt der degenerierten, abstoßenden, pathologischen Erscheinungen. Darunter litten viele Seiten der VIII. und IX. Sinfonie Schostakowitschs und der Klaviersonaten Prokofjews. Eines der Mittel zur Flucht aus der Wirklichkeit bildeten auch „neoklassizistische“ Tendenzen, die Auferstehung von Intentionen und Kompositionsweisem Bachs, Händels, Haydns und anderer, die in einem dekadenten, verdrehten Sinne benutzt werden.“ Nur wenige brachten bei diesem Scherbengericht die selbstmörderische Zivilcourage zur Widerrede auf, darunter Schostakowitschs bewährter Freund Wissarion Schebalin, den dies sein Rektorat am Moskauer Konservatorium kosten sollte. Auch Schostakowitsch verlor sein im Krieg erworbenes Lehramt an diesem Institut, ebenso das in Leningrad. (Aus Detlef Gojowy: „Schostakowitsch“)
zusammengestellt bis 25.7.2022

Schostakowitsch um das Jahr 1950. Die Neute war geschrieben, die Zehnte noch nicht.
Übersicht über die gehörten Einspielungen. Die detailierten Rezensionen wie immer im Anschluss:
Die Pionieraufnahmen, noch in Mono aufgenommen:
5
Sergiu Celibidache
Berliner Philharmoniker
Membran
1947, Live
4:52 5:43 2:40 2:54 6:06 22:15
4-5
Karel Ancerl
Tschechische Philharmonie, Prag
Praga
1966, Live
3:36 8:00 2:44 2:27 6:50 23:37
4-5
Rafael Kubelik
Tschechische Philharmonie, Prag
Supraphon
1945, Live
4:44 10:31 2:57 2:50 5:38 26:40
4-5
Ferenc Fricsay
RIAS Sinfonieorchester Berlin (heute: Deutsches Sinfonieorchester Berlin)
IMG Artists
1952
4:59 5:10 5:54 2:41 5:52 21:36
4
Serge Koussevitzky
Boston Symphony Orchestra
RCA History
1946-47
4:06 7:16 3:20 3:27 6:06 24:09
4
Efrem Kurtz
New York Philharmonic Orchestra
Columbia – CBS
1949
5:18 11:40 2:48 2:15 5:45 27:46
Die technikaffinen, auch mehrkanalig und hoch aufgelöst abspielbaren Einspielungen auf SACD. Nicht nur für Klanggourmets interessant:
5
Yakov Kreizberg
Russian National Orchestra
Pentatone
2006
5:23 8:22 2:52 3:34 6:29 26:40
4-5
Dmitrij Kitajenko
Gürzenich Orchester Köln
Capriccio
2002
5:12 5:40 3:05 3:42 6:45 24:25
4-5
Valery Gergiev
Mariinsky Orchester, St. Petersburg
Eigenlabel des Orchesters
2012
6:23 7:09 2:53 4:14 6:34 27:15
Kirov Orchestra (heute: Orchester des Mariinsky-Theaters, St. Petersburg)
Philips
2002
5:50 6:44 2:43 3:47 6:22 25:26
4-5
Gianandrea Noseda
London Symphony Orchestra
LSO Live
2020
5:13 7:58 2:54 3:35 6:24 26:04
4
Oleg Caetani
Orchestra Sinfonica di Milano „Giuseppe Verdi“
Arts
2003, Live
5:31 7:51 3:08 3:02 6:52 26:44
4
Roman Kofman
Beethoven-Orchester Bonn
MDG
2003
5:27 7:24 3:08 3:42 6:08 25:49
Die stereophonen CDs bzw. LPs, von uns zumeist von der CD gehört:
5
Jewgeni Svetlanov
Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR
Melodia - Eurodisc als LP
Melodia - Zyx als CD
1978
4:36 7:48 2:49 3:36 6:23 25:12
5
Kyrill Kondrashin
Moskauer Philharmoniker
Melodia – BMG
1965
4:54 6:43 2:44 3:06 6:30 23:57
Junge Deutsche Philharmonie
Berlin Classics
1980
4:58 6:37 2:55 3:00 6:27 23:57
5
Yuri Temirkanov
St. Petersburger Philharmoniker
RCA
1995
4:36 7:39 2:39 4:06 6:14 25:14
5
Hugh Wolff
HR – Sinfonieorchester
HR
2001
5:23 9:14 2:53 3:19 6:01 26:50
5
Sir Georg Solti
Wiener Philharmoniker
Decca
1990, Live
5:12 5:47 2:42 2:41 6:08 22:30
5
Gennadi Roshdestwensky
Staatliches Sinfonieorchester des Kultusministeriums der UdSSR
Brilliant
1982, live
4:59 6:58 2:51 4:07 6:20 25:15
Melodia – Eurodisc
1983
5:10 7:30 3:00 4:05 6:35 26:20
5
Charles Dutoit
Orchestre Symphonique de Montréal
Decca
1992
4:56 8:01 2:49 4:11 6:28 26:25
5
Leonard Bernstein
Wiener Philharmoniker
DG
1985
5:18 9:16 5:44 3:25 3:14 27:47
4-5
Rudolf Barshai
WDR Sinfonieorchester Köln
Brilliant
1996
5:07 5:35 2:53 3:00 6:47 23:22
4-5
Mariss Jansons
Oslo Philharmonic Orchestra
EMI
1991
4:56 6:13 2:37 3:09 6:12 23:07
4-5
Leonard Bernstein
New York Philharmonic Orchestra
CBS-Sony
1965
5:30 8:06 3:10 2:45 5:43 25:14
4-5
Neeme Järvi
Scottish National Orchestra, Glasgow
Chandos
1987
5:03 6:30 2:52 3:47 6:48 25:35
4-5
Bernard Haitink
London Philharmonic Orchestra
Decca
1979
4:55 7:28 2:37 3:54 6:21 25:15
4-5
Zdenek Kosler
Tschechische Philharmonie, Prag
Praga
1967, Live
5:03 6:55 3:00 3:37 6:20 24:56
4-5
Andris Nelsons
Boston Symphony Orchestra
DG
2015
5:17 8:02 2:53 3:34 6:32 26:18
4-5
Kyrill Kondrashin
Concertgebouw Orchester Amsterdam
Philips
1980, Live
5:05 6:52 2:54 3:07 6:32 24:30
4-5
Andrey Boreyko
Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR
Hänssler
2009, Live
5:20 8:02 3:02 3:36 6:13 25:53
4-5
Sir Malcolm Sargent
London Symphony Orchestra
Everest
1960
5:51 6:50 3:24 2:55 6:22 25:22
4-5
Vladimir Ashkenazy
Royal Philharmonic Orchestra London
Decca
1989
5:11 7:44 2:37 2:58 6:18 24:48
4
Ladislav Slovak
Tschechoslowakisches Radiosinfonieorchester, Bratislava (heute: Slowakisches Radiosinfonieorchester, Bratislava)
Naxos
1988
5:12 7:07 3:09 3:08 6:37 27:13
4
Yoel Levi
Atlanta Symphony Orchestra
Telarc
1989
5:09 8:58 2:47 4:27 6:30 27:51
4
Vasily Petrenko
Royal Liverpool Phiharmonic Orchestra
Naxos
2008
5:09 8:38 2:36 3:32 5:52 25:47
4
Walter Süsskind
Cincinnati Symphony Orchestra
Vox, heute Marshall-Cavendish
1979
5:19 7:01 2:51 3:10 6:46 25:07
4
Sergiu Celibidache
Münchner Philharmoniker
EMI
1990, Live
4:15 6:53 3:25 3:01 7:10 24:44
3-4
Eliahu Inbal
Wiener Symphoniker
Denon
1990
5:38 7:02 3:13 3:01 6:22 25:16
3-4
Sergiu Celibidache
Schwedisches Radio–Sinfonieorchester, Stockholm
DG
1971
4:08 6:40 3:05 3:31 6:37 24:01
3-4
Claus Peter Flor
Berliner Sinfonieorchester
Eterna
1987
5:14 8:06 2:57 3:16 6:29 26:02
3
Alexander Rahbari
BRT Philharmonic Orchestra, Brüssel
Naxos
1990
5:05 8:50 2:46 3:28 6:11 26:20
Die Rezensionen im Detail:
Die Pionieraufnahmen, noch in Mono aufgenommen:
5
Sergiu Celibidache
Berliner Philharmoniker
Membran
1947, Live
4:52 5:43 2:40 2:54 6:06 22:15
Der rumänische Dirigent, der Zeit seines Lebens eine dezidiert ablehnende Haltung zur Musikkonserve einnahm, hat diese Neunte mit seinen drei Aufnahmen (gemeinsam mit Kyrill Kondrashin) am häufigsten überhaupt eingespielt, zumindest wenn man unseren Vergleich betrachtet. Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt.
In seinen wenigen Jahren als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker hat sich der genialische junge Mann, der auch für ihn völlig überraschend an das elitäre Amt kam, nicht nur Freunde gemacht, sodass man sich später wieder von ihm trennte. Eine Trennung, die ihn sehr enttäuschte und die er lange kaum verwandt. Dass Besonderes aus dem Verhältnis Dirigent/Orchester zu erwarten gewesen wäre, das lässt diese Aufnahme mehr als vermuten. Sie übertrumpft die beiden nachfolgenden aus Stockholm (1971) und München (1990) deutlich.
Allerdings wirkt das Spiel der Philharmoniker, die damals ihre Konzerte noch in den Ruinen einer zerbombten Stadt spielten, dieser Aufführung nach zu urteilen, noch ziemlich ungeschlacht, besonders wenn man die vielen Einspielungen späterer Jahre dagegen vergleicht. Dafür wirkt es aber spontan empfunden und packend wie in keiner zweiten. Sie ist, der extrem kurzen Gesamtspieldauer zum Trotz auch die einzige der drei Celibidache-Einspielungen, in der der Maestro die Exposition im ersten Satz wiederholen lässt. Entscheidend für die Kürze sind die ungeheuer straffen Tempi. Der Gestus, gerade im ersten Satz, wirkt offensiv, sehr frech und aufgekratzt, enorm spritzig, spontan und unmittelba. Der Vortrag wirkt besonders frei, temperamentvoll und spannend, allerdings ohne die heutigen Korrekturmöglichkeiten auch ohne Netz und doppelten Boden, will heißen Korrekturmöglichkeiten. Was Spuren hinterlässt. Übrigens: Die Posaune nimmt ihre Rolle als Esel voll an, sie nervt in dieser Einspielung ganz besonders und gebärdet sich besonders unmusikalisch.
Der zweite Satz offenbart dann spieltechnische Mängel, die man von den Philharmonikern kaum erwartet hätte, aber ohne funktionierende Heizung im kalten „Saal“ spricht auch eine Klarinette nicht immer so gut an, wie sie sollte. Intonationsmängel sind ebenfalls die Folge. Das Tempo ist zudem sehr, sehr schnell. Schostakowitsch gibt eben Moderato vor und kein Andante oder gar Adagio, obwohl dies traditionell die Stelle des langsamen Satzes wäre und er bewegt sich ja bewusst auf einem klassizistischen Terrain, das er aber immer wieder auf schwankenden Boden führt. Das Klarinettensolo wirkt so überhaupt nicht kantilenenhaft. Die Flöte haut dann richtig daneben, bringt die Kollegen aber zum Glück nicht durcheinander. Schwächen im ausgeformten Detail verweisen ebenfalls auf die widrigen Bedingungen der Nachkriegszeit, als man noch kaum ein Dach über dem Kopf hat. Sehr erfreulich hingegen ist, dass das f der sordinierten Hörner (zwei Passagen im Verlauf von B) sehr gut hörbar wird, da schummeln die meisten und verstecken sich hinter den Streichern. Dabei ist die Klangfarbe hier so wichtig für die herzzerreißende Atmosphäre, die dann von dieser Passage ausgeht. Celibidache lässt dem Satz keine Ruhe, es bleibt auch keine Zeit zu trauern. Viele Kollegen entscheiden sich gegen die Partitur und für erheblich langsamere Tempi und geben der Trauer einen gebührenden Rahmen. Allerdings wollte Schostakowitsch genau das ja verstecken, sodass es schwierig ist, einer Sichtweise den Vorzug zu geben. Sagen wir einmal: Es kommt auf den speziellen Fall an, ob sich das partiturwidrige Verhalten auch „lohnt“. Wir versuchen im Verlauf des Vergleiches etwas genauer darauf einzugehen. Was man bei „Celi“ monieren könnte ist, von den kleinen Fehlerchen einmal abgesehenen, dass er die Piccoloflöte viel zu laut spielen lässt, was aber auch an der antiquierten Aufnahmetechnik liegen könnte und dass er dem Satz durch seinen drängenden Impetus, am Ende kein richtiges morendo gönnt.
Im „Scherzo“, so darf man den dritten Satz mit Fug und Recht nennen, fordert und hetzt „Celi“ die Philharmoniker bis an die Leistungsgrenze. Sie müssen hörbar ihr ganzes Können mobilisieren, um heil durchzukommen. Ihr Spiel ist jenseits der Kultiviertheit enorm impulsiv und sagenhaft brillant.
Das Blech, bestehend aus Posauenen und Tuba schont sich auch im vierten Satz nicht, einem Szenario wie bei einem politischen Verhör, bei dem die Rollen klar verteilt sind. Sie spielen die Obrigkeit (das hohe Gericht) und setzen ihre Klangmacht extrem hart und mit Schärfe ein. Trompeten und Becken symbolisieren den Richterspruch, hier mit besonderer Erbarmungslosigkeit. Das Fagott, den Angeklagten verkörpernd, antwortet angsterfüllt. Die Gegensätze werden wohl kaum mit diesen noch bescheidenen klangtechnischen Mittel besser dargestellt werden können. Sie wirken bis zum Machbaren ausgereizt. Was auch heute noch stark beeindruckt. Dagegen dominiert in neueren Einspielungen oft der pure Schönklang und die Klangüppigkeit.
Im fünften Satz wirkt das Fagott dann so, als ob es gerade erstmals nach seinem Gefängnisaufenthalt wieder die frische Luft der sogenannten Freiheit schnuppern könnte. Es reckt sich und streckt sich bevor es dann endlich im neuen Tempo angelangt ist. Das wirkt wunderbar erfühlt. Es steht zwar nichts davon in der Partitur, aber es passt zur Situation und viele Fagottist(inn)en habe es später genauso gehalten. Gegensätzlich hierzu klingt diese Stelle z.B. mit Flor und dem Berliner Sinfonieorchester, wo man sofort und ohne Übergang das neue Tempo anschlägt. Der Übergang ist so seines Zaubers beraubt, die Anforderungen der Partitur buchstäblich aber erfüllt.
Die weitere Entwicklung stellt sich bei „Celi“ enorm soghaft dar. Gerade gegenüber dem in unserer Liste folgenden Ancerl mit noch mehr Drang, stark zugespitzt, die Stretta schließlich fast ekstatisch. Dies ist die weitaus beste Einspielung des Werkes von Celibidache. Später klingen sie zwar abgeklärter und besonders in München mit feinem und fülligem Klang und geglückten Details, aber auch langweiliger.
Der Klang 1947 wirkt etwas scharf aber erstaunlich offen und präsent, sehr deutlich und erstaunlicher Weise sogar runder als bei der Ancerl-Einspielung fast zwei Jahrzehnte später. Das Publikum ist vor allem anfänglich unruhig und laut, später wird es immer leiser. Anscheinend war es ebenso gepackt von der Darbietung wie wir.
▼ zwei weitere Aufnahmen desselben Dirigenten in der Liste.
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4-5
Karel Ancerl
Tschechische Philharmonie, Prag
Praga
1966, Live
3:36 8:00 2:44 2:27 6:50 23:37
Nur in klanglicher Hinsicht, nicht aber im historischen Kontext wirkt Ancerls Beitrag zur Diskographie des Werkes wie eine Pionierleistung, denn der liefernde tschechische Rundfunkt bietet uns nur eine einfache Mono-Aufnahme. Das erstaunt umso mehr, dass das Stereo-Remake, nun allerdings mit Zdenek Kosler am Dirigenten-Pult, nur ein Jahr später bereits in einem blitzblanken Stereo-Klang vorgelegt werden konnte. Die musikalische Qualität der Einspielung Ancerls hätte einen besseren Klang verdient gehabt. Immerhin klingt es für Mono erstaunlich transparent. Die Mikrophonierung besonders des Holzes aber auch des Blechs wirkt hautnah. Ein wenig wirkt das Blech sogar aufgefächert, was theoretisch eigentlich gar nicht sein kann.
Karel Ancerl entlockt seinem Orchester ein vor allem dynamisch hervorragend detailliertes Spiel. Das p gelingt trotz kräftigem Marcato und anspringend straffen Tempo ganz prima. Das gelingt den wenigsten so gut. Ancerl verzichtet, wie es nur wenige tun, auf die Wiederholung der Exposition. Die thematischen Basslinien werden sehr gut durchgezeichnet. Das Spiel ist völlig vibratofrei, auch bei der besonders präsenten und vogelfrei tirilierenden Flöte.
Im zweiten Satz hat die Klarinette nicht ihren besten Tag erwischt. Bisweilen hat sie ein, hier noch nicht einmal gänzlich unpassendes Beben in ihrer Stimme, dabei ist Vibrato bei der Klarinette eigentlich weltweit ziemlich verpönt. Die Streicher hingegen beeindrucken bei B mit einem kaum hörbaren, intensiv durchgezeichneten pp. Die gedämpften Hörner hingegen enttäuschen, weil sie trotz des anfänglichen f kaum hörbar sind, diese Klangfarbe fehlt nun schmerzlich. Bei so vielen Einspielungen stellt es sich so dar, dass wir schon annahmen, es gäbe vielleicht verschiedene Ausgaben der Partitur. Ancerls Tempo macht den Satz deutlich zu einem Trauermarsch. Im Ausdruck, besonders des Violinen-Chores, erreicht er aber nicht ganz den durchdringenden Schmerz wie es bei Kondrashin oder Svetlanov, auch Roshdestwensky, zu hören ist.
Dass es sich um eine echte Live-Aufnahme ohne „doppelten Boden“ handelt, wird im Scherzo deutlich, denn der erste Einsatz der beiden Fagotte erfolgt deutlich vor dem der Klarinette, sie sollten synchron sein. Ansonsten erfreut der Satz jedoch gerade durch das geradezu rotzfreche Holz.
