Alexander Scriabin

Le Poème de l’Extase op. 54

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Werkhintergrund:

 

Le Poème de l’Extase ist ein groß besetztes Orchesterwerk des russischen Komponisten Alexander Scriabin, das 1908 als dessen op. 54 veröffentlicht wurde und zugleich auch als Titel eines etwa zeitgleich entstandenen Gedichts von Skrjabin fungiert.

1904 begann Scriabin mit dem Entwurf seines Gedichtes, das in Verbindung zu der kurz darauf begonnenen Komposition steht (ohne dass diese den Verlauf direkt nachzeichnet), und denselben Titel „Le Poème de l’Extase“ trägt (vorübergehend war als Titel „Poème orgiaque“ vorgesehen). Das rund 370 Zeilen umfassende Gedicht wurde 1906 in Genf – Skrjabin hielt sich in dieser Zeit vorwiegend am Genfersee auf – im Selbstverlag publiziert. Inhaltlich korrespondiert es mit den philosophischen Spekulationen Scriabins, die durch Nietzsche, die Theosophie (u. a. die schöpferische Einbildungskraft des Menschen befähigt ihn mit höheren Ebenen des Bewusstseins zu kommunizieren, auch mit Gott, der im Sinne eines Pantheismus überall ist) und ein zunehmend solipsistisches Weltbild (nichts existiert außerhalb des eigenen Bewusstseins, auch kein anderes Bewusstsein) geprägt wurden. Dem Symbolismus nahestehend, schildert es Auseinandersetzungen des für Freiheit und Liebe eintretenden, schöpferischen Geistes mit Schreckensgestalten, dann – zunehmend in direkter Rede – die Rolle des „Ich“, durch welches die gesamte Menschheit in Ekstase erlöst wird. Anfang und Schluss lauten in deutscher Übersetzung:

 

Der Geist,

Vom Lebensdurst beflügelt,

Schwingt sich auf zum kühnen Flug

[…]

Und es hallte das Weltall

Vom freudigen Rufe

Ich bin!

 

Scriabin wollte den Text zunächst der Partitur beifügen – die Musik entstand zwischen 1905 und Januar 1908 –, kam aber wieder davon ab, um die Autonomie der Musik zu bekräftigen, wünschte sich dann jedoch, dass der Gedichttext bei Aufführungen verkauft werden sollte.

 

1908 erschien das Werk als Scriabins op. 54 im Verlag M. P. Belaieff in Leipzig und St. Petersburg unter dem Titel: „Le Poème de l’Extase. Le Texte et la Musique par A. Scriabine.“

 

Die Partitur sieht folgende Besetzung vor: 

Piccolo, 3 Flöten, 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 8 Hörner, 5 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauke, Große Trommel, Becken, Tamtam, Triangel, Glocke, Glockenspiel, Celesta, Harfe, Orgel und Streicher.

 

Mit diesem Orchesterapparat, der die traditionelle Besetzung des Sinfonieorchesters erheblich übersteigt, kann Le Poème de l’Extase in eine Reihe mit Werken anderer Komponisten gestellt werden, die gleichfalls kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert entstanden (etwa Mahlers 8. Sinfonie oder „Eine Alpensinfonie“ von Strauss).

 

Die Spieldauer des einsätzigen, 605 Takte umfassenden Werkes (Scriabin hatte es zeitweilig auch als seine „4. Sinfonie“ bezeichnet) beträgt etwa 18 bis 25 Minuten. Zugrunde liegt eine frei gehandhabte Sonatenhauptsatzform, wobei sich Introduktion, Exposition, Durchführung, Reprise, zweite Durchführung und Coda differenzieren lassen. Trotz des vorübergehenden Arbeitstitels „4. Sinfonie“ trägt das Werk alle Züge einer sinfonischen Dichtung.

 

Die Komposition, eröffnet durch eine von der Flöte vorgestellte, von Scriabin selbst als „Thema der Sehnsucht“ bezeichnete Figur, enthält sieben Themen (manche Analysen machen sogar mindestens 11 verschiedene thematische Gestalten aus, wir zählten hingegen acht, bei einigen komplexen Motiven könnte man aber durchaus noch von weiteren Themen sprechen „Thema der Sehnsucht“, „Thema des Traums“, „Thema des Schwebens“„Thema der entstandenen Geschöpfe“, „Thema der Unruhe“, „Thema des Willens“, „Thema des Protestes“ und „Thema der Selbstbehauptung“). Manche Namen dachte sich der Komponist selbst für seine Themen aus, andere ließ er kommentieren. Diese Themen überlagern sich in den Durchführungsteilen der stark polyrhythmischen Komposition zwar in komplexer Weise, erfahren jedoch keine eigentliche Weiterentwicklung. Dies korrespondiert mit einer kühnen Harmonik, die durch alterierte Akkorde geprägt ist, die zumeist unaufgelöst bleiben und in Skrjabins nächstem Orchesterwerk „Prometheus“ in eine fixierte Akkordstruktur, den sogenannten „Mystischen Akkord“, einmünden werden. Besondere Rolle im farbig-irisierenden Klangbild der Komposition gewinnt ein quartendominiertes, von der Trompete intoniertes „Thema der Selbstbehauptung“. Dieses Thema erklingt in der Schlussapotheose in den 8 Hörnern und der 1. Trompete über einem flächigen C-Dur-Orgelpunkt. Das Werk wirkt wie ein stetiges, nur von der Coda kurz unterbrochenes Crescendo, enthält jedoch auch transparent instrumentierte Passagen ruhigen Charakters. Die sinfonische Entwicklung wird streckenweise kurzatmig bis hastig. Sind es doch nun eine Fülle von Themen, die miteinander um die Vorherrschaft ringen, statt ehemals lediglich zwei. Der Erregungszustand steigert sich – getragen vor allem vom „Thema der Selbstbehauptung“, dem der Stellenwert einer „Idée fixe“ nach Vorbild von Berlioz´ „Symphonie fantastique“ zukommt – bis zur wohlberechneten, meisterhaft erzeugten „Extase“. Und wo an den entscheidenden Wendpunkten der menschliche Wille zu Wort kommt, strahlt der je nach Instrumentalist mehr oder weniger kalte Glanz fanfarenähnlicher Trompetenmotive auf. Die ungemein komprimierte Partitur und ihre geradezu „pointilistische Motivtechnik“ machen das Hören nicht leicht, lohnen aber den Aufwand durchaus. Der Komposition selbst soll nichts unbewusst Triebhaftes oder Rauschhaftes anhaften. Scriabins Extase soll eher eine hellwache, nüchtere schöpferische Begeisterung sein, erreicht ohne Stimulanzien oder sinnliche oder gar übersinnliche Inspirationsquellen.