Der vierte Satz hört sich ganz anders an als bei Celibidache. Das Fagott bietet hier dem wuchtigen Blech auch klanglich deutlich Paroli, es gibt sich in seiner ausweglosen Situation des Tribunals nicht verloren (es könnten auch zwei allerdings sehr unterschiedliche Kriegsparteien sein). Die Becken zischten zuvor auch eher zuückhaltend und nicht so schroff wie bei Celi. Auch der zweite Einschüchterungsversuch des Blechs bricht den Delinquenten nicht, er gibt sich nicht geschlagen, jedenfalls nicht gebrochen und der folgende 5. Satz gibt ihm recht. Nun gelingt ihm die Flucht zumindest in die Ironie. Nun ist es die Flöte, die mit einem kleinen Patzer auffällt. Aber das macht nichts, denn schon die Violinen „pfeifen sich eins“. Ancerl hält sich lange zurück, aber ab G platzt es auch bei ihm heraus, obwohl er das Tempo weiter im Stau hält, als ob selbst die Violinen es noch nicht glauben könnten bis ab I dann losgekichert wird. Gleichzeitig hält Ancerl den musikalischen Militäreinfluss zurück, indem er das Schlagwerk klanglich klein hält. Ab M klingt es dann überdreht, aber nicht so lauthals wie bei Svetlanov oder Roshdestwensky. Eine sehr gelungene Darbietung.
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4-5
Rafael Kubelik
Tschechische Philharmonie, Prag
Supraphon
1945, Live
4:44 10:31 2:57 2:50 5:38 26:40
Diese Einspielung ist die älteste des Vergleiches, sie entstand im selben Monat wie die Uraufführung. Vielleicht ist es die erste Einspielung überhaupt, wenn es tatsächlich keine von Mravinsky geben sollte. Die Aufführung macht einen sehr gut erarbeiteten Eindruck und das Orchester wirkt besser geprobt als die Berliner bei Celibidache. Das Tempo wirkt beherzt und leidenschaftlich angetrieben. Ganz hervorragend gelingen die scharfen Staccati und Marcati im Holz. Das Posaunen I-Ah gelingt schon sehr deftig. So als ob die in den Satz eingewobene Fabel damals schon von Kubelik erkannt worden wäre. Er wiederholt die Exposition - anders als sein Nachfolger Ancerl. Das mitreißende Spiel des Orchesters zeigt bereits die reichen Qualitäten des Mitschnittes über 20 Jahre später. Wir hatten den Eindruck, dass Kubelik die beiden Violinsoli von mehreren Violinen spielen ließ, mit einer sehr schönen Wirkung.
Im zweiten Satz geht Kubelik deutlich über die Anweisung des Komponisten hinaus. Er kommt auf das nach Efrem Kurz und noch vor der deshalb berüchtigten zweiten Einspielung Bernsteins auf das zweitlangsamste Tempo. Es wird so zu einem Adagio, könnte man sagen. Kubelik sieht hinter der Angabe Moderato, die nur aus Selbstschutz gewählt wurde um die wahre Absicht des Komponisten, dem ungeschönten Klagegesang der vom Krieg geschundenen und in Verlust und Trauer verbliebenen Überlebenden zu verschleiern. Kubelik will jedoch offenkundig und unverblümt ihr Sprachrohr sein. Bei ihm, wie auch bei Bernstein, geht die Rechnung auf, er verliert den Fluss und die Spannung nie aus den Augen. Der Ausdruck ab B wird nun geprägt von erschütternder Trauer. Ein Kondukt, der sich allerdings ein wenig gedehnt bewegt, wenn man es sich bildlich vorstellen will. Kubelik kostet den vollen Klang und die Expressivität seines Orchesters voll aus. Ein erschütternder Klagegesang. Mangel auch bei Kubelik: Wo sind die sordinierten Hörner?
Das Scherzo erklingt nun plötzlich mit reduzierter Präsenz. Man vermisst auch den gleichen oder einen ähnlichen Impetus wie im ersten Satz, der in anderen Einspielungen zurecht nochmals gesteigert wird. Überzeugend hingegen der vierte Satz. Der Übergang zum fünften gelingt sehr musikalisch, sollte so eigentlich Schule gemacht haben. Das Fagott hellt schlagartig seine Farbe auf und wird dann auch flotter. Die Orchesterleistung macht einen sehr konzentrierten Eindruck und wirkt bereits ungemein sicher, wenn man bedenkt, dass die Musiker Neuland zu entdecken hatten. Die Gestaltung des letzten Satzes gelingt mitreißend. Die Gestaltung des zweiten Satzes wird dagegen sicher widersprüchlich gesehen werden.
Der Klang wirkt viel klarer, frischer, dynamischer und präsenter als bei der Einspielung mit Koussevitzky. Laufgeräusche wie bei der überspielten Platte Koussevitzkys gibt es bei Kubelik nicht. Die Publikumsgeräusche wirken allerdings hemmungslos laut. Schlimm muss die Erkältungswelle im ersten Nachkriegswinter auch in Prag gewesen sein.
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4-5
Ferenc Fricsay
RIAS Sinfonieorchester Berlin (heute: Deutsches Sinfonieorchester Berlin)
IMG Artists
1952
4:59 5:10 5:54 2:41 5:52 21:36
Das Orchester klingt nun schon viel besser situiert als die Philharmoniker unter Celibidache fünf Jahre zuvor, will heißen auch klanglich ausgewogener, liegt hier doch bereits eine Studio-Aufnahme vor. Überraschend gegenüber den drei Einspielungen zuvor ist das schwache und ungemein zahme Posaunen "I-Ah" bei Fricsay. Es klingt zu kultiviert. Es ist anzunehmen, dass Fricsay die Pointe nicht im Bezug zur Fabel gesehen hat. Die Hörner hingegen, sonst eher eine in frühen Aufnahmen unterbelichtete Gruppe, sind dieses Mal vortrefflich präsent.
Der sogenannte langsame Satz ist bei Fricsay der schnellste des Vergleiches überhaupt, noch hurtiger als in Celibidaches erster Aufnahme. Doppelt so schnell als bei Kubelik. Das Holz klingt voller als bei den Philharmonikern. Später sollte es dann auch dort eine Paradegruppe werden. Bei Fricsay wirkt der Satz nun fast wie ein Totentanz, als ob sie selbige wieder erscheinen, oder ähnlich wie in Sibelius´ „Valse triste“. Der ständige Wechsel zwischen dreier und vierer Takt schlägt bei Fricsay zum Walzer hin um. Die sordinierten Hörner bleiben auch bei Fricsay verschwunden, erst ab T. 205, dann ohne die Dämpfer, sind sie wieder gut zu hören. Auch Fricsay deutet das Morendo als Satzende nur leicht an.
Der dritte Satz, das „Scherzo“, wirkt erheblich weniger impulsiv als bei Celibidache. Das Trompetensolo gelingt jedoch dem bereits in vielen anderen Einspielungen des Orchesters positiv aufgefallenen Solisten viel besser als dem Kollegen der Philharmoniker fünf Jahre zuvor.
Bei der Gerichtsszene im vierten Satz werden die Posaunen unter ein Legato gelegt, was viel weniger einschüchternd wirkt, auch die Dynamik ist weniger heftig als bei Celi. Auch dem Fagott mangelt es gegenüber dem Vortrag bei den Philharmonikern an der gebotenen Intensität. So wirkt der Dialog nicht so extrem kontrastierend.
Im fünften Satz setzt der Fagottist sein Solo sehr geradlinig fort. Die Klimax wirkt bei Fricsay sehr gut, etwas vorantreibender als bei Ancerl.
Die Aufnahme verfügt über einen sehr guten Mono-Klang, Präsenz herrscht bei allen Orchestergruppen. Erstaunlicherweise wirkt die Aufnahme lange nicht so dynamisch wie die ältere der Philharmoniker. Klanglich ist sie jedoch, wie bereits erwähnt, ausgewogener und angenehmer zu hören. Das Orchester klingt sauberer und satter, fast schon räumlich und bereits erstaunlich transparent.
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4
Serge Koussevitzky
Boston Symphony Orchestra
RCA History
1946-47
4:06 7:16 3:20 3:27 6:06 24:09
Während des Hörens dieser Einspielung bemerkt man das klassische Ebenmaß, das Schostakowitsch als Modell durch den Kopf gegangen sein mag besonders deutlich. Es mag sein, dass der relativ gezähmte Zugriff (besonders in Relation zur alten Celibidache-Einspielung) von Dirigent und Orchester ebenso zu diesem Eindruck führen wie die bei weitem schlechteste und am wenigsten dynamische Aufnahmequalität. Obwohl auch Koussevitzky die Reprise der Durchführung ignoriert und daher die Spieldauer zu relativieren ist, wirkt die Tempowahl stimmig, aber lange nicht so angetrieben wie bei Celi und Fricsay.
Das Moderato wird bei Koussevitzky zu einem Andante, sozusagen ein Kompromiss zwischen den schnellsten Tempi (Fricsay, Celibidache oder von den neueren Einspielungen etwa Barshai oder Solti) und den langsamsten (Kurtz, Kubelik oder von den neueren Bernstein oder Wolff). Letztlich entscheidet jedoch die Intensität des Spiels in Verbindung mit einigen anderen Ingredienzien, ob das Tempo stimmig erscheint. Buchstäblich richtig ist jedoch das schnelle. Durchgesetzt auf breiter Front hat sich keines, die Toleranzspanne erscheint nach wie vor groß. Anscheinend fühlen sich in diesem besonderen Fall nur wenige an des Komponisten Wunsch gebunden, wahrscheinlich weil man ihm nicht traut. Dem notierten Wunsch, nicht dem Komponisten. Sehr gut sind bei Koussevitzky die sordinierten Hörner zu hören. Sein Gestus bleibt, wie die Tempowahl mittelwertig und verhalten. Alles geschieht mit viel Bedacht, was eine unwirkliche oder gespenstische Aura erzeugt. Die Flöte verdient durch ihre differenzierte Gestaltung unseren besonderen Respekt.
Das Scherzo klingt lange nicht so kontrastreich, überdreht und übersteigert wie bei Celibidache. Auch hier, auch bedingt durch die fahlen Klangfarben stellt sich eine wie von Visionen geprägte Atmosphäre ein. Koussewitzky scheint sein Orchester auch viel weniger zu fordern als Celi die Berliner.
Den elementaren Antagonismus der beiden Protagonisten im vierten Satz haben wir schon bedeutend eindringlicher gehört, aber man muss bedenken, dass hier von dynamisch stark eingeschränkten alten Platten überspielt wurde. Das befreite im fünften Satz nun schnellere Spiel scheint dem Fagottisten auch viel besser zu liegen als die langsame Deklamatorik zuvor, bei der er wirklich gequält wirkte. Die Darbietung nimmt im Verlauf gut Spannung auf und beschleunigt auch etwas.
Man gewinnt den Eindruck, dass Koussevitzky die Musik mehr als bare Münze nimmt, anstatt nach verborgenen Rätseln zu suchen und sie zu lösen. Auch so funktioniert sie. Witz, Ironie und Sarkasmus, was diese Musik im Besonderen ausmacht, findet man bei Celibidache, Kubelik oder Ancerl stärker ausgeprägt.
Auch klanglich kann die Einspielung nicht mit der gleichalten Celibidaches mithalten. Besonders dynamisch wirkt sie schwach und geradezu glattgebügelt. Sie klingt von allen am blassesten und mit besonders viel Patina versehen.
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4
Efrem Kurtz
New York Philharmonic Orchestra
Columbia – CBS
1949
5:18 11:40 2:48 2:15 5:45 27:46
Efrem Kurtz legte, wenn man vom zweiten Satz einmal ansieht, eine ausgezeichnete Lesart der Neunten vor. Befördert durch eine für ihr Alter sehr hellhörigen Klangtechnik wirkt seine Darbietung sehr deutlich, gewissenhaft und präsent. Es ist selbstverständlich, dass er die Exposition wiederholen lässt. Der Ton zwischen klassizistischer Ausgewogenheit und satierischer Überzeichnung ist sehr gut getroffen. Auffallend ist die gute Hervorhebung des „Kuckuck“ in allen Stimmen. Es ist erstaunlich wie viele Stimmen überhaupt Kuckuck rufen. Das Orchesterspiel genügt höchsten Ansprüchen.
Im zweiten Satz kommen durch das gedehnte Tempo die Proportionen ins Wanken. Dies ist die langsamste Einspielung des gesamten Vergleiches und zwar mit gehörigem Abstand. Die wegen der knapp über neun Minuten dauernde Wiener Bernstein-Einspielung bewegt sich dagegen geradezu im Express-Tempo. Bei Kurtz wirken besonders die Violinen, trotz der völligen Missachtung des vorgeschriebenen Tempos extrem elegisch, das klangschöne Holz könnte jedoch trotz der Langsamkeit differenzierter klingen, zudem spielt es durchweg entschieden zu laut. Und wo sind die sordinierten Hörner? Sicher werden sie wohl anwesend gewesen sein, aber gehört haben wir von ihnen nichts. Dieser Kondukt wirkt auf uns dann doch ein wenig zu wehleidig. Immer wieder kommt er nachhaltig ins Stocken. Zwar wirkt die eine oder andere Passage geradezu sphärisch oder entrückt, wir zweifeln jedoch ob uns Schostakowitsch überhaupt zur Transzendenz führen wollte. Bei Kurtz spürt man vielleicht auch die Absicht, den Ausdruck den beiden anderen Kriegssinfonien, der siebten und achten anzugleichen. Schostakowitsch wollte jedoch eher einen Gegenpol schaffen. Es gelingt aber auch nicht si recht der Trauer eindrücklich Ausdruck zu verschaffen, dazu fehlt es einfach an der Intensität des Musizierens und des Gestaltungswillens. Die Darbietungen von Fricsay und Celibidache könnten nicht gegensätzlicher sein. Bei Kurtz bewegen wir uns nahe am Stillstand.
Wie der erste bieten auch die übrigen drei Sätze wieder ein gänzlich anderes Bild. Da steht es bestens mit der Musizierlaune und der Anspruch der Partitur scheint uns bestens eingelöst zu werden. Das „Scherzo“ wird sehr straff intoniert und bekommt so die intendierte burleske Note, die scharfe Artikulation befördert die Intensität noch weiter.
Auch im vierten schüchtert das Blech unseren Delinquenten nachdrücklich ein, da braucht das Becken den zuvor bereits beschlossenen Richterspruch kaum noch zu bekräftigen. Bei der Wiederholung, die ja durch die fast schon winselnde Antwort des Fagotts noch nötig erscheint, steigert das Becken jedoch die Intensität seiner einmaligen Bemühung um den Angeklagten endgültig mundtot zu machen. Immer noch bittet es verzweifelt um Milde bis der fünfte Satz übergangslos und etwas zu einfach den Umschlag der Stimmung in gute Laune erlaubt. Da hätte man mehr draus machen können. Ab C hören wir dann eine „freie Improvisation“ von Oboe und Fagott über das in der Partitur notierte. Unseres Wissens handelt es sich jedoch nicht um einen Live-Mitschnitt. Ansonsten gehen Kurtz und das Orchester voll in die Offensive und bieten sozusagen weniger Zirkus als „gro0es Theater“. Eine Einspielung zwischen Missverständnis und Genialität.
Die Aufnahme klingt (obwohl Mono) sehr transparent. Nur beim ff des ganzen Orchesters etwas weniger. Zudem klingt sie agil und dynamisch. Keinerlei Rauschen belästigt das Ohr des empfindlichen Hörers.
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Die technikaffinen, auch mehrkanalig und hoch aufgelöst abspielbaren Einspielungen auf SACD. Nicht nur für Klanggourmets interessant.
5
Yakov Kreizberg
Russian National Orchestra
Pentatone
2006
5:23 8:22 2:52 3:34 6:29 26:40
Eine durchweg partiturgenaue Einspielung legt der viel zu früh verstorbene Dirigent Yakov Kreizberg vor, dem dafür das erst in der Perestrojka 1990 von Mikael Pletnev gegründete und nicht staatlich geförderte RNO zur Verfügung stand. Dass er die Musik Schostakowitschs liebte, merkt man seiner Lesart durchaus an, obwohl die entscheidenden Fragen, wie z.B. die Tempowahl selbstverständlich zuerst rational geklärt sein wollen. Er wählt für den ersten Satz ein ruhiges Tempo, das aber nicht verhalten wirkt. Es trifft das von Schosta gewünschte ganz genau. Es wirkt straff, aber nicht überdreht und begünstigt mit dem ausgezeichneten, geschmeidigen Orchesterspiel eine luzide Klarheit. Markante dynamische Kontraste tragen dazu bei, dass sich ein idealer Tonfall für diesen Satz ergibt. Dazu gehört auch eine besonders lästige, blökende Posaune, die sich ja an so vielen deplazierten Stellen unvorteilhaft zu Wort meldet. Bei Kreizberg ist jedenfalls Schluss mit lustig.
Auch für den zweiten Satz wirkt die Tempowahl glücklich. Ideal zumindest um den besonders intensiv herausgearbeiteten hier tragischen Tonfall geht. Kreizberg legt die Partitur genau aus, scheut sich dabei aber nicht die große Geste voll auszuspielen. Er tritt damit in die Fußstapfen der früheren Größen Kondrashin und Svetlanov. Die Flöte wird hier von der abgeurteilten Nachtigall des ersten Satzes zu einem Berichterstatter der Schrecken und des Leidens des Krieges. Schmerzende Dissonanzen werden betont, statt sie, wie in vielen anderen Einspielungen, abzumildern.
Absolut brillant und vorantreibend gelingt das „Scherzo“. Die Wirkung ist dramatisch, sodass man kaum auf die Idee käme, es ginge hier um Zirkus oder Musik für das Varieté-Theater.
Die unterschiedlichen Machtverhältnisse werden im vierten Satz ausgezeichnet dargestellt. Das Fagottsolo mit besonders deutlicher rhapsodisch-freier Gestaltung wirkt sehr ausdrucksvoll, zumal es auch klanglich von den besten Fagotten in westlichen Topp-Orchestern nicht mehr zu unterscheiden ist. Enorm gestisch und individuell differenziert.
Dem letzten Satz gewinnt Kreizberg bei aller äußerlicher Beschwingtheit und orchestraler Perfektion eine todernste Anmutung ab. Auch die Klimax erfolgt ohne ein Lächeln. Das Blech wirkt sozusagen jederzeit gewaltbereit, die Streicherwallungen dramatisch. Man spürt in dieser Einspielung die Knute ganz besonders. Erst ab K wird der Gestus sprudelnder und beginnt wie enthemmt zu kichern ab M. Der Schluss wirkt betont trocken. "Genug erzählt. Mir reicht es jetzt." Man merkt der ganzen Darbietung den liebevollen Umgang mit der Musik an, der sich vor allen in den reichen Nuancen und Zwischentönen zeigt. Wir haben den Eindruck, hier wird die Botschaft der Musik besonders stimmig und überzeugend offengelegt. Aber auch mit begeisternder Inspiration, die keinen großen Wert auf Äußerlichkeiten zu legen scheint.
Das mehrkanalige Klangbild ist ausgezeichnet und offenbart beste Transparenz und Präsenz. Der Klang ist voll und saftig, dynamisch und mir einer natürlich wirkenden Perspektive ausgestattet. Ganz besonders gefällt die Sinnlichkeit, die von ihm ausgeht. Noch etwas klarer als der Klang aus dem Gürzenich.
Zur Information: Es gibt noch eine weitere Einspielung der Sinfonie mit Yakov Kreizberg. Es handelt sich dabei um eine CD herausgegeben von der Komischen Oper Berlin, bei der er das Orchester des Hauses dirigiert, dem er einige Jahre als Chef vorstand.
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4-5
Dmitrij Kitajenko
Gürzenich Orchester Köln
Capriccio
2002
5:12 5:40 3:05 3:42 6:45 24:25
Nur ein paar seltsame Nachlässigkeiten im Detail verhindern bei dieser exzellenten Einspielung die höchste Weihe. Besonders zu loben ist die urige Dynamik, Holz, Blech und Schlagzeug werden ganz hervorragend exponiert, ohne dass die Streicher zurückstehen würden. Das Orchesterspiel ist im Prinzip ohne Fehl und Tadel, begeistert sogar besonders und steht dem Mariinsky, dem RNO, dem LSO unter Noseda oder den einschlägigen Philharmonikern in nichts nach. Es mangelt weder an der erforderlichen scharfen Artikulation noch am bärbeißigen Gestus, wenn man so sagen darf: ironiegetränkt. Insgesamt wirkt der Gestus zwar noch beschwingt aber doch deutlich gewichtiger als bei Kreizberg oder weiter unten in der Liste bei Kondrashin oder Svetlanov. Ohne dass man daraus den Schluss ziehen sollte, dass das ein Nachteil wäre.
Das Moderato wird von Kitajenko partiturkonform sehr zügig genommen. Leicht wirkt es dadurch nicht. Die Klarinette in ihrem langen Solo spielt zwar wunderbar samtweich und klar artikuliert, aber leider viel zu laut und dynamisch kaum differenziert. Später im Satz differenziert sie hingegen bestens! In Summe ist das Musizieren im zweiten Satz ungemein eindringlich und kommt Kondrashin und Svetlanov in Moskau sehr nahe. Die Streicher könnten kaum eindrucksvoller oder beseelter klingen, enorm sonor und geschmeidig. Das ist dann wieder die hohe Kunst des Musizierens. Sie folgen ihrem Dirigenten aufopferungsvoll, zumindest suggeriert es das akustische Endergebnis.
Auch im „Scherzo“ beginnt das Holz eigentlich wieder zu laut aber der Gestus wirkt sehr virtuos und drängend. Im weiteren Verlauf muss man wohl von einem entgleisten „Folkloreabend“ reden, besonders durch die berstende Dynamik und die entwickelte Bedrohlichkeit. Die Macht wirkt kaum einmal so deutlich in diesen Satz herein wie bei Kitajenko und den Kölnern. Dass zwischen den Sätzen eine kleine Pause entsteht ist gewiss den für den Schnitt verantwortlichen Personen unterlaufen. Den Musikern wäre das sicher nicht passiert.
Im vierten Satz warten bereits Posaunen und eine Tuba ohne den sonst zu hörenden freundlichen runden Klang. Sie wirken gemeinsam erheblich einschüchternder als die Kollegen vom Mariinsky oder dem LSO. Das müssen sie auch, denn dieses Fagott erklingt ebenfalls groß und höchst prononciert in Szene gesetzt. Man kann es sich erlauben, denn es spielt gestisch differenziert. Es ergibt sich ein großartig passendes Zusammenspiel zwischen Unterdrücker und Unterdrückten, der Hierarchie wird genüge getan, aber musikalisch-klanglich kommt auch der schwache Part sehr gut zu seinem musikalischen Recht.
Der Übergang zum Allegretto gelingt musikalisch überzeugend. Das Spiel des bestens aufgelegten Orchesters ist pointiert und hoch spannend, obwohl langsamer als gewohnt aber doch „unheimlich“ drängend im Gestus und geschärft bis zum Schrillen im Klang. Eine insgesamt sehr überzeugende Darstellung.
Auch klanglich. Räumlichkeit, Staffelung und Präsenz sind hervorragend. Das Orchester wirkt dynamischer und wuchtiger als bei Noseda, dessen SACD ebenfalls über ein 5.1 Layout verfügt. Insgesamt klingt es auch dynamischer, aber auch etwas dichter als in Gergievs neuerer (und klanglich besserer) Einspielung. Insgesamt eine vollsaftige glanzvolle klangliche Sternstunde. Der CD-Klang fällt demgegenüber deutlich ab.
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4-5
Valery Gergiev
Mariinsky Orchester, St. Petersburg
Eigenlabel des Orchesters
2012
6:23 7:09 2:53 4:14 6:34 27:15
Kirov Orchester (heute: Orchester des Mariinsky-Theaters, St. Petersburg)
Philips
2002
5:50 6:44 2:43 3:47 6:22 25:26
Wie bereits bei unserem Vergleich der 5. Sinfonie Schostakowitschs hat Valery Gergiev auch bei der 9. zwei Einspielungen vorgelegt. Damals war die ältere der neueren deutlich vorzuziehen. Dieses Mal hat man bei der Neuaufnahme der Neunten jedoch auf eine Live-Aufnahme verzichtet und lieber erneut unter Studiobedingungen, nun im neuen Konzertsaal aufgenommen. Beide Einspielungen kann so bei der Neunten derselbe Rang zugesprochen werden. Unterschiede sind dennoch zu bemerken, wenngleich auch nur eher marginal.
Im ersten Satz ist der Gestus 2002 vornehmlich gelassen, keineswegs nervös und nicht überdreht, jedoch rhythmisch betont. Das Posaunen I-Ah klingt durchdringend, die Nachtigall-Flöte fliegt frei und sehr präzise. Das Orchester spielt in höchster Qualität, artikuliert knapp und auch ein wenig ätzend-scharf. Pointiert aber nie warmherzig. Also eigentlich genau wie es sein soll. Die Violinsoli werden hervorragend gespielt, gestatten sich aber keinerlei Individualität, bleiben stoisch. Die Lesart 2012 wirkt dynamisch etwas differenzierter, im Tempo (in allen Sätzen) etwas gesetzter. Die Violinen wirken nicht mehr so klar und enorm präzise wie noch zehn Jahre zuvor. Auch die Artikulation hat die kühle Präzision und das Spiel generell an Schärfe verloren. Im Gegenzug wirkt Klang und Spiel nun ein wenig sinnlicher und wärmer abgestimmt.
Das moderate Moderato (das Wortspiel sei gestattet) 2002 gibt dem Satz das richtige Gewicht. Er bleibt fließend, das Stockende wird so nicht überbetont oder um es negativer zu formulieren fast schon ein wenig glattgebügelt. Die sordinierten Hörner haben wir überhaupt nicht gehört. Es ist uns schleierhaft, wie man da achtlos darüber hinweggehen kann. Ansonsten ist die Darstellung farbig, viel weniger fahl als Kondrashin in Moskau und daher auch weniger trauerumflort. Der Streicherklang (insbesondere die Violinen sind zu nennen) ist herausragend. Etwas langsamer, aber auch differenzierte geht es 2012 zu. Nun sind die Hörner mit ihren Dämpfern zu hören, aber immer noch sehr leise. Zur Erinnerung: Sie sollen f beginnen. Aber immerhin. Bei Takt 205 geben sie dann unsordiniert richtig „Gas“, obwohl sie p beginnen sollten. Wie ist das zu verstehen? Der Violinen-Klang ist nun bereits „eine zuckersüße Versuchung“ geworden. Wenn man von Kondrashins exemplarischer Einspielung von 1965 ausgeht, geht es mittlerweile bei Gergiev in die falsche Richtung. Im zweiten Satz wäre somit die ältere Gergiev-Einspielung die werkdienlichere.
Das „Scherzo“ bringt mit seinem hohen spieltechnischen Anspruch das Orchester nicht in Verlegenheit (er ist immer noch lange nicht mit der rhythmischen Kompliziertheit von Strawinskys „Sacre“ zu vergleichen, der den Dirigenten und das Orchester in der Aufnahme von 2000 ganz schön an die Grenzen brachte, wenn man genauer hinhörte). Im Gegenteil, es trumpft sehr virtuos, wild tänzerisch, gar stürmisch und zugespitzt auf und bleibt dabei stets souverän. Dynamisch könnte man allerdings noch partiturgenauer vorgehen. Auch 2012 wird der Satz zu einem drängenden orchestralen Feuerwerk. Die Solo-Trompete klingt nun besonders klar hervor. Der Gestus wirkt nun nicht mehr ganz so zugespitzt und stürmisch wie noch vor zehn Jahren.
Im vierten Satz klingen Posaunen und Tuba 2002 fast wie das Jüngste Gericht, eine Assoziation, die Schostakowitsch vielleicht sogar vorschwebte. Auch die Trompeten und das Becken halten sich bei der Verkündigung des Urteils nicht zurück. Die Tongebung des Fagotts ist sehr ausgewogen, sein Solo haben wir jedoch schon ausdrucksvoller gehört. 2012 ist das Blech nicht mehr ganz so schonungslos expressiv. Das Fagott ist erneut weniger auf Klangrede aus als auf größtmögliche Kantabilität.
Im letzten Satz gleitet das Fagott-Solo sehr schön ins andere Tempo und den neuen Gestus über. Der ganze Satz ist instrumental herausragend, vom Tempo gemäßigt, was Gergiev anscheinend selbst weniger gut gefällt, weshalb er das Tempo bereits zu früh anzieht. Der Marschcharakter wird intensiv herausgearbeitet, die schrillen Töne nicht unterschlagen. Auch zehn Jahre später wird der Übergang in den letzten Satz ebenfalls gut erfühlt, es gibt also auch keinen abrupten Tempowechsel, wie ihn die Partitur suggeriert. Die Tempowechsel wirken nun partiturorientierter und insgesamt unmerklicher. Der Klang ist nun im Tutti ein wenig transparenter geworden.
2002 klingt das Orchester glasklar und deutlich, mit scharf umrissenen Details und einer sehr guten Tiefenstaffelung. Der Klang hat eine schöne, natürliche Offenheit, Räumlichkeit und Präsenz. Auch die Dynamik ist ausgezeichnet. Als SACD enorm luftig, nochmals weiträumiger und etwas detaillierter. Ansonsten wirken die Unterschiede zur CD hier weniger spektakulär.
2012 wirkt das Orchester etwas goldener im Klang. Vielleicht wegen einer neuen Technik oder aber wegen des neuen Konzertsaales. Der Philips-Klang wirkte noch präziser und in der Abbildung schärfer umrissen. Nun klingt es weicher und wärmer. Das Orchester hat klanglich nun überhaupt nichts mehr spezifisch Russisches, was sich übrigens auch vom RNO schreiben lässt. Hier hat man die Integration in die Internationalität vollständig erreicht. Als SACD überragt der 2012er den 2002er Jahrgang deutlicher. Hier klingt es nun präsenter, voller und noch dynamischer, wuchtiger und mit mehr Glanz, mit mehr Wärme, fülliger und perkussiver.
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4-5
Gianandrea Noseda
London Symphony Orchestra
LSO Live
2020
5:13 7:58 2:54 3:35 6:24 26:04
Noseda, selbst über zehn Jahre hinweg erster Gastdirigent des Mariinsky-Theaters und dort mehr für das italienische Repertoire zuständig, bietet eine stimmige Interpretation der Sinfonie. Klanglich könnte man das LSO mittlerweile fast mit dem Mariinsky-Orchester verwechseln, wobei es dabei sicher nicht von unerheblicher Bedeutung ist, dass das Aufnahmeteam beider Labels teilweise aus demselben Personalpool schöpft. Bei Gergievs zweiter Aufnahme zumindest. Bei Gergiev 2012 tönt der Esel noch ein wenig aufdringlicher. Beim LSO klingt es generell ein wenig schlanker, aufgeweckter, turbulenter mit etwas mehr Drive, aber auch etwas weniger zugespitzt.
Den zweiten Satz verschiebt Noseda in Richtung Andante, was auf den ersten Blick einfach eindrücklicher wirkt, aber auch Zweideutigkeit wegnimmt. Bei Noseda klingt es nun mit einer gewissen geheimnisvollen Note versehen. Die kritische Stelle mit den sordinierten Hörnern ist zu Beginn, also wenn noch f zu spielen ist immerhin hörbar, wenn auch nicht gut. Das p von Oboe und Klarinette danach wirkt deutlich lauter. Der Gestus ist recht ausdrucksvoll aber doch so zurückhaltend, als ob offen keine Träne vergossen werden darf. Das Lamento wirkt bei Kondrashin und Svetlanov erheblich ungehemmter.
Im „Scherzo“ bleibt das LSO hingegen keinen Effekt schuldig. Im vierten Satz haben wir das beteiligte Blech in anderen Einspielungen schon brutaler klingen hören, hier wirkt er zu klangschön, leuchtend-voll und sonor, zu legato-weich. Das klanglich hervorragende Fagott könnte, wie in den Aufnahmen mit dem Mariinsky noch mehr deklamieren.
Der Übergang zum fünften Satz gelingt sehr gut, der weitere Verlauf instrumental hervorragend, sehr präzise, merklich notengetreuer als bei Gergiev, ein lachender Gewindmarsch, die Stretta bietet darüber hinaus keine Steigerung mehr.
Klanglich ähnelt die Aufnahme der 2012er Version des Mariinsky. Sie ist sehr gut aufgefächert, präsent, plastisch, farbig, lebendig und brillant. Allerdings etwas weniger voll als bei Gergiev 2012. Das Label heißt zwar LSO Live, aber ob tatsächlich Publikum bei der Aufnahme dabei war, hört man der Einspielung nicht an.
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4
Oleg Caetani
Orchestra Sinfonica di Milano „Giuseppe Verdi“
Arts
2003, Live
5:31 7:51 3:08 3:02 6:52 26:44
Das italienische Orchester kann nicht ganz mit den anderen auf SACD vertretenen Orchestern mithalten was Fülle und Geschmeidigkeit betrifft. Hört man die Aufnahme mit dem Kopfhörer wirkt das Blech zurückgesetzt, die Gran Cassa sehr schwach und der Orchesterklang etwas streicherdominiert. Das nimmt der Musik die unmittelbare Ansprache auf den Hörer. Im mehrkanaligen SACD-Betrieb ändert sich das Bild nachhaltig. Nun klingt das Orchester perspektivenreich, glaubhaft gestaffelt und besonders transparent bei gelungener Tiefendimension. Dynamisch klingt sie aber bei weitem nicht so ausladend wie die anderen SACDs. Doch nun zurück zu musikalischen Dingen. Die Posaune klingt auch in Mailand trefflich aufdringlich.
Die Klarinette im zweiten Satz hält den für sie vorgesehenen Legatobogen mitunter nicht ganz durch, überzeugt aber mit echtem p, wenn p dasteht. Das ist nicht so oft der Fall, wie man vielleicht annehmen würde. Allzu gerne wird das vermezzot. Ein neues Wort für gegen den Komponisten-Willen in die mittleren Laststärke-Bereiche gezogen. Dabei wirkt es so überzeugend, wenn man auch einmal ein echtes p hinbekommt. Die Streicher des Orchesters machen es vor. Die Flöte bei D ebenfalls. Der große Weltscherz à la Bernstein, auch von Kondrashin oder Svetlanov, jedoch durch das schnellere Tempo viel weniger ausladend, aber eher noch bohrender, bleibt Caetani schuldig. Hier steht das Individuum im Vordergrund.
Auch im „Scherzo“ vermeidet Caetani die ganz grelle Show. Der fünfte Satz beginnt als könne er kein Wässerchen trüben, völlig unaufgeregt, sodass man sich fragt, was soll daraus noch werden? Es wird aber eine solide Darbietung bei der auffällt, dass die Bläser insbesondere das Blech immer zu leise bleiben. So verfestigt sich der Eindruck, dem Orchester fehle die letzte Brillanz, dies aber nur im CD-Betrieb. Der Kauf dieser SACD lohnt zumindest klanglich nur für die Interessenten, die über eine komplette SACD-Ausrüstung verfügen können. Als SACD gehört könnte man daran denken der musikalischen Darbietung und dem Klang eine 4-5 zu verleihen.
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4
Roman Kofman
Beethoven-Orchester Bonn
MDG
2003
5:27 7:24 3:08 3:42 6:08 25:49
Diese als DVD-Audio (wer kennt überhaupt noch dieses Format?) gehörte Einspielung leidet unter dem zu distanziert wiedergegebenen sehr großräumigen Orchesterklang, dem es einfach an Präsenz mangelt. Die Transparenz leidet hingegen kaum unter der Distanzierung. Der Gesamtklang wirkt jedoch vornehmlich hallig, der Bassbereich betont. Es fehlt dem Klang auch an Brillanz. Man fühlt sich in eine wenig schallgedämmte leere Konzerthalle versetzt. Straffheit und Biss gehen dem Orchesterspiel so weitgehend ab, ohne dass das Orchester etwas dafürkann. Bei der CD-Wiedergabe (die CD war damals der DVD beigelegt) geht der übermäßig hallige und weiträumige Effekt deutlich zurück. Das Orchester erscheint nun griffiger aber nach wie vor wenig dynamisch. Transparenz und Staffelung wirken hingegen besser. Anscheinend hatte man die DVD besonders dafür verwenden wollen, um die Vorzüge in der räumlichen Wiedergabe zu demonstrieren. Ein Versuch, der aber eher nach hinten losging.
Im ersten Satz bleibt das Posaunen I-Ah des Esels viel zu schwach, während der einzige Schlag der Gran Cassa (fff) in keiner anderen Einspielung so heftig klingt wie hier. Das Orchester kann den anderen Klangkörpern der SACD-Gruppe kaum richtig Paroli bieten, es ist aber auch durch die Klangtechnik benachteiligt. Seine Virtuosität wirkt nicht so ungehemmt wie bei den anderen.