Es ist daher nachvollziehbar, dass die meist französischen aber auch italienischen Hinweise (bei den Spielanweisungen) in der Partitur die Zeitgenossen mehr verwirrten, denn aufklärten. Da ist die Rede von „träger Begierde“,  „mit einer edlen und süßen Erhabenheit“, ein Moderato „mit Genuss oder Wonne“, „stark parfümiert“, “mit einer stetig wachsenden Trunkenheit“, „fast wie im Delirium (Wahn)“, „bezirzt“, „mit einer immer stärker werdenden (verzückten) Wollust“. Manch ein Dirigent oder ein Instrumentalist wird sich gefragt haben, wie er diese oder jene Nuance in sein Spiel einfließen lassen könnte.

Das klare C-Dur in der Coda dürfte dann hingegen wieder eher allgemein verständlich sein, oder? „Die Erfahrung von reinigendem Licht und der Wahrheit nach dem Erleben des unerschöpflichen Feuers schöpferischer Spannung“.

 

Die sozialistische Geschichtsschreibung stellte die in Gedicht und Komposition beschworene „Ekstase“ in engen Zusammenhang mit dem Geist der sich ankündigenden Oktoberrevolution.

Tatsächlich hatte Skrjabin am Genfersee Kontakt mit dem Marxisten Plechanow und plante vorübergehend, die erste Zeile der Internationale über sein Werk zu setzen, kam allerdings bald wieder davon ab, als er erkannte, dass die revolutionären Ereignisse in Russland seinen eigenen, philosophisch-künstlerischen Vorstellungen nicht entsprachen. Andererseits wird auch eine bloße Reduktion auf die – zweifellos vorhandenen – sinnlich-erotischen Allusionen (die Komposition ist angereichert mit Vortragsbezeichnungen wie „très parfumé“, „presque en délire“ oder „avec une volupté de plus en plus extatique“; (Übersetzung bereits oben) dem Werk nicht gerecht. Rimski-Korsakow, dem Scriabin das Werk vor der Uraufführung auf dem Klavier vorgespielt hatte, bezeichnete es aber als „obszön“.

 

Die Uraufführung am 10. Dezember 1908 in New York spielte das Russian Symphony Orchestra unter Leitung von Modest Altschuler, eines ehemaligen Studienfreundes von Scriabin, der dieses Orchester in den USA gegründet hatte. Der Komponist war bei der Uraufführung allerdings nicht anwesend. Ursprünglich war die Uraufführung in St. Petersburg geplant, doch der vorgesehene Dirigent Felix Blumenfeld kapitulierte zunächst vor den Schwierigkeiten der komplexen Partitur. Die russische Erstaufführung erfolgte am 19. Januar 1909 unter Leitung von Hugo Warlich in St. Petersburg, und 12 Tage später dirigierte schließlich auch Blumenfeld dort das Werk.

Während die New Yorker Uraufführung in der Presse kaum Resonanz fand, wurde die russische Erstaufführung des bereits als Avantgardisten bekannten Skrjabin erheblich stärker wahrgenommen. Prokofjew schrieb in seinem Tagebuch: „Mjaskowski und ich hatten Sitzplätze nebeneinander und verschlangen das „Poème de l’extase“ mit größtem Interesse, obwohl wir an manchen Stellen von der Neuheit der Musik geradezu verwirrt waren.“ Das „Russische Wort“ schrieb: „Einen mächtigen Eindruck machte das neue symphonische Werk Le Poème de l'Extase, das gedanklich kühnste und in seiner Orchestration komplexeste Werk der zeitgenössischen Musik, nicht ausgenommen Richard Strauss.“

Auch in Deutschland wurde das Werk bald aufgeführt. 1924 schrieb der deutsche Musikwissenschaftler Adolf Aber in einem Partiturvorwort: Mit diesem Werk reiht sich Scriabin den ganz großen Sinfonikern, die unsere Musikgeschichte kennt, würdig an.

Der US-amerikanische Schriftsteller Henry Miller schrieb in seinem autobiographischen Roman „Nexus“ unter dem Eindruck des Werks: „Es war wie ein Eisbad, Kokain und Regenbogen.“

Oskar von Riesemann, der einer der ersten Aufführungen in Moskau beiwohnte, war einer von jenen, die sich zwiespältig äußersten; „Wer könnte sich einer Gänsehaut erwehren, wenn unter dem betäubenden Lärm von Pauken, Trompeten, Posaunen und Harfenglissandos, großen und kleinen Glocken endlich acht Hörner das Thema der „Selbstbejahung“ (Selbstbehauptung) in die schreckensstarre Menge hereinbrüllen? Und es jubelt ein Schrei in die Welt hinaus: ich bin! Die Mitfreude über diese Tatsache kann bei Menschen mit schwachen Gehörnerven nur eine geteilte sein.“

Sergej Tanejev schrieb nach den Generalproben in sein Tagebuch: „Stellenweise eine unglaubliche Kakophonie. ...   Frau Nemenova, eine Verehrerin Scriabins, die mich nach meinem Eindruck von dessen 4. Sinfonie gefragt hatte, sagte ich: denselben, als hätte man mich mit einem Stock geprügelt.“

Ironisch äußerte sich Serge Koussevitzky gegenüber Scriabins messianischem Anspruch: „Nur Alexander Nikolajewitsch glaubte, dass irgendetwas Außergewöhnliches passieren würde. Er alleine erwartete, dass nach einer Aufführung von Poème de l´Extase irgend jemand hier und jetzt in Extase ersticken würde. Aber in Wirklichkeit gingen wir alle, Scriabin eingeschlossen, in ein Restaurant, wo wir gut und mit Vergnügen aßen.“

„Le Poème de l’Extase“ op. 54 wurde zu einem der bekanntesten Werke Scriabins. Von ihm liegen bezüglich seiner Orchesterwerke die mit großem Abstand meisten CD-Einspielungen vor.

 

(Wikipedia, Quellen siehe dort; Beiheft der CD von Igor Golovschin von Teresa Pieschacón Raphael, Beiheft der LP-Ausgabe der Sinfonien mit Eliahu Inbal von Christof Rüger)

 

 

Als richtig misslungen kann man keine der zahlreichen Einspielungen bezeichnen, wenn man von der 1932er Version Leopold Stokowskis einmal absieht, die nicht ohne unorganisch wirkende Kürzungen auskommt und aufgrund ihres Alters klangtechnisch noch nicht in der Lage war, der Vielfalt und Klangsinnlichkeit der Komposition auch nur annähernd gerecht zu werden. Da das Stück wohl kaum irgendwo (am ehesten vielleicht noch in Leningrad oder Moskau) zum Repertoire gehört, muss es überall mit großer Sorgfalt erarbeitet werden, wenn eine gelungene Aufführung erfolgen soll. Ein Prima-Vista-Spiel oder ähnlicher Schabernack würde mit Sicherheit richtig schief gehen.

 

Es fielen, wenn man eine grobe Sortierung gestattet, zwei verschiedene Richtungen der Interpretation auf. Beide Male sind auch russische Interpreten in der jeweiligen Gruppe vertreten. Zuerst die Gruppe um Mravinsky, Gergiev, Ashkenazy und Thomas Sanderling, der in Sibirien geborene und heute mit russischer Staatsbürgerschaft lebt, die den trägen, den entschlusslos verharrenden Partien wenig Raum gibt und denen man die Darstellung dieser Gemütshaltung nicht so recht abnimmt. Sie haben mit einem nahezu gleichbleibend hohen Tempo eine Dramatisierung des gesamten Stückes im Auge. Ihnen gelingt die Darstellung der Extase zumeist sehr schlüssig. Die zweite Gruppe um Kitaenko, Golovschin, Malychev und Pletnev hingegen neigen dem langsamen Tempo zu und erreichen zumeist eine hohe Plastizität der langsamen Abschnitte also die der Entschlusslosigkeit und der trägen Begierde, haben aber dann mitunter Probleme die Extase mit der nötigen Glaubwürdigkeit darzustellen.

Dazwischen befinden sich die vielen mehr oder weniger inspirierten Individualisten, die Elemente aus beiden Gruppen in Ihren Darbietungen in jeweils unterschiedlicher Gewichtung vereinigen. Die Übergänge sind dabei schön fließend, was den Vergleich so interessant gemacht hat. Die ganz extreme Sicht, die das Werk ausschließlich lyrisch ausgebreitet sehen, gibt es auch, sie ist aber selten (Segerstam).

 

 

zusammengestellt bis 27.3.2021

 

 

 

 

Herr Scriabin um 1900, das einzige gemeinfreie Bild das zu finden war.

 

 

 

Vegleichende Rezensionen im Detail:

 

5

Stefan Blunier

Beethoven Orchester Bonn

MDG

2011

20:32

 

SACD   Das uns bereits in Schostakowitschs 5.Sinfonie begegnete Orchester vom Rhein ist in dieser Einspielung kaum wiederzuerkennen. Feinfühlig und flexibel mit der geschmeidigen Eleganz und dem Flair eines Eliteorchesters setzt es die Vorgaben seines damaligen Chefs um und lässt dabei alle Schwierigkeiten der Realisierung des komplexen Werkes vergessen.

So wird zu Beginn des Stückes die matte und träge Stimmung eines schwülen Sommertages mit vollem und leuchtendem Klang von den Solisten und Streichern des Orchesters hervorgerufen. Gerade die trägen, matten, schmachtenden Abschnitte erhalten in dieser Einspielung eine ganz besondere Suggestionskraft. Die Übergänge zu den vielen unterschiedlichen Tempi, die in aller Gegensätzlichkeit angeschlagen werden, gelingen bruchlos und geschmeidig. Stets hat der Hörer das Gefühl, dass man sich gemeinsam Zeit lässt, die Stimmung auszukosten. Das Allegro volando erhält einen drängenden Gestus, der aber leicht und locker bleibt. Im Violinsolo (es ist das Thema der „entstandenen Geschöpfe“ zu Beginn des Lento) scheinen die Saiten  - wie von der Partitur nahegelegt – carezzando, also wie gestreichelt, gespielt zu werden. Dennoch klingt es zudem ausgeglichen und voll. Stefan Blunier gelingt es, die Nebenstimmen nie aus dem Auge zu verlieren, weshalb das Stück eine Plastizität wie in keiner anderen Aufnahme erhält. Diese Erkenntnis, zunächst in den ohnehin transparenteren, ruhigeren Abschnitten gewonnen, erhärtet sich - um dem Verlauf des Stückes ein wenig vorzugreifen - auch in den massivsten Teilen der Durchführungen und der abschließenden Extase. Im komplexen Stimmengeflecht scheint nichts verloren zu gehen. Das Stück wirkt so viel reichhaltiger aber auch leichter fassbar als bei dem gerade zuvor gehörten Barenboim. Von der Partitur hört man in dieser Aufnahme von allen am meisten. Mit Hilfe von haarfeinen Tempomodifikationen wird auch die Fassbarkeit der zahlreichen Gesten merklich unterstützt. Das Moderato con delice erklingt so genüsslich ausgebreitet und voller Ruhe, aber nicht behäbig oder gar langweilig wie bei anderen. Eine gelungene Gratwanderung. Dass hier ein exzellenter Klangstratege am Werke ist macht auch die Passage der „stetig wachsenden Trunkenheit“ bis zum Erreichen des „deliriumartigen Zustandes“ deutlich. Stetig aber kaum merklich wird hier die Dynamik gesteigert. Die Solotrompete klingt weniger aufdringlich als in den meisten anderen Vergleichseinspielungen; auch hält sie die artikulatorischen Vorschriften sehr genau ein, was bei vielen anderen durch pure Kraft  ersetzt wird. Der Bläsersatz erklingt mit bestechender Präzision und Klangschönheit. Niemals wirkt das Stück auch bei der Mobilisierung aller Kräfte dick instrumentiert oder blechgepanzert. Das gelingt nur den allerbesten Orchestern überhaupt. Stets wirkt der Klang stets transparent und geradezu schlank. Dabei fehlt es - um Missverständnissen vorzubeugen sei es erwähnt - nicht an der nötigen Attacke oder der vom Komponisten beabsichtigten himmelstürmenden Attitüde. Auch im stürmischen Bereich der Durchführungen bleibt das Orchester klar und offen. Die Verfolgbarkeit aller Stimmen ist jederzeit gewährleistet. Das alleine grenzt angesichts der entfachten beinahe zügellosen Kräfte des riesenhaften Orchesters fast an ein Wunder. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass diese Einspielung auch ein großer Genuss für den Partiturleser ist. Die Extase gelingt in bewundernswerter Präzision und mit einer erhabenen Gesamtwirkung. Es mangelt auch keineswegs an explosiver Dynamik und Sinnlichkeit. Einziges Manko aus audiophiler Sicht ist, dass die Orgel das Orchester durchaus mit mehr Eindringlichkeit hätte in der Extase und in der Coda unterstützen können. Das ändert aber nichts am Ausnahmerang dieser mit viel Herzblut und Liebe zum Detail realisierten Einspielung. Sie hält das Werk in einer bewundernswerten Balance von lyrischem Ausdruck und dramatischem Feuer, von feingliedriger Akkuratesse und himmelstürmender Durchzugskraft.

Der Klang der audiophil zu nennenden Aufnahme, obwohl aus Gründen der Gleichbehandlung nur von der CD-Schicht der SACD und daher nur in Stereo gehört, ist von ausladender Räumlichkeit und nahezu holographischer Transparenz, wozu auch eine exzellente Breiten- und Tiefenstaffelung gehört. Der Hörer fühlt sich ermuntert einmal virtuell um die Reihen der Musiker herumzuspazieren. Das Orchester klingt weich gerundet, voll und farbig. Diese Einspielung ist ein großer Hör-Genuss vom Anfang bis zum Ende.