Die teils das Stockende befördernden Wechsel von ¾ und 4/4-Takt wirken bei Kofman fast unmerklich. Die Hörner sind mit ihren Dämpfern sehr gut zu hören. Bravo! Das macht die besonders expressionistische Wirkung der Passage erst richtig plastisch. Den großen, tragischen oder auch anklagenden Ton meidet Koman. Die Entfernung zum Geschehen mindert ihn zusätzlich ab. Dem zarten Streicherschmelz kann die räumliche Distanz weniger anhaben.
Im „Scherzo“ klingt das Orchester kaum mit dem Biss der besten Einspielungen. Es fehlt auch hier wieder an aufnahmetechnischer Präsenz um das durchaus noch virtuose Spiel gekonnt in Szene zu setzen. Auch hier wirkt das Geschehen eher wie die Beschreibung einer Traumerscheinung.
Im vierten Satz erfolgt vor allem der Akzent von Trompeten und Becken viel zu schwach. Es geht dem Richterspruch so die endgültige, unverrückbare Schärfe verloren. Durch die große Entfernung wirkt das Fagott noch erheblich kleiner und schwächer als es ohnehin schon gegen das schwere Blech erscheint. Die beabsichtigten Kräfteverhältnisse sind so jedenfalls wieder zurechtgerückt.
Der Übergang zum Allegretto des fünften Satzes erfolgt abrupt und ohne Finesse. Ansonsten wirkt die musikalische Darbietung stimmig, aber klanglich viel zu „entrückt“, um die Hörer richtig packen zu können. Auffallend stürmisch wird es ab I, besonders zirkushaft ab M (Allegro).
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Die stereophonen CDs bzw. LPs, von uns zumeist von der CD gehört:
5
Jewgeni Svetlanov
Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR
Melodia - Eurodisc als LP
Melodia - Zyx als CD
1978
4:36 7:48 2:49 3:36 6:23 25:12
LP und CD Mit dem schnellsten Tempo und dem bissigsten Zugriff eröffnet Svetlanov die Sinfonie. Er schafft mit seinem Orchester eine turbulente, nervös-spannende Atmosphäre verbunden mit einem extrem getriebenen, aufgeheizten, fast überdrehten Gestus, dringlich, fast zügellos gesteigert. Man könnte annehmen Svetlanov hätte gerade die Veröffentlichungen Volkovs (mitunter auch Wolkow geschrieben) gelesen, beherzigt und in seine Interpretation einfließen lassen, aber die Aufnahme entstand bereits vor deren Herausgabe. Dennoch scheint Svetlanov mehr von der Sinfonie zu offenbaren, als man alleine durch Partiturstudium herausbekommen könnte. Er scheint also gleichsam unter die Oberfläche zu schauen. Darin den Landsmännern Kondrashin und Roshdestwensky ähnlich. Das Giocoso (das Spaßige) scheint ins Monströse gesteigert und verliert somit eigentlich jeden Spaß. Die Posaune klingt bei ihren fast immer falschen Einsätze „rotzig frech“, die Flöte, wenn man so sagen darf, im eigentlichen Wortsinn „vogelfrei“. Das ganze Orchester spielt auf vorderster Stuhlkante mit großer Virtuosität, Vehemenz und Perfektion. Das Schlagwerk (Tambourin, Militärtrommel, ein einziges Mal die Gran Cassa) wird martialisch exponiert. Bei Svetlanov wird aus pfiffiger Ironie beißende Satire.
Auch der zweite Satz beglückt durch sein Gelingen. Er ist zwar deutlich langsamer als bei Kondrashin, aber die Gestaltung wirkt kolossal eindringlich. Die Soli wirken, besonders wenn man die LP hört, auch klanglich herausragend (das ist selten bei russischen Orchestern vor der Perestroika). Die beiden Passagen mit den sordinierten Hörnern werden hervorragend herausgearbeitet, sodass einer Gänsehaut eigentlich nichts im Wege stehen sollte.
Im „Scherzo“ wird die Instrumentation grell beleuchtet wie bei keiner anderen Einspielung (das gelingt der CD allerdings viel besser als der LP). Schneidend schrill, provakant und plakativ, nun richtig überdreht, kontrastreich. Ein Tanz auf dem Vulkan. Das Orchester gibt sich keine Blöße, spielt wie auf des Messers Schneide und (vor allem auf der LP) sattem Farbauftrag. Da kommt auch Kondrashin nicht heran.
Auch der vierte Satz könnte kaum kontrastreicher sein, Beim Blech fröstelt es einem schon, vor allem wenn die Trompeten einsetzen wird die unerbittliche Konfrontation gesucht. Das Fagott antwortet mit seltener Flexibilität, die wir von russischen Holzbläsern jener Zeit kaum gehört haben. Es bittet und bettelt, teilweise mit starkem Vibrato, das in diesem Kontext nicht deplatziert wirkt. Die „Pathetique“ erscheint zum Greifen nah.
Zu Beginn des fünften Satzes ist das Vibrato dann urplötzlich wie weggeblasen. Auch die anderen Holzbläser wirken sehr flexibel in Gestaltung und Tongebung. Die Streicher erfreuen mit prononciertem Staccato-Spiel. Svetlanov setzt die Beschleunigung schon etwas vorher an und wirkt heißblütiger als der genauere Kondrashin in seiner Moskauer und Berliner Einspielung. Die Zirkusmusik könnte in ihrer Doppelbödigkeit kaum offensichtlicher sein. Nun mit eiskalter Brillanz und versteinertem Lächeln.
Überaus kontrastreiches Spiel über alle Sätze hinweg, artistisches Orchesterspiel und einen tiefen Blick unter die Oberfläche, äußerlich vitaler und brillanter als Kondrashin und so dem grauen Kommunismus weiter enthoben und durch die gnadenlose Dynamik eher noch etwas brutaler im Auftreten, das alles bietet diese Einspielung.
Als CD klingt es sehr dynamisch, recht offen und transparent, jedoch ein wenig stumpf und ganz leicht blechern. Sehr gut gestaffelt. Klanglich offener aber auch etwas schärfer als Kondrashins Moskauer Einspielung.
Als LP klingt dieselbe Aufnahme erheblich ausgewogener, die Streicher viel voller und runder. Nichts klingt hier stumpf oder blechern. Aus audiophiler Sicht eine ganze Klasse besser als die CD. Aber gerade das Scharfe und Dynamische scheint uns zum Werk dieses Mal besser zu passen. Die Aufnahme hätte es verdient von einem guten Label neu veröffentlicht zu werden, sodass die klanglichen Vorzüge von CD und LP miteinander vereint werden.
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5
Kyrill Kondrashin
Moskauer Philharmoniker
Melodia – BMG
1965
4:54 6:43 2:44 3:06 6:30 23:57
Junge Deutsche Philharmonie
Berlin Classics
1980
4:58 6:37 2:55 3:00 6:27 23:57
Auch von Kyrill Kondrashin gibt es drei Einspielungen des Werkes. Zu den beiden oben genannten gesellt sich noch ein Mitschnitt des niederländischen Rundfunks mit dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, ebenfalls aus dem Jahr 1980. Um es vorweg zu nehmen, der Amsterdamer Mitschnitt kommt an die beiden anderen Einspielungen weder klanglich noch orchestral heran. Fangen wir jedoch mit der ältesten Einspielung aus Moskau an. Sie kann als eine der authentischsten der hier versammelten gelten, darf Kondrashin als einer der Kenner der Musik Schostakowitschs überhaupt gelten. Ihm wurden auch einige Uraufführungen anvertraut, besonders nachdem es den Bruch mit Mravinsky gab. Und zu Lebzeiten des Komponisten war man sicher besonders nah dran und beteiligt am kulturellen Geschehen und am Leben in jener Zeit überhaupt. Hatte möglicherweise auch dieselben Ängste und Befürchtungen. Der ganze erste Satz steht im Zeichen geschäftigen, hektischen Treibens. Das Orchester wirkt sozusagen „bissig“, artikuliert scharf und prägnant. An die Virtuosität des Staatsorchesters oder der besten westlichen Vertreter z.B. die Orchester aus Wien, London oder Montreal kommt es nicht ganz heran. Es wirkt weniger leuchtkräftig und der Gesamtklang erinnert an die grauen Städte hinter dem eisernen Vorgang, in denen man immer an der nötigen Stadtbegrünung gespart hat. Er wirkt also grau und ist auch ein wenig rau unterwegs. Aber das ist sozusagen Jammern auf höchstem Niveau. Gegenüber Svetlanov belässt es Kondrashin punktgenau bei der leichten, pfiffigen Ironie, während Svetlanov mehr Richtung beißende Satire tendiert durch seine Steigerung ins Monströse. Gut, dass wir die Wahl haben zwischen diesen exzellenten Versionen.
Die Klarinette im zweiten Satz spielt sehr klangschön (nicht extra fahl), die Streicher, insbesondere die Violinen mit einer unter die Haut gehenden Intensität (ab B). Dass Kondrashin gerade die langsamen Sätze ganz besonders expressiv musizieren lässt, fiel uns bereits während des Vergleiches zur 5. Sinfonie auf. Hier werden wir erneut Zeugen eines unerhörten Steigerungsverlaufes. Das Stockende als eine Ausdrucksform des Trauerns wird sehr gut herausgearbeitet. Die Erschütterung wird unmittelbar nachvollziehbar (Mittelteil). Einen vergleichbar intensiven Klagegesang (ab T. 212) gibt es kaum ein zweites Mal. Dass dies mit Erschöpfung einhergeht und die Dekomposition am Ende des Satzes stehen muss, wird in dieser Einspielung zur Zwangsläufigkeit. Alles erwächst aus dem vorherigen, alles wirkt im besonderen Maß stimmig.
Im „Scherzo“ wirkt das Orchester nun doch hochvirtuos, der Zugriff wirkt enorm zupackend und überdreht. Nur die Hörner könnten besser durchkommen. Die eher fahlen Farben lassen den aggressiven Ton eher noch beklemmender wirken.
Der vierte Satz wirkt nicht so rabiat kontrastierend wie zum Beispiel in den beiden Roshdestwensky-Einspielungen, aber immer noch sehr ausdrucksvoll. Kondrashin macht aus der Verhörszene weniger Aufhebens, lässt es als normaler, fast schon routinierter Vorgang passieren, was die Sache fast noch schlimmer klingen lässt. Mit Eiseskälte.
Im fünften Satz erblickt das soeben verschüttete Fagott wieder das Licht der Welt, zunächst vorsichtig, dann frecher und vorwitziger. Oh, ich lebe noch, wie schön. Kräftige, kurze Staccati sind die Folge, dann wird es soghaft dramatisch, umwerfend mitreißend und ab I dann werden schließlich alle Kräfte entfesselt. Tänzerisch furios aber auch triumphales Gelächter ist da zu hören. Die Stretta dann macht schon einen brutalisierten Eindruck, gibt es da noch einmal einen Schlagabtausch? Es sollte klar sein, wer da schließlich zu Boden gehen sollte. Gegenüber den beiden anderen hervorragenden sowjetischen Aufnahmen wirkt Kondrashin etwas weniger gezwungen bzw. druckvoll, selbstverständlicher, lockerer. Aber enorm ausdrucksvoll.
Wie bereits kurz angerissen gibt es noch zwei Live-Mitschnitte mit Kondrashin, beide von 1980. Der SFB (Sender Freies Berlin, heute im RBB aufgegangen) erreicht dabei ein präsenteres, klareres, offeneres und dynamischeres Klangbild als es bei Melodia aber auch in Amsterdam gelang. Das Orchester wird räumlicher, körperhafter und saftiger abgebildet. Ein leichtes Rauschen könnte noch auf eine Analog-Aufnahme hinweisen. Klanglich ist sie auch erheblich ausgewogener als die beiden Roshdestwenskys aber nicht ganz so dynamisch wie die Svetlanov-CD.
Das junge Orchester steht den Moskauer Vollprofis in nichts nach, wenn man einmal von einer größeren Sicherheit im Zusammenspiel absieht. Das Concertgebouw-Orchester, das keinen guten Tag hatte, kann dieses Mal sogar klar distanziert werden. Kondrashins Tempi sind unter den beiden Aufnahmen austauschbar. Die Gesamtspielzeit bis auf die Sekunde gleich. Der treibende Duktus im ersten Satz spricht ein wenig für die JDP. Die Soloposaune wirkt mächtiger als in Moskau und wirkt als (verzweifeltes da allzu häufiges) Machtwort einfach klasse. Ansonsten geht es genauso frisch und hektisch zu wie in Moskau.
Die Klarinette wirkt noch etwas dünner als die Moskauer. Leider hören wir die sordinierten Hörner auch bei der JDP nicht (8 nach H und ab T. 123). Das ist schade. Ab T. 135 klingen sie dann ohne Dämpfer enorm ausdrucksvoll. Bei T. 205 spielen sie kein crescendo. Generell fehlt es gegenüber der Moskauer an Ausdrucksdichte, besonders beim Violinen-Chor, obwohl die jungen Geiger/innen hörbar alles reinwerfen, was sie zu bieten haben und sehr sauber spielen.
Das Orchester begeistert im „Scherzo“ komplett, besonders das jugendlich frische Blech. Trotz der staunenswerten Virtuosität kann man immer noch jeder Feinheit im Ausdruck nachgehen. Bravo!
Im vierten Satz blasen die Posaunen und die Tuba noch brutaler als in Moskau, auch die Becken schlagen voll zu. Der/die Fagottist(in) scheint sein/ihr Solo zu genießen. Selten hat man mit diesem Instrument in der Hand mal so ein wichtiges. Es wird jedenfalls ungemein ausdrucksstark gespielt. Großartig. Weniger großartig, aber das ist nun einmal so bei einem echtes Live-Mitschnitt, ist der böse Schnitzer einer Posaune oder der Tuba, so genau bekommt man es gar nicht raus. In Amsterdam erwischte es andere Mitspieler. Der fünfte Satz bietet erneut eine mächtige Steigerung das alles dargeboten mit einer umwerfenden Verve.
Kondrashin verwirklicht sein Konzept ohne Einschränkungen auch noch nach 15 Jahren und sogar mit einem (allerdings grandiosen) Jugendorchester. Dass das funktioniert grenzt an ein kleines Wunder. Nicht ganz kompensieren können die jungen Musiker allerdings das Einbringen von Lebenserfahrung, gesammelt im „sozialistischen“ Realismus, was man dem zweiten Satz anmerkt. Da spüren die Moskauer Kolleg/innen einfach besser, worum es geht und können es auch musikalisch umsetzen. Die JDP bringt dafür ein kleines Mehr an jugendlichem Enthusiasmus und Verve in den anderen Sätzen mit ein.
▼ eine weitere Aufnahme desselben Dirigenten in der Liste.
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5
Yuri Temirkanov
St. Petersburger Philharmoniker
RCA
1995
4:36 7:39 2:39 4:06 6:14 25:14
Temirkanovs Zugang zum ersten Satz ist gekennzeichnet von einem flotten Tempo, das einen fast schon gehetzten, in jedem Fall aber überdrehten Eindruck macht. Er betont dabei besonders den Spielwitz, wirkt aber durch das hochvirtuose Orchester unterstützt, weder federleicht noch glatt. Dem Hörer wird keine Sekunde Ruhe gegönnt und wenn er unvorbereitet an das Stück herangeht oder es das erste Mal hört, ist der Satz schon vorbeigeflogen, bevor man gewahr wird, was überhaupt hier los ist. Details stehen weniger im Fokus von Temirkanovs Einspielung. Svetlanovs Lesart wirkt bei gleichem Tempo ungleich gewichtiger und um eine ganze Dimension tiefgründiger. Da sind wir uns nicht ganz sicher, wer das näher an den Vorstellungen des Komponisten dran ist. Wahrscheinlich – Kondrashin.
Ein völlig anderes Bild ergibt sich im zweiten Satz, denn hier gibt der Dirigent im Tempo nach, um Leid und Trauer Raum zur Entfaltung zu geben. Insbesondere der hervorragend weiche, nie süßliche, besonders feine und reine Klang der Streicher gefällt. Klangschönheit und expressiver Ausdruck halten sich auf glückliche Art die Waage.
Im „Scherzo“ kehrt der Spielwitz aus dem ersten Satz wieder zurück. Auch hier wieder sehr klangschön aber auch bissig. Die begeisternde Perfektion kocht hoch und streift bei aller Doppeldeutigkeit das Hysterische. Das rasante Tempo passt nun noch besser als zum ersten Satz.
Im vierten Satz könnten die Posaunen noch ein wenig schärfer zur Sache gehen. Sie spielen fast zu schön und erhaben, dass man vor ihnen den Respekt verlieren könnte. Piatti und Trompeten bestätigen den Richterspruch aber mit unmissverständlicher Entschlossenheit. Das Fagott lässt sich Zeit (es sind keine Taktstriche notiert, sodass man davon ausgehen kann, dass nun der Dirigent dem Solisten bzw. der Solistin folgt). Sie wird genutzt für ein fast lamentoartiges Flehen. Wie schön die Fagotte heutzutage auch in Russland klingen!
Es folgt ein hervorragend getimter, vor allem gut erspürter, langsamer Übergang vom Largo zum Allegretto. Das weitere Spiel wirkt detailreich und fein, die Klimax wird groß angelegt und nach und nach immer heftiger zupackend, bis man die Knute doch wieder drückend zu spüren bekommt. Der Geschwindmarsch gipfelt aber in einem ausgelassenen, übermütigen Schluss. Die Fragen sind damit nicht unbedingt alle gelöst.
Natürlich, offen, sehr transparent, gut gestaffelt und dynamisch gibt sich der modern wirkende Gesamtklang. Der einzige Schlag der Gran Cassa kommt sehr wuchtig. Das gesamte Orchester klingt warm mit einer sinnlichen Note, die den Spaß am Hören für die meisten Hörer/innen deutlich erhöhen dürfte.
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5
Hugh Wolff
HR – Sinfonieorchester
Eine CD-Produktion des HR
2001
5:23 9:14 2:53 3:19 6:01 26:50
Der diskographische Beitrag aus Frankfurt ist geprägt von einem außerordentlich detaillierten, virtuos und mit viel Autorität spielenden Orchester und einer sich auf Referenzniveau befindlichen Klangqualität. Die Posaunenstimme bringt ihren wichtigsten Beitrag des ersten Satzes, das I-Ah des Esels, besonders aufdringlich und laut. Die Piccolo-Flöte spielt zunächst sehr sangesfreudig und aufmüpfig. Jederzeit hat man das Gefühl, der Dirigent weiß genau, worum es in diesem Satz geht. Die Haydnnähe ist bereits äußerlich erkennbar, denn die Schostakowitsch-Sinfonie teilt sich die CD mit einer Sinfonie von Joseph Haydn. Das Spiel wirkt enorm sicher und geerdet, nichts wirkt dem Zufall überlassen, da wurde sorgfältig in die Partitur geschaut und gewissenhaft geprobt.