 

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5

Leopold Stokowski

Tschechische Philharmonie (Prag)

Decca

1972

19:02

 

Stokowski war dem Werk, ähnlich wie Blunier, ebenfalls eng verbunden, denn sonst hätte er das Stück nicht fünf Mal eingespielt. 1932 mit dem Philadelphia Orchestra, 1959 mit dem Houston SO, dann 1969 mit dem RPO, 1971 mit dem New Philharmonia Orchestra London (beide Male Live von der BBC mitgeschnittene Konzertaufnahmen) und zuletzt in Prag 1972. Vier davon konnten verglichen werden, die 1971er lag uns leider nicht vor. Die jüngste Aufnahme des 89jährigen Dirigenten muss dabei als erste genannt werden, vereint sie doch zupackendes Temperament des musikalisch jung gebliebenen Klangmagiers mit den Vorzügen einer der allerbesten Phase-4-Aufnahmen der Decca. Zudem kommt der Musikfreund in den Genuss des hochgradig motivierten tschechischen Vorzeigeorchesters für das die Zusammenarbeit mit der Dirigentenlegende dem Resultat nach ein besonderes Highlight gewesen sein muss. Die Tempi erscheinen stets flüssig und schlüssig, lassen aber viel weniger Raum für eine liebevolle Flexibilität wie bei Blunier. Ein besonderer Genuss ist in Prag die Trompetenstimme die, ähnlich wie bei Pesek 13 Jahre später, sehr dynamisch und mit großen aber nicht starren Ton agiert und der wichtigen Stimme einen wahrhaft gebieterischen, imperialen Auftritt verleiht. Das gilt ähnlich für die vier anderen Mitglieder der Stimmgruppe. Auch die Hörner verfügen über einen warmen und präsenten Klang, der die (erst recht mit den Trompeten zusammen) die sprichwörtlichen „Trompeten von Jericho“ mit ihrer prächtigen den tschechischen Hörnern eigenen Klangfülle in den Schatten stellen. Lediglich die Posaunen klingen von zu weit her und hätten eine höhere Präsenz dringend vertragen können. Das Klima in dieser Einspielung wirkt besonders aufgeheizt. Ein ums andere Mal erinnert der Gestus an das Ballett „Daphnis et Cloé“ von Ravel. Stokowski versetzt das Stück also ein wenig in Richtung erotisierenden Impressionismus, was auch an der leuchtenden reichen Farbpalette der Aufnahme liegen mag. Die erste Durchführung klingt fulminant und extrem aufgeheizt. Der Klang der Aufnahme scheint buchstäblich aus allen Nähten zu platzen so voll mutet er an. Der Klang des Orchesters bietet gegenüber der Galaaufführung der Bonner aber auch kleine Defizite: Solovioline, Englischhorn und Klarinette hatten nicht ihren allerbesten Tag. Besonders die Solovioline klingt etwas gequetscht und unfrei.

Die spezielle Aufnahmetechnik fördert Details zutage, von denen man meint, sie das erste Mal zu hören. Sie wirken deutlicher, weil sie mithilfe der unzähligen Mikrophone bisweilen künstlich eingeblendet werden (Blow-up-Effekt). Aber wie bereits erwähnt diesmal nahezu unmerklich und sehr dezent. Durch die hohe Präsenz des Klanggeschehens wird eine außerordentliche Emotionalisierung des fast hautnahen orchestralen Geschehens erreicht. Ein Vorteil gegenüber der zuvor genannten Einspielung ist die im abschließenden Maestoso deutlich profunder ins Bild kommende und sehr tief klingende Orgel. Eine extatischere Wirkung lässt sich kaum noch denken. Das ganze Orchester gibt wirklich alles. Aber wie sich im späteren Verlauf des Vergleiches herausstellte wurde er noch gesteigert, denn nach Stokowski kam noch Svetlanov. Die Orgel ist für Scriabin ja auch deshalb am Ende so wichtig, um die Nähe zum sakralen, mehr noch zum göttlichen Rahmen der Extase kenntlich zu machen und so vom Verdacht des nur erotischen gänzlich zu befreien.

Die Prager Aufnahme Stokowskis wirkt deutlich emotionaler als die aus Houston, die aber im Gesamtklang etwas kultivierter und feiner wirkt.

Die Aufnahme der Decca vermittelt mit ihrer hohen Präsenz besonders der Orchestersolisten und ihrem Farbenreichtum eine süffige Klangpracht. Die Dynamik wirkt besonders breit. Das sonst so oft (besonders bei älteren Aufnahmen der Phase-4-Reihe) zu beobachtende Übersteuern konnte hier weitestgehend verhindert werden.

▼ drei weitere Aufnahmen des Dirigenten folgen noch im weiteren Verlauf der Liste

 

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5

Jevgeni Svetlanov

Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR

Melodija – Regis

1966

22:03

 

BBC Legends

1968,  LIVE

19:42

 

Von Svetlanov sind uns drei Aufnahmen des Werkes bekannt, wobei die letzte aus den 90er Jahren leider nicht zum Vergleich vorlag. Die beiden Einspielungen aus den 60er Jahren haben ganz außergewöhnliche Qualitäten, wobei sich zwischen beiden durchaus gravierende Unterschiede ergeben. Das fängt schon mit der technischen Realisierung an. Die sowjetische Aufnahme ist in den leiseren Partien sehr transparent und die Orchestergruppen gut aufgefächert. Dynamisch ist sie weit gespreizt, klanglich eher hell als sonor. Im Maestoso aber haben die Techniker nicht aufgepasst, denn der fulminante Klang des Moskauer Orchesters wird diesmal nicht rigide abgeregelt wie sonst, wenn die dynamischen Ressourcen aufgebraucht sind, sondern übersteuert total. Die Techniker der BBC gingen beim Londoner Mitschnitt vorausschauender vor und bedachten von Beginn an, was da an dynamischen Exzessen auf das Equipment zukommt und steuerten entsprechend vorsichtig und (etwas zu) schwach aus. Das hat zur Folge, dass es in den leisen Partien an Präsenz mangelt, aber auch, dass das Maestoso fast ohne Eingriff unverzerrt eingefangen werden konnte. Der CD-Hörer kann so mittels Mitschnitt an einer der ganz seltenen echten Sternstunden der Aufnahmegeschichte teilhaben.

Doch nun zurück zur Moskauer Produktion von 1966. Die Themen werden stark profiliert und scharf geschnitten. Die schnellen Tempi geraten gespannt und im Gestus stürmisch oder feurig und zugespitzt (Allegro volando). Die Stimmenverläufe sind stets klar umrissen. Nachlässigkeiten gibt es keine. Ein Wechselbad der Gefühle wird mit großer Entschlossenheit und großer orchestraler Geläufigkeit präsentiert, oder besser nacherlebt. Das Violinsolo klingt etwas stumpf. Die Trompete(n) und die Hörner haben imperiale Größe. Gegenüber der zuvor genannten Prager Aufnahme haben auch die Posaunen schneidige Präsenz. Die Kraftentfaltung des Blechs erscheint nahezu unerschöpflich. Wie bereits erwähnt mit der Kehrseite behaftet, dass das technische Equipment nicht Schritt halten kann. Die Trompeten erhalten oder sollte man schreiben: erkämpfen sich mit ihrem bestimmenden „Ich“-Thema die ganze heimische Bühne und verdrängen so das restliche Orchester, beeindruckend, aber sicher nicht ganz so, wie es sich der Komponist vorgestellt hat. Das Standvermögen des Blechs ist frappierend. Das Übersteuern mindert hier die absolut entäußerte Wiedergabe des Werkes noch erheblich. Jedoch gehen auch so die extatischen Momente noch über das bei Stokowski gehörte hinaus, die Orgel ist hingegen mehr zu erahnen als zu hören. Trotzdem liegt hier eine „Wahnsinnseinspielung“ vor, die der an Scriabin interessierte Musikfreund unbedingt gehört haben sollte.

Gegenüber der Moskauer Einspielung leidet die Londoner etwas unter der geringeren aufnahmetechnischen Präsenz der orchestralen Abläufe. Das Ende des Mitschnittes bereits kennend, wissen wir aber von der weisen Entscheidung des Aufnahmeteams, dass das das kleinere Übel sein wird. Die auch bereits in der Moskauer Einspielung „bedrohliche“ Ausgangsstimmung scheint Live noch weiter zugespitzt. Beim Allegro non troppo intonieren die Hörner ihr Thema der Unruhe extrem unruhig, als ob sie nur noch ein Rudel mit Mühe im Zaum zu haltende Bestien wären, die auf Raubzug gehen wollen. Die Tempogestaltung ist etwas flexibler als zuvor in Moskau. Im weiteren Verlauf kommen die Hörner jedoch nicht so präsent ins Bild wie in Moskau. Bei den Posaunen gelingt es besser. Das Orchester geht volles Risiko, aber eine fehlerfreie Aufführung, die so unter Hochspannung steht, erwartet wohl sowieso keiner der Zuhörer, jeder weiß aber längst: hier gibt es andere Prioritäten. Die schnellen Partien werden „wie irre“ gesteigert, beim Schlagwerk werden die Instrumente alles andere als geschont, da fliegen buchstäblich die Fetzen. Das alle Kräfte mobilisierende Maestoso kann der Musikfreund dank der kenntnisreichen Einstellung der Aufnahmegeräte und Mirkofonplatzierungen beinahe ungeschmälert mitverfolgen (natürlich muss es Live anno `68 ein Erlebnis ganz anderer Dimension gewesen sein!). Die Hörner spielen nun mit einer geradezu hysterisch übersteigerten Grandezza, wobei sich das übrige Blech davon mitreißen lässt. Das ist wohl das, was an extatischer Entäußerung überhaupt zu erreichen ist. Nämlich Entäußerung pur. Was hier mit schier grenzenloser Kraft an klanggewaltiger Energie mobilisiert wird, sucht seinesgleichen. Im Vergleich wurde diese Leistung auch nicht annähernd noch einmal erreicht. Wurde hier mit einer göttlichen Geste tatsächlich der Himmel geöffnet? Nur noch der Vollständigkeit wegen sei es erwähnt: Auch die Pause zwischen dem Maestoso und der Coda ist erfüllt von prickelnder Stille, hier könnte man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören, ein jeder hält den Atem an. Das an dieser Sternstunde teilnehmende Publikum antwortete mit einem grenzenlosen frenetischen Jubelsturm, wie man ihn vom distinguierten britischen Publikum wohl nur alle „Jubeljahre“ einmal hört. War da nun eine Orgel mit dabei? Wir wissen es nicht mehr, gefehlt hat jedenfalls nichts. Dies ist die bei weitem emotionalste Einspielung.

In London wurde der CD-Hörer gegenüber der Moskauer Einspielung etwas nach hinten versetzt. Das Orchester klingt weniger farbstark und weniger brillant, wie es damals für Aufzeichnungen der BBC üblich war. Auch die Transparenz hinkt hinter der Moskauer Version hinterher. Dynamisch ist die Londoner Einspielung jedoch viel ausgewogener, sie kann die nötigen Reserven mobilisieren. Wir danken der BBC.

 

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5

Antal Dorati

Concertgebouworchester Amsterdam

RCO Live

1984  LIVE

19:00

 

Auch diese Live-Einspielung profitiert von einem Orchester, das einen großen Tag erwischt hat. Stets klingt es sonor, locker und geschmeidig. Und inspiriert. Fühlte man sich bei Stokowskis Prager Aufnahme noch an den Farbenrausch Ravels erinnert, so herrscht hier eher das Klima von Bartoks „Blaubarts Burg“ vor. Wie bei einer Psychoanalyse werden die Themen und Motive vom niederländischen Eliteorchester herauspräpariert und das Live und vom Rundfunk mitgeschnitten. Aber auch Strawinskys „Feuervogel“ schimmert in den ballethaften Elementen der Komposition hier bisweilen deutlich auf. Scriabin kam offensichtlich nicht aus dem musikalischen Nichts, sondern kannte seine komponierenden Zeitgenossen sehr gut, vice versa. Dorati deckt die Bezüge deutlich auf. Sehr transparent wirkt sein Duktus, leicht und luftig (Allegro volando) oder gebieterisch, wenn die hervorragende Trompete erklingt, genau so wie es sein soll. Er schafft mit dem Orchester von ausnehmender Güte eine plastische, dichte Atmosphäre. Allerdings ist Blunier hier mitunter noch genauer, denn bei Dorati werden nicht alle Holzbläsermotive live so genau herausgearbeitet. Doratis Gestus ist jedoch durchweg spannend. Im Vergleich zum zuvor gehörten Boulez klingt Zi. 26 sehr viel rhythmischer, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Soli sind intensiv, die dynamischen Entladungen kommen wie selbstverständlich und ohne Anstrengung. Im leggierissimo volando scheint das Orchester tatsächlich ins Fliegen zu kommen. Das Maestoso wird in jedweder Hinsicht auf den Punkt gebracht. Wir kommen in den Genuss einer origiastischen Extase und einem Finale mit größter Wucht. Diese Einspielung vereint (nicht ganz so detailverliebt wie Bluniers Einspielung unter Studiobedingungen) einen sehr lebendigen Gestus des Musizierens mit einem unmittelbaren plastischen Live-Erlebnis. Das mit vollem Risiko spielende Top-Orchester mit seinen ausgezeichneten Solisten vermittelt sozusagen Scriabin pur, Musik ohne zusätzliche Befrachtung mit einem philosophischen Überbau.

Für eine Live-Aufnahme klingt es hier sehr plastisch, offen und klangfarbenstark, transparent und weiträumig. Auch die Dynamik braucht sich vor den Studioaufnahmen keineswegs zu verstecken.