Wie bereits Kubelik, Kurtz und Bernstein vor ihm, wählt auch Hugh Wolff für den zweiten Satz fast schon ein Tempo, das einem Adagio gut anstünde. Wie seine diskographischen „Vorfahren“ interpretiert er seine Rolle vielleicht dahingehend, dass es seine Aufgabe sei, den Wunsch des Komponisten auch hinter seinen Anweisungen zu entdecken und umzusetzen. Entsprechende Äußerungen Kurt Sanderlings, der noch mit Schostakowitsch selbst über die Tempi seiner 5. Sinfonie gesprochen hatte, könnten diese Vorgehensweise rechtfertigen. So wollen wir es auch gar nicht kritisieren, wenn es musikalisch erfüllt zum Klingen gebracht wird. Und das ist hier der Fall. Schon das Spiel der Klarinette schlägt mit ihrem ungemein differenzieren Ton in ihren Bann. Bei a tempo wird Wolff dann jedoch erheblich schneller, als es sein eigenes Anfangstempo, das es wieder zu erreichen gilt, vorgibt. Was soll man davon halten? Wenn man die Partitur nicht kennen würde, wäre es noch wirkungsvoller. Die sordinierten Hörner kommen ganz hervorragend. Bravo! Dynamisch werden die vorgegebenen Grenzen mustergültig ausgereizt. Z.B. das ff des Holzes 5 T. nach C hört man bei Wolff am besten herausgearbeitet. Man hört, wie laut das Holz kann, wenn es muss. Nochmals: Bravo! Das Flötensolo über 32 Takte hinweg klingt herausragend. Bei E kommt das a tempo übrigens haargenau so wie das Anfangstempo, ein Beweis, dass Wolff diese Kunst sehr wohl beherrscht.
Im „Scherzo“ spielt die Klarinette dann allerdings auch wieder viel zu laut, wie so oft. Ansonsten spielt das Orchester auch diesen spieltechnisch ambitioniertesten Satz supergenau und absolut brillant.
Im vierten Satz, der vor allem vom kontrastreichen Antagonismus lebt, wirkt das Blech mächtig und bedrohlich wobei besonders die sonst eher unterschwellige Tuba dieses Mal ungemein bedrohlich ihr ganzes Volumen mit in die Waagschale wirft und zeigt, wie laut sie kann, wenn nicht absolute Homogenität das unbedingte Ziel aller Kollegen ist. Auch die Trompeten und die Piatti (Becken) wirken sehr intensiv und gebieterisch. Das Fagott-Solo ist eines der besten.
Auch der Übergang zum fünften Satz ist musikalisch sehr gelungen. Das Orchester mit seinem exzellenten Zusammenspiel spielt immer noch nuancenreich und ungemein virtuos. Vielleicht nicht so charakteristisch und unverwechselbar wie die Wiener, aber genauso gut. Die Tempogestaltung ist haarfein der Partitur entsprechend, die Steigerungen großartig. Wir waren fast ein wenig sprachlos. Seltsam ist es, dass damals nicht viel mehr Einspielungen mit Hugh Wolff gemacht wurden, diese musste den Verantwortlichen doch enorm vielversprechend erscheinen.
Zumal auch der Klang ungemein präsent, offen, weiträumig, recht voluminös, glasklar und sehr dynamisch ist. Der einzige Einsatz der Gran Cassa hat sozusagen echten Punch. Das Verhältnis von akustischer Trockenheit und Halligkeit wird ideal getroffen.
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5
Sir Georg Solti
Wiener Philharmoniker
Decca
1990, Live
5:12 5:47 2:42 2:41 6:08 22:30
Sir Georgs späte Liebe zu den Sinfonien Schostakowitschs zeitigt im Falle der Neunten fünf vorzügliche Früchte (alle fünf Sätze). Ganz interessant fiele denn auch der Vergleich des Wiener Orchesterspiels aus, wenn man es mit der Bernstein-Einspielung, die nur fünf Jahre zuvor gemacht wurde, vergleichen würde. Unterschiedlicher kann ein und dasselbe Orchester nämlich kaum klingen.
Die Streicher scheinen bei Soli erheblich kleiner besetzt zu sein. Den typischen Wiener, wie dahinschmelzenden Schönklang der Violinen findet man nur bei Bernstein prototypisch. Bei Solti wird er auf ein Minimum reduziert. Wichtiger ist ihm ein temperamentvoller Gestus mit viel Drive, der mehr an seine Jugendjahre als an seine späten erinnert. Das Posaunen-I-Ah wirkt bei Solti eher nebensächlich, da räumlich nach hinter versetzt. Ansonsten wirkt der Gestus bei Solti sehr eloquent. Am sinnlichen Klang ist er hingegen nicht sonderlich interessiert, jedoch bringt das Orchester schon a priori einiges davon mit. Während die Philharmoniker bei Solti einen angestachelten Eindruck machen, scheinen sie Bernstein zu Füßen zu liegen, um das Beste und Schönste aus sich herauszuholen.
Der sehr zügig genommene „langsame Satz“, der bei Solti gar keiner ist, könnte sein Vorbild bei Kondrashin gehabt haben. Die Holzbläser erfreuen nun mit genauer Intonation und enormer Farbigkeit. Die gedämpften Hörner sind bei Solti sehr gut hörbar. Solti achtet mit Argusaugen auch auf die Details. Der Gestus wirkt sehr bewegt, intensiv und ausdrucksvoll. Mit seinem Tempo erweckt Solti auch die tänzerischen Elemente des Satzes mehr als andere. Auch die Übergänge zwischen den jeweiligen Tempi bringt Solti gekonnt. Es wurde offenkundig nicht nur in Frankfurt sondern auch in Wien sehr gut geprobt.
Das hochvirtuose, impulsive Spiel der Wiener im „Scherzo“ bringt einen verhetzten Gestus hervor, sodass die Knute hinter dem Treiben sehr deutlich spürbar wird, deutlicher als bei fast allen anderen Einspielungen.
Im vierten Satz intoniert das imponierende Blech protzig und entschlossen, das differenziert und klangschön spielende Fagott wirkt dagegen sehr klein, aber nicht mickrig.
Der Übergang zum fünften Satz erfolgt, fast möchte man sagen Solti-typisch recht geradlinig aber doch nicht ganz abrupt. Der Gestus wirkt befeuert vom sogleich gepfeffert wirkenden, vorantreibenden Tempo. Das Orchester spielt hoch akzentuiert und blitzsauber, ab M besonders zirkushaft aufgekratzt und exaltiert. Tosender Applaus in Wien.
Das Klangbild ist sehr klar und offen, gut gestaffelt, natürlich und präsent, aber ein wenig nüchtern. Wem die sinnliche Komponente des Klangs wichtig ist, wäre mit der Aufnahme Bernsteins von 1985 diesbezüglich reicher beschenkt.
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5
Gennadi Roshdestwensky
Staatliches Sinfonieorchester des Kultusministeriums der UdSSR
Brillant
1982, Live
4:59 6:58 2:51 4:07 6:20 25:15
Melodia – Eurodisc
1983
5:10 7:30 3:00 4:05 6:35 26:20
Von Gennadi sind uns zwei Einspielungen bekannt, wobei man davon ausgehen kann, dass die Live-Einspielung schon innerhalb der Vorbereitungen zur späteren Aufnahme der CD erarbeitet wurde. Die Gesamtaufnahme aller Schostakowitsch-Sinfonien fand in den frühen achtziger Jahren statt.
Fangen wir mit der zuerst entstandenen Live-Aufnahme des Moskauer Rundfunks an. Der Gestus wirkt noch etwas quirliger als die Aufnahme unter Studiobedingungen. In ganz und gar nicht beschaulicher Atmosphäre erfolgt ein schonungsloser Schlagabtausch. Das Orchester wirkt enorm motiviert und sehr angetrieben. Alles klingt knapp und bündig, schnörkellos.
Die Klarinette im zweiten Satz intoniert und artikuliert sehr genau, generell lauter als im Studio, sie spielt ja auch für den Saal und will überall gehört werden. Das Publikum honoriert den gelungenen Vortrag nicht und hustet in den extrem leisen Passagen ungeniert weiter, als ob Ignoranten im Publikum säßen. Das Tempo wirkt deutlich geraffter, aber keineswegs weniger ausdrucksvoll als „im Studio“, atmosphärisch dicht und reichhaltig abschattiert. Das absinken, fast könnte es auch ein Ertrinken darstellen, der beiden Klarinetten ab F wird sehr deutlich gemacht.
Das „Scherzo“ wirkt noch ein wenig schärfer und aufgewühlter als im Studio, hervorragend gefiel uns der absolut freie Vortrag.
Im vierten Satz, der „Verhörszene“, erklingt das Becken weniger eindrücklich wie im Studio. Derselbe Fagottist spielt auch hier die Möglichkeiten seines Instruments bis an seine Grenzen voll aus. Dabei ist das Publikum nun fachkundig und hingerissen mucksmäuschenstill. Die Posaunen, die Tuba und die Trompeten sind ebenso schrill und bedrohlich. Ein bedauerliches Missgeschick ereilt den Fagottisten genau auf dem Höhepunkt seines Vortrages, statt des gewünschten e entweicht ein Geräusch seinem Instrument, das einer gehobenen, akustisch enorm durchdringenden Flatulenz sehr nahekommt. Er ist aber Profi genug und lässt sich nicht davon irritieren und fährt mit seinem Vortag in gekonnter Manier fort, als wäre nichts passiert. Wir wären im Boden versunken.
Im letzten Satz ereilt die Klarinette ein zweimaliges Missgeschick, das aber nur sehr kurz vom großartigen Gesamteindruck des Orchesters ablenkt. Leider zeigt sich ab I die Klangtechnik überfordert, wenn das ganze Orchester sehr laut spielt. Das Tohuwabohu das erklingt ist keineswegs dem Orchester anzulasten. Das gleiche Phänomen ereilt allerdings auch die Studio-Aufnahme. Dennoch trifft das Orchester keine Schuld. Ab M klingt es dann wieder plötzlich wieder transparent und offen. Tolle, wie entfesselte Stretta.
Die Technik ist der geballten Wucht des Orchesters nicht immer ganz gewachsen. Immer wieder geht’s in den Begrenzer. Die Streicher wirken nicht wie bei der Studioaufnahme zurückgesetzt. Das Blech und insbesondere das Holz werden lange nicht so hervorgehoben wie 1983, klingen aber immer noch sehr präsent. Insgesamt wirkt die Live-Aufnahme natürlicher. Besonders im Moderato sitzt man hautnah im Publikum und könnte nach Herzenslust mit husten, was wir aber nie machen würden. Wer krank ist, bleibt zuhause. Die Live-Aufnahme klingt lange nicht so „digitalesk“ wie die im Studio.
Nun noch kurz zur Einspielung von Melodia, die unter Studio-Bedingungen produziert wurde. Ähnlich wie Klemperer bei seinen Philharmonia-Aufnahmen erhalten vor allem das enorm nahe positionierte Holz, aber auch Blech und Schlagwerk eine hautnahe Präsenz. Die Streicher hingegen wirken deutlich zurückgesetzt, sodass die Perspektive ein wenig ungewohnt wirkt. Bläser vorne, Streicher hinten. Das Marcato-Spiel derselben bekommt man jedoch sehr gut mit. Das ganze Orchester befleißigt sich einer ätzenden, kurzen Staccato-Spielweise, der dem Satz sehr gut zu Gesicht steht. Durch die besonders scharf intonierte Nachtigall (Piccolo-Flöte) wirkt ihr Gesang satirisch überhöht. Der einzige Schlag der Gran Cass ist markerschütternd. Die Soli erhalten von der Klangtechnik einen kleinen „Heilgenschein“ verpasst, bestehend aus etwas mehr Hall als die Mitspieler. Die Klangtechnik agiert wenig zurückhaltend, zweckdienlich vielleicht, aber sie bringt kein natürliches Klangbild zuwege.
Die Klarinette kommt im zweiten Satz nun der vorgeschriebenen Dynamik ganz genau nach. Ihr lebendiger Vortrag ist mit am differenziertesten. Dem ersten Teil dieses Satzes kommt die ungemeine Präsenz des Holzes sehr zugute, spielt es doch hier noch allein. Sie sind zum greifen nah, was die Hörer ganz besonders involviert, gerade in Kombination mit dem angemessenen Tempo. Auch bei Roshdestwensky werden sie gedämpften Hörner sehr gut hörbar. Bravo! Dynamisch wird die Darbietung ungemein weit gespreizt, geht darin in allen Sätzen weit über die Live-Aufnahme hinaus. So kann dem Leid und der Trauer ungeschmälert Ausdruck verliehen werden. Dass die Violinen von weit herkommen, befördert einen den wunderbar ätherischen Ausdruck. Trotz ihres leider stark vom Digitalklang geprägten kühlen und etwas dünnen Klangs. Bei F spielen Flöte und Klarinette ihre Dissonanzen ungemein drastisch aus.
Das „Scherzo“ erklingt mit der ganzen, harten Staccato-Kraft eines unverblümt russisch klingenden Orchesters. Es gibt wohl transparentere Einspielungen dieses Satzes. Aber der Gestus stimmt und keine wirkt dynamischer. Das Trompetensolo klingt scharf wie eine Rasierklinge.
Im vierten Satz klingen Posaunen und Tuba ebenfalls mit allem klanglichen und artikulatorischen Biss, der vorstellbar ist, das Becken versprüht „Gift“, besiegelt wohl das Todesurteil mit dem harten Richterspruch. Das Fagott geht auch im Studio an die Grenzen des mit diesem Instrument darstellbaren, sowohl was das laute, als auch das leise Spiel betrifft und vor allen das ungeschmälerte Espressivo. Nach dem neuerlichen Urteilsspruch verfällt es gar in ein ungebremstes Schreien. So klingt es wahrscheinlich, wenn ein Fagott schreien könnte, muss man wohl korrekter schreiben. Fals auch hier im Feuereifer ein ähnliches Missgeschick wie live passiert sein sollte, wurde natürlich korrigiert.
Beim Übergang zum fünften Satz ist es dann ziemlich unvorsichtig, weil zu laut. Es nimmt so aber bereits das derb und ungemein frech intonierende Holz vorweg. Weil es so präsent ist, wirkt es dann noch frecher, also rotzfrech. Ab I klingt es dann erneut, wie bereits live dicht und hart, die Transparenz ist plötzlich dahin, kehrt aber bei M wieder zurück. Die Klimax bleibt recht langsam, wird aber intensiv vorangetrieben.
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5
Charles Dutoit
Orchestre Symphonique de Montréal
Decca
1992
4:56 8:01 2:49 4:11 6:28 26:25
Die Aufnahme der Neunten stand anscheinend unter einem besseren Stern als die Einspielung der Fünften, mit der sie sich eine CD teilt. Das Tempo im ersten Satz wirkt drängend, ein geschäftiges Treiben bezeichnend. Der Verlauf wird überdreht und zugespitzt. Die Gran Cassa bekommt ihren einmaligen großen Auftritt und darf wie sie soll fff dreischlagen. Das Orchester sitzt vom Anfang bis zum Schluss der Sinfonie auf der vordersten Stuhlkante.
Überhaupt zeigt sich das Orchester von seiner besten Seite, es wirkt aber nicht nur brillant, sondern beweist mit Hilfe seines Dirigenten ein tieferes Eindringen in das Idiom des Werkes, als es bei der fünften den Anschein machte.
So gelingt das Klarinettenduett sehr schön, wirkt vollendet geblasen. Gerade wegen dieser Güte bemerkt man die Taktwechsel und die vielen dissonanten Töne ganz genau und auch dass da was ganz und gar nicht stimmt. Die Flöte steht nicht zurück und spielt ihr langes Solo äußerst differenziert. Das Holz hat als Ganzes einen sehr guten Tag erwischt, auch die Streicher, hervorzuheben sind erneut die Violinen. Sie pflegen dieses Mal einen tollen, vollen und sonoren Klang, wie er intensiver und sauberer kam sein könnte. Auch die Steigerungsverläufe wirken durchdringend und zeigen die intendierte Erschütterung beim Trauern. Dass es dabei sehr schön und luzide klingt, soll nicht von der Kernbotschaft ablenken.
In einem echten Presto erklingt das „Scherzo“, dynamisch, wild, entfesselt. Die Trompete strahlt über das ganze Orchester. Die Virtuosität des Orchesters ist von kaum überbietbarer Perfektion und Brillanz.
Im vierten Satz schöpfen auch Posaunen und Tuba aus dem Vollen und könnten bedrohlicher kaum klingen. Das Fagott-Solo zeigt höchst differenziert und beredt, was aus diesem Instrument herauszuholen ist. Gegenüber dem ersten und dritten Satz wirkt der fünfte vergleichsweise verhaltener. Erst im Verlauf beginnt es dann bedrohlich zu brodeln und eine exzessive, soghafte Steigerung bricht sich Bahn. Auch der Dirigent beteiligt sich durch diverse Geräusche hier einmal vokal. Bei Dutoit fällt uns das das erste Mal auf, machte bisher zumeist einen recht distanzierten Eindruck. Vom Orchester fordert er nun volle Kraft und Gelenkigkeit. Die entfachte Zirkusmusik wirkt keck aber auch stürmisch und der Sturm hat immer auch eine bedrohliche Komponente. Die Stretta klingt zwar nach Pomp und Gloria. Löst sich dann aber viel zu früh und plötzlich in Nichts auf. Diese Einspielung dauert 26:25 Minuten. Davon ist sie keine einzige Sekunde zu lang.
Der Klang mundet vortrefflich. Voll, rund, warm und differenziert und mit sehr guter Präsenz. Das Orchester wird gut gestaffelt in einen natürlich wirkenden Raum gestellt. Zudem auch noch sehr dynamisch. Insgesamt noch etwas besser als die sehr gute Haitink-Einspielung aus dem gleichen Haus.
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5
Leonard Bernstein
Wiener Philharmoniker
DG
1985
5:18 9:16 5:44 3:25 3:14 27:47
Von Leonard Bernstein liegen uns zwei Einspielungen vor. Zu dieser hier vorgestellten zweiten, die in Wien auch für Video und Fernsehen aufgezeichnet wurde, gesellt sich seine erste, die 1965 in New York produziert wurde. Also genau 20 Jahre zuvor. Wie in fast all seinen Remakes die er, nun bei der DG vertraglich verpflichtet, von seinen CBS-Aufnahmen gemacht hat sind die Tempi, vor allem die der langsamen Sätze langsamer geworden. Meistens war damit nicht unbedingt eine Verbesserung verbunden. Auch im Fall der Neunten Schostakowitschs sind die beiden langsamen Sätze davon betroffen. Im Falle des zweiten Satzes befindet sich Bernstein jedoch in guter Gesellschaft, sodass man nicht von einer subjektiven Eigenwilligkeit des Musikers auszugehen hat, sondern eher von einer neuen Einsicht. Auch Kurtz und Kubelik haben zuvor, Hugh Wolff, Yoel Levi oder Vasily Petrenko haben nach ihm ähnliche Tempi gewählt. Allerdings kaum mit derselben Intensität. Gegenüber der hochklassigen älteren Aufnahme aus New York setzen die bis in die Fingerspitzen motivieren Wiener Philharmoniker nochmals besondere Glanzlichter auf. Nach anfänglichen Reibereien waren sie ab den späten Siebzigern bis zu Bernsteins Tod ein eingeschworenes Team.
Das höchst engagierte Spiel geht mit großem Nuancenreichtum einher. Das Blech agiert kernig, die Streicher seidig und mit höchster Homogenität. Auch die Bässe kommen gut zur Geltung. Das Violinsolo ist eines der besten überhaupt. Dass Bernstein das häufige und zumeist falsche Einsetzen des Posaunen-I-Ahs vor allen als „Running Gag“ sieht, ist nur ein Teil der Wahrheit, denn es wird ihm kaum entgangen sein, dass selbst der größte Antagonist, die vogelfreie Nachtigall, die von der Piccolo-Flöte gegeben wird, zuletzt auch in der Sprache des Kuckucks spricht, die nun einmal nur aus Terzen besteht. Der Gestus wirkt insgesamt ein wenig gelöster als üblich oder auch entspannter, dass der erste Satz nun beinahe wie eine Ouvertüre einer Operette oder eines Musicals klingt, mag in den Ohren des Zuhörers begründet sein. Bei uns stellte sich diese Assoziation nicht ein.
Mit dem Tempo des zweiten Satzes nimmt es Bernstein wie bereits erwähnt nicht so genau. Das nun eindeutig zum langsamen Satz mutierte „Moderato“ bekommt etwas leicht lamentohaftes oder auch kondukthaftes. Das stockende kommt weniger gut zur Geltung. Bernstein macht es sich, wie bereits bei Kubelik erwähnt, zur Aufgabe, die Wahrheit des Ausdrucks auch jenseits der chiffrehaften Tempoangabe zu erkennen. Daher schlägt er einen anderen Weg als viele andere ein. Die beiden Klarinetten sind hervorragend aufeinander abgestimmt. Die Flöte spielt teilweise mit reichem Vibrato, bleibt aber immer geschmackvoll und gestenreich anschaulich. Die Geschichte soll ja auch nicht teilnahmslos erzählt werden. Das Unisono von Klarinette und Oboe passt von der Intonation her perfekt zusammen, die Wiener Oboe sperrt sich aber dem Schmelzklang. Das Wunder ereignet sich, als die Flöte dazukommt, denn nun klingen alle drei gemeinsam wie ein neues reichhaltiges Instrument. Erst als die drei Individuen zusammenkommen, können sie ihre Trauer gemeinsam formulieren bzw. kundtun. Die Violinen klingen von besonderer Reinheit, einfach fantastisch, bei E in der hohen Lage ätherisch entrückt.
Mitreißendes Musizieren im „Scherzo“. Die Trompete mit ihrem Gassenhauer hört sich an wie die eines Dompteurs, der die Löwen damit zur Raison zwingt. Der dritte Satz wirkt etwas weniger quirlig als noch 20 Jahre zuvor in New York. An das „Wir-arme-Leut-Motiv“ aus Wozzeck wird assoziiert.
Im vierten Satz spielen Posaunen und Tuba mit äußerster Kraft, ihre Potenz zur Unterdrückung voll ausspielend. Anders als die Flöte im zweiten Satz verzichtet das Fagott auf Vibrato, auf seinen vollen, üppigen Klang verzichtet es nicht. Das New Yorker Fagott mag noch etwas brillanter geklungen haben. Die Erinnerung an das Fagott-Solo im letzten Satz der „Pathetique“ wird selten so deutlich gemacht wie hier.
Im letzten Satz behält Bernstein die Konzeption wie in New York bei, jedoch geht die Virtuosität der Wiener noch ein Stückchen weiter. Mit der quäkenden Oboe muss man sich jedoch arrangieren. Mit äußerster Präzision droht das Orchester alles wegzufegen wie ein Sturmwind. Die Höchstgeschwindigkeit wird ab G erreicht. Die groß angelegte Klimax entlädt sich bei I. Ein geschwindes Tänzchen gibt es auch. Als Siedepunkt sollte man nun noch einen Hymnus erwarten, stattdessen gibt es Lachsalven, vielleicht auch noch eine Tracht Prügel, so genau hört man es ja gar nicht. Mehr gibt es nicht, denn dann ist plötzlich Schluss. Anders als die Decca-Techniker bei der Solti-Aufnahme gibt es nach dieser Aufführung keine Beifallstürme des Publikums, man belässt es bei der Stille nach dem Sturm und blendet sich schnell aus.
Das Klangbild ist offen, farbig und dynamisch, das Orchester sehr gut gestaffelt.
▼ eine weitere Aufnahme desselben Dirigenten in der Liste.
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4-5
Rudolf Barshai
WDR Sinfonieorchester Köln
Brilliant
1996
5:07 5:35 2:53 3:00 6:47 23:22
Rudolf Barshai war zu der Zeit, als Schostakowitsch die 9. Sinfonie schrieb, gerade sein Kompositions-Schüler. Er war es auch, der die 14. Sinfonie uraufführen und mit dem Einverständnis des Komponisten einige Streichquartette in sogenannte Streichersinfonien umarbeiten durfte. Auch Barshai saß während und nach der Uraufführung der Neunten „auf glühenden Kohlen“ und war erleichtert, dass Schostakowitsch nicht bereits sofort danach dingfest gemacht wurde. Dass die komponierten Frechheiten nicht entdeckt wurden, wäre ein großes Glück gewesen, meinte Barshai anschließend. Er wusste ganz genau, worum es in dem Stück ging.
Das merkt man auch seiner Interpretation der Sinfonie im hohen Maß an. Lediglich die nicht ganz an die alleroberste Liga herankommende Qualität von Orchester und Klangqualität verhindern eine noch bessere Einordnung. Seine Einspielung wirkt wohl proportioniert, pointiert und getragen von großer Ernsthaftigkeit. Dessen ungeachtet entlockt er dem Orchester ein hohes Maß an Spielfreude und einen unwiderstehlichen Drive. Nicht nur im ersten Satz entsprechen die Tempi den notierten Wünschen des Komponisten. Barshai geht dabei im Tempo noch über den pfiffigeren, frecheren Kondrashin hinaus. Der Hang ins Monströse Svetlanovs ist Barshais Sache nicht, er bleibt sachlicher, lässt es aber an geradlinigem Zugriff nicht fehlen.
Dem gemäß erklingt auch der zweite Satz zügig und fließend. Durch das irritierend schnelle Tempo wird das Trauern zumindest vordergründig überspielt. Der aufmerksame Hörer bemerkt aber, wenn zunächst auch nur intuitiv, dass da was nicht stimmen kann. Dennoch darf die Flöte, nun vom I-Ah des Esels und von dem kaum weniger störenden Kuckuck des ersten Satzes, ungestört singen. Der teils walzerähnliche Trauergesang (3/4 und 4/4- Passagen wechseln sich ab) wirkt intensiv, macht aber nicht den Eindruck, dass er für die Öffentlichkeit bestimmt wäre. Diese Version könnte der der Uraufführung sehr nahekommen, Barshai war höchstwahrscheinlich anwesend.
Das Orchester meistert auch den dritten Satz mit Bravour, der volle Klang vor allem der Streicher lässt auf eine starke Besetzung schließen. Das Spiel gelingt sehr virtuos.
Auch im vierten Satz fehlt es nicht an Eloquenz. Posaunen und Tuba wirken mehr als bedrohlich, das voll tönende Fagott überzeugt mit einem ausdrucksvollen Vortrag, wobei das zurückhaltend verwendete Vibrato sehr gut als ein Beben oder Zittern in der Stimme gedeutet werden kann. Der Satzcharakter wird so punktgenau getroffen.
Auch im letzten Satz fallen die exzellenten Bläsersoli auf. Auf eine Beschleunigung beim Crescendo verzichtet Barshai, viele gehen da anders vor. Erst ab G Pochissimo animato beschleunigt er. Überhaupt wirkt seine Lesart erneut sehr partiturgenau. Dass exakt bei M das Allegro beginnt, ist bei Barshai selbstverständlich. Die Wirkung jedoch ist bei ihm weniger extatisch oder jubelnd sondern vielmehr zurückhaltend oder reserviert-beherrscht. Schon fast schal. Eine Wirkung die uns als legitim und passend erscheint. Kein Jubelschluss wie z.B. bei Dutoit etwa, der erst seltsam wirkt, wenn man anschließend darüber nachdenkt. Diesen Spaß versagt uns Barshai.
Der Klang wirkt etwas satter und klarer als etwas bei Ashkenazy, das Orchester klingt etwas voller, wirkt gut aufgebaut auf den grundierenden Bässen. Die Klangfarben leuchten weniger als es bei diesem Orchester möglich wäre. Die Dynamik ist gut.
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4-5
Mariss Jansons
Oslo Philharmonic Orchestra
EMI
1991
4:56 6:13 2:37 3:09 6:12 23:07
Auch von Mariss Jansons gibt es noch eine weitere Einspielung, die er über 20 Jahre nach der ersten mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks gemacht hat. Leider konnten wir sie noch nicht in den Vergleich aufnehmen.
Der erste Satz klingt fein, flott und eloquent. Eine Spitzeneinspielung. Z.B. mit mehr Impetus und Drive als Inbal und die Wiener Symphoniker und auch pointierter.
Der zweite Satz, mit dem vorgeschriebenen Moderato-Tempo gespielt, wirkt zügig. Der Einsatz der sordinierten Hörner, zuerst bei T. 123, der so oft gar nicht zu hören ist, kommt bei Jansons sehr gut. Ansonsten werden die solistischen Leistungen viel mehr in den Gesamtklang integriert als z.B. bei Bernstein (beide Einspielungen). Dies und das flotte Tempo befördern den Eindruck, dass es Jansons stets mehr um den Blick aufs Ganze geht, als um Detailakribie. Dabei werden auch viele Nuancen geboten, nur nicht auf dem sprichwörtlichen Silbertablett. Das Spiel des norwegischen Orchesters wirkt innig. Die Flöte vibriert allerdings reichlich. In Jansons Einspielung wird man mit dem Zaunpfahl an Sibelius´“Valse triste“ erinnert. Sie macht im zweiten Satz großen Eindruck.
Das „Scherzo“ erklingt als angetriebenes Presto. Falls Schostakowitsch bei dieser Vorstellung an eine dieser folkloristischen Volksbelustigungs-Shows gedacht hat, wie schon im Scherzo der fünften Sinfonie, mit denen die Führung das Volk bei Laune hält (Brot und Spiele), dann steht diese Show bei Jansons kurz vor dem Entgleisen. Das Orchester realisiert diesen „Tanz haarscharf am Vulkan“ meisterhaft.
Bei der „Gerichtsszene“ im vierten Satz gesellen sich insbesondere bei der Wiederholung des Urteils auffallend zurückhaltende Becken zum Blech. Nun könnte man meinen, der Richter könne das Urteil vielleicht doch noch einmal abmindern, aber der Tonfall wirkt eher abwertend, als wolle er dem Delinquenten damit sagen: „Du bist es mir gar nicht mehr wert, meine Stimme laut zu erheben, die Würfel sind längst gefallen, waren es doch schon längst.“
Im letzten Satz klingen die Violinen ein wenig heller als zuvor, silbrig hell, aber noch weich. Das Holz gefällt durch seinen vollen, warmen Klang (gute Oboe). Das subversive Gelächter kommt gut raus, es wird auch ein stamm gespannter Spannungsbogen aufgebaut. Das Orchester hat sich in den Jahren mit Jansons mittlerweile prächtig herausgeputzt und klingt brillant. Am Ende erreicht es nolens volens nicht ganz den überdrehten Gestus von Solti oder Dutoit.
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4-5
Leonard Bernstein
New York Philharmonic Orchestra
CBS-Sony
1965
5:30 8:06 3:10 2:45 5:43 25:14
In Bernsteins erster Aufnahme ist es uns erstmals aufgefallen, dass es im ersten Satz von Kuckucks-Terzen geradezu wimmelt. Die Spielweise ist markant in der Rhythmik, straff, aber nicht überdreht. Etwas gebremster als etwa bei Solti, Barshai oder Ashkenazy. Bernstein wäre aber nicht Bernstein, wenn er nicht genug Power in den Satz bekäme.
Beim zweiten Satz bewegt sich Bernstein in etwa zwischen Barshai und seinem eigenen Remake in Wien. Auch in New York folgt er den Vortragsbezeichnungen nicht sklavisch. Besonders wenn es um p und pp geht wird es gerne einmal etwas lauter. Der f-Bereich wird hingegen voll ausgereizt, womit die Relationen schon fast wieder stimmig sind. Besonders 5 T. nach C werden Ausdrucksextreme aufgesucht. Das wirkt empathisch erfühlt, zumal die New Yorker Streicher berückend schön spielen.
Im „Scherzo“, mit der gebotenen Schärfe dargeboten, erscheint der Impetus quirlig. Die Mahlernähe wird sehr deutlich gemacht.
Das Fagott-Solo im vierten Satz macht die Einsamkeit und die Verzweiflung des verurteilten Individuums sehr gut deutlich. Es nutzt dazu wenig Vibrato, gefällt klanglich sehr.
Im letzten Satz ist Bernstein in seinem Element, der Gestus wirkt enorm vorantreibend bis zur Atemlosigkeit gesteigert. Am Ende mit einem Schuss Extatik versehen. Der Drang ins zügellos Monströse verfehlt seine Wirkung nicht. Möglicherweise passiert das Ganze in schnellerem Tempo als es sich der Komponist vorgestellt hat. Wir bemerkten hier kaum Augenzwinkern und keinen Hang zur Parodie. Eher frostiger Ernst bei allerdings erhitztem Musiziergeist.
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4-5
Neeme Järvi
Scottish National Orchestra, Glasgow
Chandos
1987
5:03 6:30 2:52 3:47 6:48 25:35
Das Orchester verfügt nicht ganz über die ultimative Virtuosität der besten, aber gerade die Violinen, die bei anderer Gelegenheit eher ein kleiner Schwachpunkt waren, leisten einen sehr guten Job. Keinerlei Nachlässigkeiten sind zu vernehmen. Die Bläsersoli sind ausgezeichnet, generell wird der erste Satz locker und flott dargeboten. Es mangelt auch nicht an Pointierung und ironischer Zuspitzung. Nur beim Schlussakkord kommt plötzlich der lange Nachhall einer großen, leeren Konzerthalle ins Spiel, während im Verlauf auf eine Überhalligkeit verzichtet wurde, bzw. sie im Griff war. Das ist aber sowieso eher eine Nachlässigkeit, die das Technikteam betrifft.
Järvi beachtet im Moderato das Tempo genau. Auch das f der gedämpften Hörner ist leise hörbar. Für einen tragenden Trauergesang bleibt bei Järvi keine Zeit. Er verbleibt in einem verbindlichen Konversationston. Leid und Schrecken werden so zwar „angesprochen“, aber gut kaschiert. Nur die Violinen brechen aus diesem Ton mit herrlich weichen Kantilenen aus, die zu Herzen gehen.
Im „Scherzo“ wirken die schnellen Tonrepetitionen ein wenig verunklart, was ebenfalls auf die ausladende, allzu weiträumige Akustik zurückzuführen sein mag. Es bilden sich Echoeffekte. Das sollte bei guten Tontechnikern eigentlich nicht passieren. Das Trompetensolo, fast ein Gassenhauer, wird vorbildlich herausgestellt. Auch die weiteren Soli gelingen tadellos, das Zusammenspiel ist gut.
Im vierten Satz füllt das Blech den ganzen Hör-Raum, obwohl es sich zuerst nur um die Posaunen und die Tuba handelt. Für die erforderliche Wucht ist also gesorgt. Das gefühlvoll vorgetragene Fagott-Solo verbleibt dagegen in naturbelassener Relation und wirkt dagegen klein und hilflos. Die kompositorische Absicht wird so genau getroffen. Optimal aus tontechnischer Sicht wirkt sie jedoch nicht.
Der Übergang zum fünften Satz gelingt ganz prima. Selten bekommt das Fagott die langsame Charakteränderung so gut hin wie hier. Wie bei einem Chamäleon, das langsam seine Farbe wechselt. Super. Als ob einzelne Puzzleteile langsam aber plastisch zusammengesetzt würden. Nach und nach steigert sich im Verlauf der Satzcharakter zum Furiosen, bis wir uns schließlich auf einem Jahrmarkt oder in einem Zirkus befinden. Leider wirkt das Klangbild im ff erneut spürbar verunklart. Die vielen gelungenen Details und die hervorgezauberten Zwischentöne sprechen für eine intensive Beschäftigung mit dem Idiom. Leider werden die Musiker nicht mit einer komplett gelungenen technischen Umsetzung ins gebührende glasklare Licht gerückt.
Die Staffelung des Orchesters ist weit und tiefreichend, weitgehend ist die Chandos-Aufnahme dieses Mal nicht überhallig, könnte aber für unseren Geschmack noch etwas trockener sein und mehr Punch haben. Die Orchestergruppen sind präsent, aber immer, wenn es turbulent und/oder laut wird, verunklart sich die akustische Szenerie.
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4-5
Bernard Haitink
London Philharmonic Orchestra
Decca
1979
4:55 7:28 2:37 3:54 6:21 25:15
Haitink bietet mit seinem sehr gut aufgelegten, geschmeidig klingenden Orchester mit dem ersten Satz einen frischen, musikantisch geprägten Auftakt der Sinfonie. Ähnlich Dutoit mit einigem Feuer, gar fetzig. Die Soli gelingen hervorragend, das Posaunen-I-Ah prägnant, das Zusammenspiel wirkt sehr gut abgestimmt. So perfekt wie beispielsweise bei Dutoit ist es jedoch nicht ganz. Der Verlauf wirkt turbulent und zugespitzt.