 

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5

Kent Nagano

Gustav-Mahler-Jugendorchester

Musicom - ORF

1998  LIVE

19:57

 

Dieser Mitschnitt überzeugt sowohl von der klaren Disposition des Dirigenten als auch und im besonderen Maß von der leidenschaftlichen und hingebungsvollen „Mitarbeit“ des noch jungen Orchesters. Alle Stimmen der Partitur werden sorgfältig freigelegt, sodass sich ein ausgesprochen vielstimmiger Eindruck der Partitur ergibt. Die Steigerungen (beispielsweise  im Allegro non troppo) klingen mit einer wie entfesselten unverbrauchten Dynamik, die Tempi erscheinen jugendlich und frisch. Das hört sich nach einem Klischee an (weil es eben zum Teil noch Jugendliche sind, die da mitspielen), dennoch stellte sich dieser Eindruck bereits bei den ersten Takten ein. Klanglich braucht sich das Ensemble vor einem Profiorchester nicht zu verstecken, im Gegenteil, was ggf. an Tonfülle fehlt, wird mit hellwacher, flexibler Gestaltung wettgemacht. Die Solovioline klingt etwas dünn, aber sehr differenziert. Die Solotrompete kann sich mit der gerade zuvor gehörten Trompete bei Mravinsky im Tonvolumen (noch) nicht messen, klingt aber wiederum dynamisch erheblich differenzierter. Der Ausdruck wird geschärft (Beispiel: Dramatico), der Verlauf wirkt dramatisiert. Die Partitur wird hellhörig durchleuchtet, soweit es der Rundfunkmitschnitt zulässt. Beispiel: Glockenspiel, das in vielen Aufnahmen im Tutti untergeht, hier kommt es sehr deutlich. Die Holzbläser agieren ausgesprochen agil. Die lyrischen Partien kommen sehr expressiv. Bei den Hörnern passieren mal kleine Intonationsungenauigkeiten, aber davon war auch das Staatorchester der UdSSR nicht ganz gefeit. (Die Amsterdamer allerdings schon). Die Leidenschaft der Darbietung zeigt sich auch in den hinreißenden Durchführungen, die zudem strategisch gut geplant erscheinen und sehr transparent gestaltet sind. In der Schlussextase geben die jungen Musiker alles. Was für eine tolle Apotheose! Leider ist hier keine Orgel zu hören. Da haben die Techniker vielleicht ein Mikrofon vergessen. Statt der Orgel dürfte man übrigens auch ein Harmonium nutzen. Es hätte aber keine Chance, sich gegenüber dem Orchester durchzusetzen. Im Salzburger Festspielhaus wäre doch sicher eine Orgel zu nutzen gewesen...

Der Klang ist sehr transparent, bietet aber recht wenig Tiefenstaffelung, was ihn etwas vordergründig wirken lässt. Die Dynamik ist aber gut und der Gesamtklang offen. Das Publikum hält sich bis auf den Schlussapplaus sehr zurück.

 

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5

Johannes Winkler

Dresdner Phiharmonie

Berlin Classics

1984

18:59

 

Der Namen des mit 39 Jahren 1989 bei einem Autounfall tragisch verstorbenen Dirigenten dürfte den wenigsten Musikfreunden heute noch ein Begriff sein, zumal er damals als amtierender Chef der Leipziger Oper erst am Anfang seiner Aufnahmekarriere gestanden haben dürfte. Im Vergleich zu den beiden gerade zuvor gehörten Aufnahmen Svetlanovs fällt auf, dass hier die Tempi lange nicht so gegensätzlich genommen werden wie bei dem älteren Kollegen. Im Ganzen werden die Themen auch nicht ganz so scharf geschnitten und zurückhaltender charakterisiert, so klingt auch das „Thema des Protestes“ (Posaunen) etwas zurückhaltender. Auch die Trompete klingt etwas hintergründiger. Die komplexe Partitur wird aber dennoch ausgesprochen differenziert und in aller Klarheit zum klingen gebracht, sehr sachlich aber keinesfalls nüchtern. Das Dresdner Orchester, das schon häufiger bei unseren Vergleichen beteiligt war, liefert dabei seine bisher beste Leistung. Die Streicher klingen voll und rund, aber in keiner Weise behäbig wie in Schostakowitschs 5. oder bei der Ouvertüre zu „Figaro Hochzeit“. Die warmen Klangfarben der Holzbläser erfreuen erneut. Der offene Klang verliert auch im ff der Durchführungen nichts von seiner Sinnlichkeit. Bei aller Leichtigkeit und Klarheit klingt der Gestus dennoch feurig und bewegt. Die Trompeten klingen hier weniger aufdringlich als in minderen Aufnahmen, es wird also aus dem Poème kein verhindertes Trompetenkonzert gemacht. Fast eine Alleinstellung erhält diese Produktion durch den Einsatz der Orgel. Hier wird er endlich einmal bestimmungsgemäß (mit richtigem fff) zur Entgrenzung des Orchesterklangs genutzt. Bravo. In dieser ausgesprochen werkdienlichen Wiedergabe wird eigentlich nichts falsch gemacht. Sie macht nicht durch exzentrische Eigenheiten auf sich aufmerksam und überzeugt auch mit sehr guten Leistungen des Orchesters und einem brillanten Klang. Der Orgelklang ist der beste des ganzen Vergleiches.

Überhaupt erfreut der ausgezeichnete Klang der Aufnahme sehr. Er ist besonders klar, warm und farbig und verfügt über eine breite Bühne. Audiophile Kost aus dem Hause Eterna.

 

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5

Giuseppe Sinopoli

New York Philharmonic Orchestra

DG

1988

20:20

 

Bei Aufnahmen von Sinopoli weiß der Hörer vorher nie genau, was ihn erwartet. Hier überzeugt das Ergebnis jedoch voll und ganz. Zwar ist das Spiel der in Hochform agierenden New Yorker ausgesprochen geschmeidig und souverän, die warmen, klaren und sonoren Klangfarben der Dresdner Philharmonie erreichen sie jedoch nicht ganz. Dennoch erklingen gerade auch die vielen Soli in großer Klarheit und in leuchtenden Farben. Die musikalische Szenerie wird stets in fließender Bewegung gehalten, die einzelnen Bilder wirken wie übergeblendet. Die Durchführungen werden dramatisch zugespitzt und feurig angeheizt. Der Orchestersatz erhält eine Lebendigkeit, die mitunter an eine sinfonische Dichtung von Richard Strauss erinnert. Die Extase am Ende gelingt sehr schön und charaktervoll. Der C-Dur Entäußerung der Coda fehlt jedoch die alles überragende Finalgestik der Aufnahmen von Svetlanov, Stokowski oder auch Johannes Winkler. Trotzdem eine beeindruckende Wiedergabe, die das Werk stets im Fluss hält und die einzelnen Abschnitte treffend und ausdrucksvoll charakterisiert. Orchesterspiel und Aufnahmequalität sind sehr gut. Sehr transparent, sehr dynamisch und farbig.