Der zweite Satz wirkt stockend, über weite Strecken jedoch tänzerisch, auch bei Haitink teils wie eine „Valse triste“. Innig mit stark deklamierenden Streichern. Die Violinen und Celli sind sehr gut zusammen, überhaupt macht das LPO gerade in diesem Satz einen blendend aufgelegten Eindruck.
Das „Scherzo“ erklingt als echtes Presto, ein orchestrales Feuerwerk, aber nicht veräußerlicht. An Brillanz mangelt es nicht. Die Trompete spielt ihr prominentes Gassenhauer-Solo mit enormer Strahlkraft.
Im vierten Satz sind Posaunen und Tuba sehr stark, währen der Beckenschlag viel weniger konfrontativ wirkt als bei Dutoit. Das Fagott-Solo gelingt auch beim LPO klanglich und deklamatorisch hervorragend. Die Fagottisten freuen sich, dass sie einmal so brillieren dürfen und geben einfach ihr Bestes.
Auch der Übergang zum fünften Satz wird gut gestaltet. Die Steigerungswellen werden partiturgenau angesetzt, es gibt hier keine Eigenwilligkeiten. Lediglich die Streicher, d.h. die Violinen klingen in diesem Satz nicht mehr so überzeugend wie in den Sätzen zuvor. Den Tempoanspruch der Partitur ab M löst Haintink jedoch nicht ganz ein. Generell jedoch ist diese Einspielung musikalisch und orchestral geschliffen und klanglich sorgfältig ausbalanciert. Allerdings wirkt sie nicht so idiomatisch wie die der russischen Dirigenten, die Schostakowitsch noch selbst gekannt haben.
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4-5
Zdenek Kosler
Tschechische Philharmonie, Prag
Praga
1967, Live
5:03 6:55 3:00 3:37 6:20 24:56
Nur ein Jahr später als die Ancerl-Aufnahme wurde die Neunte erneut in Prag aufgeführt und erneut vom Tschechoslowakischen Rundfunks mitgeschnitten. Man traut seinen Ohren kaum, denn alleine von der Klangqualität her gesehen würde man einen zeitlichen Abstand von über 20 Jahren zwischen den beiden Aufnahmen eher annehmen, als nur ein einziges. Nun hören wie eine Aufzeichnung in bestem Stereo. Zum Klang später noch etwas mehr, nun zunächst zum musikalischen Eindruck. Da gleichen sich die beiden Einspielungen aus Prag nämlich sehr. Auch bei Kosler wirkt der Gestus kontrastreich und frech. Die Posaune spielt ihr I-Ah deutlich und mit ordentlich Schmackes dahinter, will zeigen, wer der Herr im Hause bzw. im Walde ist. Auch die tirilierende Piccolo-Flöte erklingt sehr pointiert. Das Orchester spiel erneut nicht perfekt, macht aber einen bestens aufgelegten Eindruck. Das Schlagzeug kommt sehr präsent bestens zur Geltung. Man könnte annehmen, dass das Orchester die Proben mit Ancerl noch bestens in Erinnerung hatte. Auffallender Unterschied ist lediglich, dass Kosler dieses Mal die Exposition wiederholen lässt.
Das Tempo im zweiten Satz schlägt Kosler zügiger an. Auch die sordinierten Hörner bringt der Dirigent bzw. die Aufnahmetechnik nun viel besser zur Geltung. Dank ist eine Reminiszenz an die ganz besondere „Wozzeck“-Klangfarbe. Die Kantilenen der Violinen erklingen mit winzigen Intonationstrübungen, auch die Hörner im weiteren Verlauf klingen nicht ganz perfekt intoniert.
Das „Scherzo“ spielt das Tschechische Vorzeigeorchester scharf gewürzt. Das Schlagwerk ist immer sehr präsent, sodass man der militärischen Präsenz jederzeit gewahr bleibt, was auch ein pars pro toto für die Machtausübung durch die eigene Obrigkeit darstellt. Das Trompetensolo mit seinem seltsamen Gassenhauer wird besonders gut hervorgehoben.
Auch im vierten Satz erlebt man die Trompete besonders deutlich, das Fagott hingegen agiert erheblich defensiver als bei Ancerl.
Im fünften Satz erscheint trotz des erheblich antiquierteren Klangs die Aufnahme mit Ancerl detailreicher aber auch gewichtiger zu sein, scheint von einem dramatischeren Antrieb getrieben zu werden.
In Prag hat sich der Rundfunk offensichtlich zwischen 1966 und 1967 mit neuem Aufnahmeequipment ausgestattet. Nun setzt man auf die Stereo-Technik und dabei scheint man nicht gespart zu haben. Wahrscheinlich haben die Klangveredler von Praga auch noch gute Arbeit geleistet, dass der Klang so frisch und strahlend wirkt wie aus den Neunzigern. Es bleibt dennoch eine etwas dichte Mikrophonierung, was einen leicht trockenen Gesamtklang zur Folge hat. Die Publikumseinmischungen wurden während der Musik erfolgreich eliminiert, nur in den Satzpausen prasseln die obligatorischen Hustenattacken los.
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4-5
Andris Nelsons
Boston Symphony Orchestra
DG
2015
5:17 8:02 2:53 3:34 6:32 26:18
In der noch recht neuen Einspielung von Andris Nelsons hören wir partiturgenaues Musizieren mit sehr hoher Präzision. Das amerikanische Orchester scheint keinerlei Probleme mit der technischen Bewältigung der gestellten Anforderungen zu haben. Die hörbare Makellosigkeit geht für unsere Ohren jedoch mit einer gewissen „Keimfreiheit“ einher, die wir von den anderen Einspielungen nicht kennen. Das soll nun nicht heißen, dass der Musziergestus nicht lebendig wäre, aber spontan angefasst hat uns die Einspielung nicht.
Es fehlt auch nicht an feingliedrigem Detailreichtum und Klarheit. Selbstverständlich kommen die sordinierten Hörner im Moderato auch sehr gut ins Bild. Der Ausdruck bleibt auch im zweiten Satz ziemlich sachlich. Der Klang der Violinen, auch der Streicher überhaupt wirkt leicht, filigran, fast zerbrechlich. Kaum je einmal gewichtig, wuchtig oder ausgreifend expressionistisch wie bei Svetlanov oder Kondrashin, um nur einmal die am weitesten von Nelsons entfernten Exponenten zu nennen.
Im dritten Satz, dem „Scherzo“ hören wir ein hochvirtuoses Orchester, blendend vital mit einem flexiblen, leicht verspielten Gestus. Aus dem fein ausgewogenen Gesamtklang hebt sich die Solo-Trompete sehr gut heraus.
Im vierten Satz spielt das Blech gut. Hervorzuheben ist jedoch eher die variantenreiche Tongebung des Fagotts, das uns endlich einmal seine Geschichte auch mit einem echten p erzählt. Es fiele sehr schwer, wenn wir uns das beste Fagott heraussuchen müssten. Das Bostoner käme in jedem Fall in die engere Auswahl.
Es schleicht sich auch sehr schön in den fünften Satz hinein. Ansonsten bleibt der Ausdruck auch im fünften Satz eher sachlich. Die Gestaltung wirkt überlegt und schlüssig. Einen Hinweis auf Ironie oder gar Satire spürt man kaum.
Der Klang wirkt großräumig, offen, hell transparent und gut gestaffelt. Auch die prominente Basslinie fehlt nicht. Opulenz wird vermieden, der Gesamtklang wirkt schlank. Die Violinen gar ein wenig kühl. Die Gran Cassa bei ihrem einzigen Schlag sehr durchdringend, es muss ja auch etwas besonderes mit dem Schlag auf sich haben, wenn es bei einem einzogen bleibt. An die Sinnlichkeit und Klangfülle der guten SACDs oder der Dutoit-Aufnahme kommt diese Einspielung jedoch nicht heran.
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4-5
Kyrill Kondrashin
Concertgebouw Orchester Amsterdam
Philips
1980, Live
5:05 6:52 2:54 3:07 6:32 24:30
Bei dieser Einspielung handelt es sich, ähnlich wie bei der Produktion mit der JDP, um einen Mitschnitt des Rundfunks, dieses Mal vom Niederländischen Rundfunk aus Amsterdam. Und anders als bei der SFB-Aufnahme aus Berlin aus dem gleichen Jahr stand sie nicht gerade unter einem Glücksstern. Der Aufnahmetechnik wird es zu verdanken sein, dass das geschmeidige Spiel der Amsterdamer wie auf Samtpfoten daherkommt. Es fehlt ihr an Präsenz (vor allem, aber nicht nur, den Hörnern). Das Violinsolo wirkt ein wenig unsicher, bei T. 185 vergisst der Konzertmeister gleich ein ganzes Motiv.
Im zweiten Satz ist das Fagott mit einem Patzer dran. Die Hörner mit der Sordine ab T. 123 sind überhaupt nicht zu hören. Die Streicher hingegen lassen wieder ihren fantastisch leuchtenden Klang hören z.B. ab T.210. Das Stockende, das dem Satz innewohnt, bringt Kondrashin hier mit am besten.
Die Junge Deutsche Philharmonie präsentiert sich in ihrem Mitschnitt generell engagierter, wirkt viel weniger routiniert und geht mit Feuereifer an die anspruchsvolle Aufgabe heran. Im vierten Satz spielt das Fagott über die vorgegebenen Dynamikanweisungen ziemlich hinweg und der fünfte wirkt insgesamt sehr kultiviert, irgendwie abgeschlossen im edlen Klang. Es fehlt dem Satz, trotz gleicher Spielzeit an der Verve, die man in Berlin zu hören bekommt.
Der Klang ist gleichwohl sehr transparent, wie bei den beiden anderen Kondrashin-Einspielungen auch. Die Staffelung geht nicht so weit in die Tiefe. Sie klingt farbiger und glanzvoller als die 15 Jahre ältere Moskauer Aufnahme und weit weniger dynamisch und erheblich weniger transparent als die Einspielung mit der JDP aus Berlin. In den Satzpausen gibt es ein reges Publikum zu belauschen.
Kurzer Exkurs in die musikalische Zeitgeschichte: Der Dirigent Kyrill Kondrashin war von 1960 bis 1976 Chefdirigent der Moskauer Philharmoniker. Er beantragte auf einer Konzertreise 1978 politisches Asyl in Amsterdam. Das Concertgebouw Orchester schuf daraufhin sofort eine Planstelle für ihn. Manche Quellen behaupten als zweiter Chef neben Bernard Haitink, andere behaupten man wiederbelebte die Stelle des ständigen Gastdirigenten. Diese Stelle hatte er bis 1981 inne bis er zum neuen Chefdirigenten beim Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Nachfolge von Rafael Kubelik ernannt wurde. Diese neue Position konnte er nicht mehr antreten, denn er starb kurz nach einem von ihm geleiteten Gastspiel des NDR-Sinfonieorchesters in Amsterdam ebendort.
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4-5
Andrey Boreyko
Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR
Hänssler
2009, Live
5:20 8:02 3:02 3:36 6:13 25:53
Diese Einspielung wirkt entspannter als die meisten anderen. Sie kommt im ersten Satz weder an die Spielfreude Bernsteins oder an den mit einer gewissen Härte versehenen Drive Barshais heran. Gegenüber Kondrashin könnte der Spielwitz noch pointierter getroffen werden. Dem gegenüber lässt der zweite Satz mehr aufhorchen. Die Klarinette bringt die Taktwechsel und das auch damit verbundene Stocken sehr gut heraus. Ihr Spiel bringt die Dissonanzen sehr gut heraus, auch wenn die anderen Instrumente dazu kommen. Der Klang wirkt frisch, klar, hell und sinnlich, aber zugleich sehr expressiv. Die Flöte spielt mit ganz wenig Vibrato. Insgesamt eine passend schmerzliche Begegnung.
Im „Scherzo“ werden von den Streichern und der Klarinette Klanggirlanden ausgelegt. Das Spiel erinnert sehr gut an ein festliches Spiel, eine Show, bei der Akrobaten, Clowns oder ähnliche auftreten. Die überschwängliche Lebensfreude wird jedoch immer wieder von der Knute oder Peitsche unterbrochen, was dann eher an eine KdF-Veranstaltung erinnert, Freizeit zum Wohle des Volkes. Mehr oder weniger überwacht. Die Trompete mit ihrem Gassenhauer verkündet den Höhepunkt. Das Ganze wirkt weniger gehetzt und wird sehr schlank musiziert. Das Norrington-Orchester kann sowas sehr gut.
Im vierten Satz wirkt das Blech eisenhart, wie eine unnachgiebige, geschlossene Front, durch die niemand durchkommt. Das Fagott wirkt wie in völlig mutloser Ergebenheit. Trotzdem spielt es in seiner Lage noch lebendig und sehr individuell.
Der Übergang gelingt gut, in anderen Einspielungen vielleicht schon etwas kecker, der Klang aber ist wunderbar dunkel und klar. Die Oboen klingen exzellent. Auch das feine Musizieren gefällt. Das Publikum in Stuttgart war überrascht, dass die Sinfonie so plötzlich zu Ende war, ähnlich muss es den Oberen bei der Uraufführung auch gegangen sein. Die Apotheose oder die Hymne, die man tatsächlich erwartet, fehlt ganz einfach. Nach kurzer Sammlung jedoch großer Jubel in Stuttgart.
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4-5
Sir Malcolm Sargent
London Symphony Orchestra
Everest
1960
5:51 6:50 3:24 2:55 6:22 25:22
Den ersten Satz geht Sir Malcolm sehr gelassen an, nimmt fast den ganzen Druck aus dem nun überhaupt nicht mehr gehetzten oder überdrehten Tempo heraus. Fast schon idyllisch kommt einem die Konfrontation der Künstler Kuckuck und Nachtigall und dem vom Kuckuck gewählten Richter, dem Esel vor, wenn da nicht die gelungene Artikulation und die deftige Dynamik wäre, die den Weg in die Ironie weisen. Die beiden Soli der Violine sind hervorragend gelungen, das Orchesterspiel erstklassig, wobei die Virtuosität des LSO wenig bis gar nicht gefordert wird.
Das Moderato des zweiten Satzes nimmt Sargent dagegen wie vorgeschrieben recht zügig. Das Klarinettensolo wirkt im Vergleich ziemlich wenig differenziert, die sordinierten Hörner sind sehr gut hörbar! Das recht schnelle Tempo (aber auch nicht unverständlich zu schnell) macht den dargestellten Gestus als Maskerade erkennbar. Bei den ausdrucksvollen Kantilenen der Streicher wird Klartext „geredet“. Dabei steht das LSO den Orchestern bei Svetlanov und Kondrashin nur wenig nach.
Auch im „Scherzo“ verhetzt Sargent das Tempo nicht. Bei ihm sorgt, wie im ersten Satz mehr die schroffe Dynamik für kraftvolle Akzente. Beachtenswert ist auch die sehr deutliche Phrasierung. Darauf wird offensichtlich besonderer Wert gelegt. Die Steigerung wirkt imposant, das langsame Tempo lässt dem Blech Zeit für etliche Details, die man bei den schnellen Tänzen so nicht hören kann.
Der vierte Satz lebt hier auch klangräumlich von einem guten Kontrast bzw. Antagonismus. Die übliche Sitzordnung wird aufgebrochen und das Blech ziemlich weit rechts und das Fagott ziemlich weit links platziert. In der Frühzeit der Stereophonie wurde noch gerne ein wenig mit den neu gewonnenen Möglichkeiten der Räumlichkeit herumexperimentiert.
Zum fünften Satz setzen das Fagott bzw. der Dirigent den harten Tempowechsel (wie bei Flor), da gibt es also kein gefühlvolles Reinschleichen. Das Trompetensolo kam uns wenig exponiert vor, ging fast im Tutti unter. Sargent bringt dagegen die militärische Komponente durch das exponierte Tamburo deutlich heraus. Die Darstellung als Ganzes wirkt zwar sehr kontrastreich und gewissenhaft, aber an die geniale Interpretation der B-Seite der damaligen LP, der Suite zu „Lieutenant Kije“, kommen die Mitwirkenden dieses Mal nicht heran.
Der Klang wirkt sehr offen und transparent. Das Orchester wirkt sehr gut in den Raum hinein gestaffelt, präsent und besonders deutlich, außerdem für das Aufnahmejahr sehr dynamisch.
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4-5
Vladimir Ashkenazy
Royal Philharmonic Orchestra London
Decca
1989
5:11 7:44 2:37 2:58 6:18 24:48
Wie so oft macht der Dirigent unserer Einschätzung nach eigentlich nichts falsch, es kommt aber auch nicht zu irgendwelchen Besonderheiten, mit denen man sich von den anderen Einspielungen positiv abheben würde. Das Orchester spielt sehr gut. Die Piccolo klingt frisch, tiriliert fast schon lustig vor sich hin, die Posaune klingt angemessen kräftig. Die sordinierten Hörner ab T. 124 im zweiten Satz haben wir nicht gehört, ansonsten wird er konzentriert und klangschön dargeboten. Das Presto des „Scherzo“ ist ordentlich wild. Nur die Tempogestaltung im letzten Satz erscheint ein wenig eigenwillig, denn da hält sich Ashkenazy nicht an die Vorgaben der Partitur. Beim poco a poco crescendo wird er bereits schneller, nicht wie vorgesehen erst ab G.
Ab I a tempo ist er viel schneller als zuvor. Wenn man die Partitur nicht mit dem klanglichen Ergebnis vergleicht, erlebt man jedoch eine mitreißende Klimax.
Die Klangqualität ist rundum zufriedenstellend und auf der Höhe der damaligen Technik.
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4
Ladislav Slovak
Tschechoslowakisches Radiosinfonieorchester, Bratislava (heute: Slowakisches Radiosinfonieorchester, Bratislava)
Naxos
1988
5:12 7:07 3:09 3:08 6:37 27:13
Der slowakische Dirigent studierte in Leningrad bei Jewgenij Mravinsky und lernte den Komponisten noch kennen, als dieser an gemeinsamen Proben teilnahm. Der erste Satz erklingt knapp und trocken artikuliert. Das Posaunen-I-Ah kommt zu weit entfernt und bleibt daher zu nebensächlich, fast unterschwellig. Der ganze Gestus wirkt nüchtern. Also gar nicht einmal unpassend.
Die Klarinetten zu Beginn des Moderato klingen generell zu laut, nicht immer ganz intonationssicher aber dynamisch gut differenziert. Der Gestus wirkt generell pointiert, die sordinierten Hörner sind immerhin leise zu vernehmen. Das Deklamieren, das Tempo erlaubt ein solches, wirkt intensiv. Die Violinen machen in diesem langsamen Satz einen klanglich viel besseren Eindruck als noch im ersten. Perfekt klingen sie aber immer noch nicht.
Dass ein „Scherzo“ auch ein Tanz ist, wird bei Slovak sehr deutlich gemacht. Dabei überzeugt das Orchester auch. Was geschliffene Virtuosität und Klangsinnlichkeit angeht wird weit weniger investiert.
Im vierten Satz klingen Posaunen und Tuba angemessen, Becken (f) und Trompeten (ff) bleiben zu schwach. Das Fagott macht buchstäblich einen gequälten Eindruck, was man noch als angemessenen Gestus ansehen könnte, es differenziert in seinem Vortrag jedoch auch dynamisch zu wenig. Die klangliche Relation zwischen den ungleichen Kontrahenten ist gut.
Wie bei Flor und Sargent gibt Slovak dem Fagott keine Möglichkeiten frei und ungezwungen in den Gestus des fünften Satzes hinüberzuwechseln. Auch der weitere Fortgang wirkt besonders simpel, ganz einfach, wie es auch komponiert ist und ohne etwas gestalten oder gar sublimieren zu wollen. Das führt auch zu Längen im Steigerungsverlauf. Slovak lässt seine Pferdchen erst ab I in der Manege galoppieren. Das Trompetensolo kommt über das bei Slovak gleichrangige Holz nicht hinaus, was offenbar macht, dass es überhaupt nicht zum Rest des Orchesterspiels passen will. Als Solist über dem Orchester enthoben fällt das viel weniger auf. Das Allegro klingt wie mit angezogener Handbremse gespielt.
Diese Einspielung wirkt als Ganzes ziemlich gelungen, auch einige Details überzeugen, orchestral fällt sie etwas ab.
Der Klang wirkt trocken, die Violinen harsch. Der Gesamtklang ist jedoch transparent. Das Orchester wirkt gut gestaffelt, auch in die Tiefe.
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4
Yoel Levi
Atlanta Symphony Orchestra
Telarc
1989
5:09 8:58 2:47 4:27 6:30 27:51
Vom Gestus her gleicht die Einspielung Yoel Levis der Andris Nelsons´, zumindest im ersten Satz. Sachlich und eher leicht im Ton, bestimmt im Ausdruck. Sehr gutes, schlankes Orchesterspiel.
Im zweiten Satz wird das langsame Tempo gut mit Ausdruck „gefüllt“. Die Soli erschienen uns jedoch lange nicht so nuanciert wie die des Boston Symphony. Die sordinierten Hörner waren sehr gut zu hören.
Im „Scherzo“ des dritten Satzes macht das Orchester mit seinem geschmeidigen und eleganten Klang eine gute Figur. Der kapriziösen Gestaltung fehlt jedoch der bittere Drive und der „letzte“ Biss.
Für den vierten Satz lässt sich Levi besonders viel Zeit, was vor allem dem Fagott-Solo sehr gut bekommt. Es lässt durch seine flexible Tongebung aufhorchen, macht plausibel, dass es ganz alleine ist und einsam mit seinem Los zurechtkommen muss. Es wirkt weder larmoyant noch gedehnt, sondern gekonnt. Eines der besten überhaupt.
Im letzten Satz wirkt das Instrumentarium nicht immer gänzlich durchleuchtet, vor allem ist auch hier wieder das Trompetensolo unterbelichtet. Im Ganzen erschien uns der 5. Satz vergleichsweise ein wenig harmlos.
Der Klang wirkt offen, frisch, dynamisch. In seiner Lebendigkeit gefiel er uns besser als bei der fünften Sinfonie, die auch auf der CD platzfand. Erstaunlich fanden wir, dass er auch wärmer und voller wirkte als auf der über 20 Jahren jüngeren Einspielung mit Andris Nelsons. Das Orchester wird auch hier gut gestaffelt. Der Gesamtklang wirkt sehr angenehm und leuchtend.
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4
Vasily Petrenko
Royal Liverpool Philharmonic Orchestra
Naxos
2008
5:09 8:38 2:36 3:32 5:52 25:47
Mit einigem Drive und durchaus intensiv lässt Petrenko den ersten Satz spielen. Das Holz wirkt pointiert, die Posaune füllt ihre Rolle als Esel ganz hervorragend aus, sodass man zugleich auch vom klanglichen Platzhirsch im Orchesterwald schreiben darf. Die Violinen wirken etwas weniger geschmeidig im Bewegungsablauf und klanglich etwas angeraut. Das zurückgenommene Tempo und der ziemlich fahl klingende Holzbläsersatz drücken eine bedrückende Stimmung aus. Das ff des Holzes 5 T. nach C wirkt gut, man merkt, dass die Lautstärke forciert wird. Das ist so auf Trauer und Schmerz übertragbar. Sie Streicher begehren nie und blühen auch klanglich kaum einmal durchdringend auf.
Das „Scherzo“, ein Presto mit voller Geschwindigkeit wirkt gerafft und gehetzt. Das Orchester wirkt zwar virtuos, aber kaum brillant.
Der Richterspruch von Posaunen und Tuba im vierten Satz erklingt bedächtig und wenig einschüchternd, Trompete und Becken danach jedoch sehr. Auch das Fagott-Solo wird eindrücklich geblasen.
Der fünfte Satz klingt leichtgewichtig, klanglich ein wenig hart. Die Virtuosität des Orchesters scheint an Grenzen zu stoßen und am Detail hätte noch ein wenig mehr gefeilt werden können. Das Tempo wird allerdings immer mehr angezogen und schließlich atemberaubend.
Dies ist keine Hochglanz-Aufnahme, sie wirkt eher matt und könnte noch etwas klarer sein, besonders wenn man das Aufnahmedatum beachtet. Staffelung und Dynamik sind gut, der Gesamtklang könnte ein wenig plastischer sein.
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4
Walter Süsskind
Cincinnati Symphony Orchestra
Vox, heute Marshall-Cavendish
1979
5:19 7:01 2:51 3:10 6:46 25:07
Das Orchesterspiel wirkt ausgeruht und abgerundet, markant rhythmisiert, pointiert aber nicht überdreht. Die klangliche und artikulatorische Schärfe hält sich in Grenzen.
Im zweiten Satz gibt Süsskind ein ausgewogenes „Zwischentempo“ vor, das Trauer und Klage genug Raum zur Entfaltung belässt, ohne je in die Gefahr zu geraten ins Schleppen zu kommen. Details werden nicht vernachlässigt. Die sordinierten Hörner sind da.
Das „Scherzo“ erklingt partiturgenau und schnörkellos. Übersteigerte Satire ist nicht Süsskinds Anspruch. Das Orchester spielt hier gut, aber nicht gerade hochvirtuos.
Im vierten Satz klingt der Richterspruch durch die Trompeten und Piatti (Becken) wenig dynamisch, fast muffig. Während Posaunen und Tuba großspurig daherkommen, wirkt das Fagott klein und verletzlich. Die Relationen sind also gut getroffen worden.
Der Übergang zum fünften Satz erfolgt relativ abrupt und spannungslos. Die Violinen im Entwicklungsteil klingen belegt und nicht mehr ganz sauber. Der fünfte Satz macht einen soliden Eindruck, der „große Zirkus“ ist er aber nicht.
Die Analog-Aufnahme wirkt recht dynamisch und verfügt über eine gute Staffelung und Transparenz. Sie klingt farbig, warm und wirkt „bassgepolstert“. Allerdings wirkt sie weniger weiträumig als die neueren Produktionen oder die gleichalte Haitink-Einspielung.
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4
Sergiu Celibidache
Münchner Philharmoniker
EMI
1990, Live
4:15 6:53 3:25 3:01 7:10 24:44
Ganz anders als 1947 in Berlin hört sich der Kopfsatz nun 43 Jahre später in München an. Er beginnt unschuldig wie eine Haydn-Sinfonie. Wie in Stockholm unterschlägt Celibidache die Wiederholung der Exposition. Die Posaune mit ihrem I-Ah klingt nun weder straff noch engagiert, sondern eher träge und lustlos. Im Gestus unterscheidet sich die Aufnahme von der Stockholmer kaum, im Orchesterspiel und Klang schon viel mehr. Das Münchner Orchester spielt genauer und klingt viel voller und runder. Ein idiomatischer Schostakowitsch-Klang wie in Berlin will sich bei aller Qualität nicht mehr so recht einstellen.
Die Klarinette ist nicht unbedingt das Paradeinstrument der Münchner Philharmoniker in jener Zeit gewesen, das hört man auch hier wieder. Allerdings gibt es keine Kieckser wie in Stockholm. Das Stockende, teilweise auch durch die Taktwechsel hervorgerufen, wird weggebügelt. Die Hörner mit der Sordine ab T. 124 klingen sehr gut. Die Violinen klingen fast mit einem karajanschen Legato und einem tollen, weichen Klang, der in der Höhe ätherische Klangsphären erreicht, fast zu schön um wahr zu sein. Für das dekompositorische Morendo lässt sich Celibidache viel Zeit.
Das Tempo im „Scherzo“ wirkt merklich reduziert, sollte das für Herr Celibidache noch als Presto durchgehen? Das Material wird stets voll ausgespielt und wirkt schaumgebremst. Von artikulatorischer Schärfe ist wenig zu spüren.
Im vierten Satz lässt Celi durch einen heftigen Beckenschlag aufhorchen, der wirkt wie ein Schlag ins Gesicht. Posaunen und Tuba zuvor waren bereitssehr intensiv und gewichtig. Bei der Wiederholung lässt der Maestro dann zuvor Posaunen und Tuba ins Decrescendo gehen, was den Beckenschlag nochmals deutlicher hervortreten lässt. Das ausgezeichnete Fagott bietet „Pathetique“ pur.
In den fünften Satz mündet es tastend und anschaulich. Das Orchester spielt im Verlauf erstaunlich schwerfällig und erreicht nicht den Impetus eines Bernstein oder auch Ashkenazy. Die Details werden jeweils sorgfältig ausgeformt, wie so oft ist Deutlichkeit Trumpf bei Celibidache. Herausragender Streicherklang.
Ungleich bessere Klangqualität als in Stockholm, präsenter, voller, runder und sehr transparent.
▼ eine weitere Aufnahme desselben Dirigenten in der Liste
3-4
Eliahu Inbal
Wiener Symphoniker
Denon
1990
5:38 7:02 3:13 3:01 6:22 25:16
Bei Eliahu Inbals Einspielung ging es uns ähnlich wie bei Ashkenazys. Besonders gut gelungene, individuelle Lösungen, die aus dem Gros der hier verglichenen 42 Einspielungen positiv oder auch negativ herausragen würden, sind uns nicht aufgefallen.
Der Orchesterklang wirkt ein wenig rau und leicht metallisch, ein wenig hallig klingt es auch und die Streicher wirken etwas scharf und synthetisch. Die Posaune im ersten Satz plärrt schön rein, die Flöte im zweiten fällt durch Wabervibrato unangenehm auf. Das Scherzo kennt keinen Unterschied zwischen p und f. Das Holz im fünften Satz wirkt in der Lautstärke zu nivelliert, das Blech im p viel zu laut. Insgesamt kommt das Orchester an das Royal Philharmonic bei Ashkenazy nicht heran und auch der Klang kann mit dem Decca- Klang nicht mithalten. Keine neuen Aspekte zum Werk also aus Wien.
3-4
Sergiu Celibidache
Schwedisches Radio–Sinfonieorchester, Stockholm
DG
1971
4:08 6:40 3:05 3:31 6:37 24:01
Bereits in Stockholm verzichtet Celibidache auf die Wiederholung der Exposition. In Berlin ist ihm das noch nicht eingefallen. Die Posaune mit ihrem nervenden I-Ah bleibt zu leise, das Orchester kommt weder an die Spielfreude der Berliner Philharmoniker 1947 noch an die Spielkultur und den satten Sound der Münchner heran. Der Solo-Violine fehlt es an Eloquenz.
Der zweite Satz klingt völlig unsentimental und wirkt recht zügig. Kräftiger Klarinetten-Kickser bei T. 37. Er war anscheinend durch keinen anderen Mitschnitt zu kompensieren, während in München ja jedes Konzert mitgeschnitten wurde, also gab es pro Programm vier Mitschnitte. Der Hörner-Einsatz mit der Sordine ist nicht zu hören. Das ff des Holzes 3 T. nach C ist viel zu leise.
Im „Scherzo“ kommt die Solo-Trompete ziemlich schwach durch das Tutti, allerdings gäbe das f der Trompete und das ff der Streicher Celi noch Recht, wenn der Satz im Übrigen in Hinsicht Brillanz und Extrovertiertheit entsprechend klänge. Davon kann jedoch kaum die Rede sein.
Auch im vierten Satz wirken Posaunen und Tuba recht träge und wenig bedrohlich. Das Fagott hat leichte Intonationsprobleme in der Höhe. Während ihres zweiten Einsatzes klingen Posaunen und Tuba wesentlich rabiater. Eine Steigerung war hier von Schostakowitsch zwar nicht vorgesehen, aber nach dem ersten Einsatz unbedingt wünschenswert.
Der Übergang beginnt mit einem langsamen Fagott. Die Bässe hält Celibidache durchhörbar, da legt kaum jemand so explizit wert drauf. Die Klimax kommt nur langsam in Schwung. Der Trompeteneinsatz bei T. 284 hat der Trompeter komplett verschlafen. Die Stretta ab N wirkt recht belebt.
Wenn Celibidache, dann sollte man die 1947er Version suchen, denn sie bringt Schostakowitschs Sinfonie unmittelbar und jugendfrisch zu Gehör.
Diese Einspielung rauscht leicht. Das Orchester wirkt zurückgesetzt, was sich besonders bei Holz und Blech ungünstig bemerkbar macht. Die Durchhörbarkeit ist dennoch sehr gut und auch die räumliche Anmutung ist für einen Rundfunkmitschnitt der frühen 70er anerkennenswert. In den langsamen Sätzen gibt es wieder ein Hustenkonzert gratis. Dynamisch klingt diese Aufnahme eher flach.
3-4
Claus Peter Flor
Berliner Sinfonieorchester
Eterna
1987
5:14 8:06 2:57 3:16 6:29 26:02
LP Da es von der Neunten keine Einspielung von Kurt Sanderling, dem Schostakowitsch-Spezialisten in der DDR, gibt, wurde Claus Peter Flor mit dieser Aufgabe getraut. Das Orchester macht klanglich einen sehr guten Eindruck. Die Verläufe machen jedoch einen allzu geordneten, wenig aufregenden Eindruck. Der Verzicht oder besser Verlust auf Schärfe und Zuspitzung fällt dann schließlich am meisten auf.
Im zweiten Satz gefallen die solistischen Leistungen von Klarinette, Flöte und Piccolo, während die Passagen mit den sordinierten Hörnern nur unter Zuhilfenahme einer akustischen Lupe zu erkennen sind.
Im „Scherzo“ werden nicht alle Stimmen hinreichend präsent zu Gehör gebracht. Der weiche, balsamische Klang des VEB Deutsche Schallplatten wird hier ein wenig zur Falle, denn eine gewalttätige Wirkung vermag er nicht zu erzielen.
Auch im vierten Satz wirken die Bemühungen von Posaune und Tuba wenig einschüchternd. Der Akzent von Becken und Trompeten verpufft in der weiträumigen Kirchakustik. Das Fagott spielt die notierten Pausen nicht aus, der Spannung hätte es sicher gutgetan. Aber da es im Fagott-Solo weitgehend keine Taktstriche gibt, kann er man das so machen. Klanglich ist das Solo sehr schön geblasen und durchaus ausdrucksvoll, aber nicht bohrend intensiv wie das andere hinbekommen haben.
Der Übergang zum fünften Satz ist nicht fließend, sondern abrupt. Flor geht lieber sofort ins Allegretto-Tempo über. Das lässt sich auch leichter dirigieren. Finessenreich oder musikalisch einfallsreich wirkt das nicht. Der Witz (das tastend clowneske) wurde nicht entdeckt. Dem Satz fehlt im Allgemeinen, noch mehr wie dem ersten, die Spritzigkeit. Bei aller orchestralen Gediegenheit.
Klanglich wirkt die Einspielung sehr weiträumig und luftig. Holz und Blech sind weit zurückgesetzt, weshalb es an hautnaher Präsenz fehlt. Trotz Kirchenakustik wirkt der Klang nicht schwammig, sondern präzise. Obwohl die Aufnahme wenige Jahre nach der Geburtsstunde der Digitaltechnik digital erfolgte, wirkt der Gesamtklang gut ausbalanciert, weich, fast schon luxuriös. Dem Orchesterklang hätte sogar etwas mehr „Kern“ gutgetan, es sind nämlich alle Ecken und Kanten wegbalsamiert.
3
Alexander Rahbari
BRT Philharmonic Orchestra, Brüssel
Naxos
1990
5:05 8:50 2:46 3:28 6:11 26:20
Falls man bei Naxos die gerade erst zwei Jahre alte Einspielung der beiden populärsten Sinfonien mit Ladislav Slovak verbessern wollte, kann der Unternehmung nicht unbedingt das Erreichen des Ziels bestätigt werden.
Das Belgische Rundfunk-Orchester könnte schon im ersten Satz präziser und pointierter spielen. Im zweiten Satz ist die Transparenz der Stimmen nicht optimal und das Tempo wirkt etwas gedehnt. Die stumpf klingenden Streicher spielen nicht perfekt zusammen.
Das „Scherzo“ wird in einem guten Presto angestimmt, das Orchester kämpft dabei aber mehr mit den Tücken der Materie als dem expressiven Ausdruck nachzugehen. Da konnten viele andere Orchester mit feinerer, spitzerer Nadel stricken. Die zuvor noch ein wenig hallige Akustik ist in diesem Satz merklich trockener.
Im vierten Satz sitzen wir wieder in einem halligen Aufnahmeraum. Die Posaunen spielen fast wie in einem anderen Raum, allerdings mit wenig einschüchternder Expression. Das Fagott spielt gut und wirkt gegenüber dem Blech sehr klein proportioniert.
Der fünfte Satz wirkt harmlos. Die letzten Takte, die besonders brillant sein sollten klingen regelrecht verklumpt. Eine im Prinzip auch für das Label überflüssige Produktion.
Zum Klang: das entfernte Orchester wird in fast allen Sätzen leicht eingehallt (besonders die Violinen), noch recht dynamisch aber nicht besonders sinnlich. Das Orchester wirkt wenig leuchtkräftig.
31.7.2022