 

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5

Leopold Stokowski

Houston Symphony Orchestra

Everest

1959

19:12

 

Von Leopold Stokowski ist überliefert, dass er seinen Weggang vom Philadelphia Orchestra zugunsten der Stelle in Houston (damals die aufstrebende “Raketenstadt“) sehr bereut haben soll, war das Orchester zu Beginn seiner Arbeit noch eher provinziell aber in den Augen bzw. Ohren der musikalischen Öffentlichkeit blieb es das auch, trotz seiner guten Aufbauarbeit vor Ort. Der langen Rede kurzer Sinn: In dieser Aufnahme klingt das Orchester bestechend und keinesfalls schlechter als die Konkurrenz aus Philadelphia, obwohl ein Vergleich über die Jahrzehnte hinweg immer problematisch bleibt. Auch hier erfreut sich der Hörer an einem besonders klaren Stimmverlauf. Auffallend ist das hier behäbig wirkende Tempo beim ersten Allegro volando, wobei sich die Einzelstimmen aber sehr aufmerksam und plastisch am Geschehen beteiligen. Ein paar Drücker und Schleifer oder Portamenti, die heute allenfalls misstrauisch beäugt werden würden, lässt der Maestro ´59 noch zu, aber nicht mehr so exzessiv wie 1932. Die Prager Aufnahme ist dann völlig frei davon. Obwohl die Atmosphäre von knisternder Spannung erfüllt ist, erscheint diese Version gegenüber den Einspielungen von 1932 und 1969 wie eine Reinschrift, festgehalten für die Nachwelt, bereinigt von den subjektiven Zutaten des Maestros, der sich immer auch als Bearbeiter (Verbesserer?) sah. Bei Zi. 8 klingen die Hörner im Delirium etwas zu schwach, plausibel, wenn das Delirium unseren Helden stark geschwächt haben sollte. Sonst klingen sie fester und durchdringender. Die Durchführung  gerät erneut plastisch, transparent und sehr dynamisch. Das Stück wirkt bestens erarbeitet, das Orchester hat es völlig verinnerlicht. Die Celesta, die in vielen Einspielungen untergeht, kommt hier sehr gut zur Geltung (Zi. 24) Die Hörner bei Zi. 32 spielen hingegen nun viel zu laut, da gingen dann trotz der gezügelten Reinschrift die Pferde doch ein wenig mit dem Dirigenten durch.

Der Klang der Aufnahme erscheint unglaublich, wenn man sich das Aufnahmejahr vergegenwärtigt. So körperhaft klingt es in kaum einer anderen Aufnahme. Die Ortbarkeit und die Staffelung sind ausgezeichnet. Der besonders frische Gesamtklang in den leiseren Passagen ist geradezu schwebend. Der Klang war sicher nicht Schuld daran, dass das Haus Everest nur wenige Jahre Schallplatten herausbringen konnte.

▼ zwei weitere Aufnahmen des Dirigenten folgen noch im weiteren Verlauf der Liste

 

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5

Peter Ruzicka

China Philharmonic Orchestra (Peking)

Für den Autor leider nicht lesbares chinesisches Label

2013  LIVE

20:27

 

Wer den Paradigmenwechsel (trotz der „Vorreiter“ Lang Lang oder Yuja Wang) noch nicht ganz vollzogen hat, spätestens jetzt wäre es soweit. Das Land der Mitte hat auch im Hinblick auf westliche Orchesterkultur den Anschluss an die Weltspitze längst geschafft. In einem Blindvergleich könnte man das als bestes Orchester Chinas geltende China Philharmonic auch für das Orchestre de Paris, das London Philharmonic oder das San Francisco Symphony halten. Diesen Schluss legt jedenfalls die vorliegende Live-Einspielung Peter Ruzickas, der in Deutschland sowohl als Intendant, als auch als Komponist und Dirigent reüssiert, nahe. Der Klang der Aufnahme ist ebenfalls topp. Es handelt sich um die Aufnahme mit dem höchsten Aufsprechpegel und einer ganz hervorragenden Transparenz. Das Orchester klingt üppig, voll, ja geradezu prall. Die Ausgewogenheit ist ebenfalls frappierend. Nur die Tiefenstaffelung kann nicht ganz mit den darin vorbildlichen Einspielungen von Stefan Blunier oder Pletnev mithalten. Auch die Dynamik ist ganz ausgezeichnet, die Basswiedergabe mächtig. In Punkto Transparenz des Tutti bleibt jedoch die Blunier-Einspielung die erste Wahl. Das Publikum produziert nur sehr geringe Störgeräusche. Offensichtlich wurde zur Aufnahme allerfeinstes Equipment genutzt. Darüber braucht man sich jedoch schon nicht mehr zu wundern, denn von einer Nation, die bereits die Landung auf der Rückseite des Mondes geschafft hat und deren Technik- und Musikbegeisterung als auch die finanziellen Ressourcen bekannt sind, kann man in dem Bereich bereits das Beste erwarten.

Doch nun zurück zur Musik. Nachteilig fällt auf, dass das Allegro volando (auch in der Reprise) etwas zu träge angestimmt wird und der Verlauf mitunter wenig zugespitzt wird. Die Durchführung lässt in ihrer brillanten und farbigen Klanggewalt an die „Alpensinfonie“ denken. Hier sind die Klangfarben tatsächlich schillernd und leuchtend, ein Hochgenuss für die Sensualisten unter den Hörern. Generell erscheinen die Tempi etwas zu gleichförmig. Das geht jedoch eher auf den Dirigenten als auf das Orchester zurück. Dafür entschädigt dann ein offensichtlich sehr, sehr groß besetzter Streicherchor mit üppigstem aber doch glasklaren „Sound“. Das magistrale Maestoso leuchtet in einem fantastischen Gesamtklang.

Diese Version überraschte von allen am meisten. Die Tempoanlage ist mitunter zwar etwas gleichförmig geraten, oder sogar etwas einfallslos, was eigentlich schon viel zu drastisch klingt, aber sie verwöhnt mit einem üppigen, klaren aber in erster Linie geradezu kulinarischen Gesamtklang, der eine fantastisch klingende Schlußextase ermöglicht. Auch der Saal scheint akustisch von höchster Qualität gewesen zu sein. Von fernöstlicher Zurückhaltung ist in dieser Darbietung keine Spur mehr auszumachen. Auch hier setzt China zum Überholvorgang  an. Irgendwann bleibt uns vielleicht dann doch nur noch der Fußball.

 

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4-5

Jevgeni Mravinsky

Leningrad Philharmonic Orchestra

Praga

1958

20:01

 

SACD   MONO   Trotz des Monoklangs wurde der „sowjetische“ Klang der 50er Jahre von den tschechischen Remasteringenieuren  so gut bearbeitet, dass man manchmal zweifelt, ob nicht doch sogar eine Stereoeinspielung vorgelegen haben könnte. Entscheidender ist aber, dass der Klang des Orchesters nun seltsam gerundet und geschönt klingt, sogar recht voll, transparent und warm. Also ganz anders als man es von den überlieferten Original-Dokumenten bisher gewöhnt war. Das gelungene Remastering konnte jedoch nicht verhindern, dass die Partitur gegenüber der, die in Bonn oder Dresden auf den Pulten lag, seltsam verknappt erscheint, teilweise blieben die Stimmen unhörbar oder nur gerade noch zu erahnen.

Dennoch klingt der Beginn extrem polyphon. Die Trompete mit ihrem vollen autoritären und gebieterischen Ton nötigt dem Hörer sofort Respekt ab. Das Allegro volante erhält einen vorantreibenden Impetus. Wie bei Mravinsky oft beseelt von einem kalt lodernden aber unerbittlichen Feuer. Die Streicher, insbesondere die Celli und Bässe, haben es schwer, ins Bewusstsein des Hörers vorzudringen. Passagen der Mattigkeit werden in keiner Weise ausgekostet, eher im Gegenteil, von diesem Charakterzug oder Gemütszustand will sich der Dirigent schnell wieder entfernen. Er stürzt sich auf die Akzente, die treffend partiturgenau und herzhaft gesetzt werden und die das für Mravinsky typische Spiel mit ausmachen. (z.B. fp bzw. sf 8 Takte nach Zi. 4). Immer wieder macht die keineswegs metallisch klingende, nie spitze, volle und sonore Trompete auf sich aufmerksam, eine außergewöhnliche Leistung, die im weiteren Verlauf noch mehr Respekt einfordert. Zi. 4 prèsque en delire klingt wie im (Opium)rausch, keineswegs angenehm mit Wahnvorstellungen. Die Trompete im Allegro, oft zu laut, klingt absolut präsent und gibt eigentlich immer „Vollgas“. Das Tragico wird heftig zugespitzt. Die Hörner dagegen sind etwas zu hintergründig eingefangen worden. Im weiteren Verlauf wird immer mehr ein Trompetenkonzert aus das Poème, sie reißt das Geschehen immer mehr an sich, der Rest des Orchesters „verkümmert“ dem gegenüber leider etwas. Das folgende Lento klingt dann wieder viel transparenter. Das zweite Allegro volando wirkt wie unter Strom gesetzt, stets die Spannung hoch haltend. Mravinsky belässt dem Stück die kirchlichen und göttlichen Bezüge durchaus (seltsam für einen „Staatskünstler“ der Sowjetunion, Partitur geht ihm trotzdem vor Staatsraison). Die Glocken und das Glockenspiel wie auch die Orgel als typische Kircheninstrumente (besonders der russisch-orthodoxen Kirche) kommen voll zu ihrem Recht. Das Blech sorgt mit seiner enormen Potenz und Präsenz die Klangkrone auf und bringt den Orchesterklang zur Entäußerung (gemeinsam mit der Orgel).

Anders als Kitaenko oder Malychev verlässt Mravinsky das Grundtempo kaum einmal, was eine stringentere Gesamtwirkung zur Folge hat. Den matten Elementen wird dagegen wenig Eigenleben zugebilligt. Beim Blech wirken die Hörner durch die Technik unterbelichtet. Trompeten und Posauen erreichen aber auch so eine kaum je erreichte Erhabenheit, gar Entäußerung. Mit den kirchlichen Instrumenten, die der Dirigent nicht vernachlässigt, sondern eher noch in den Focus rückt, unterstreicht er den allgemeinmenschlichen Rahmen und führt das Stück so weit über die durch die französischen Bezeichnungen suggerierten Gefühlslagen, die eher in der „wollüstigen“ Ebene verharren,  hinaus.

 

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4-5

Valery Gergiev

Kirov Orchestra (heute: Orchester des Mariinsky Theaters)

Philips

2000

20:20

 

Gergiev tritt in gewisser Weise hier in die Fußstapfen von Mravinsky. Die Gesamtanlage ist mitreißend, aber mit Bezeichnungen wie „mit süßer Erhabenheit“ oder „mit träger Begierde“ kann er ebenfalls deutlich weniger anfangen. Ihm assistiert ein damals hervorragendes Orchester mit einem sagenhaften Klang. Aus dem wahrlich exzellenten Blech ragen die Trompeten nochmals heraus. Die vorantreibenden schnelle Passagen werden unerbittlich zugespitzt (so das zweite Allegro volando) im Charmé Zi. 32 oder Zi. 33 nimmt er jedoch den erreichten Drive zu wenig zurück. Das Allegro molto leggierissimo überzeugt hingegen wieder gänzlich. Er nimmt die Gegenposition zu Boulez ein, dem die trägen Passagen z.B. das Delirium so nahestehen, dass es sie sogar auf die anderen Teile ausweitet. So macht Gergiev dasselbe mit den vorantreibenden Passagen und überzieht sie noch mit einer Art jugendlichem Ungestüm. Im Maestoso entfesselt er alle Kräfte auf imponierende und Gehör schädigende Weise. Er wird dabei kongenial unterstützt von seinem sagenhaften Orchester und einer hervorragenden Aufnahmetechnik, die das entfesselte Spiel aufs Beste ungeschmälert unterstützt.

 

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4-5

Claudio Abbado

Boston Symphony Orchestra

DG

1971

19:27

 

Abbado Aufnahme beginnt auch mit einem recht aufregenden, ziemlich flotten Andante, dem man den matten, trägen Unterton nicht so recht abnimmt. Die Solisten des Orchesters überbieten sich im Verlauf aber gegenseitig mit engagiertem Espressivo-Spiel. Auch der erste Trompeteneinsatz überzeugt voll. Dennoch merkt man dem Orchester an, dass es noch nicht gänzlich mit dem scriabinschen Idiom vertraut ist. Bisweilen hat man den Eindruck, es läge dem Klang nach eine Partitur von Debussy auf den Pulten. Farbenreiche Mischklänge liegen dem Orchester und natürlich der Aufnahmetechnik anscheinend besonders am Herzen. Bisweilen könnten die pp noch etwas liebevoller klingen, während sich die Posaunen mit ausnehmend knackiger Substanz ins rechte Licht rücken. Die Trompeten zeigen ein mehr als hinreichendes Strahl- und Standvermögen. Abbado gelingen auch soghafte accelerando Momente. Er ist auch einer der wenigen, denen auch ein dolcissimo hörbar gelingt. Celesta und Harfe haben einen schweren Stand in der Bostoner Symphony Hall, die von der DG in der Ära nach Charles Munch und Erich Leinsdorf zunächst mit vielen verschiedenen Dirigenten erprobt wurde. (Kubelik, Jochum, Tilson Thomas und Steinberg kamen noch hinzu bis dann Ozawa für viele Jahre übernahm). Im Maestoso macht die Klangtechnik dann einen leicht überforderten Eindruck, denn die aufgebotenen Klangmassen konnten nicht mehr mit der gebotenen Dynamik aufgezeichnet werden. Gerade auch mit der Orgel wird der Klang erheblich halliger und verliert an Präsenz. Das passierte ja leider auch schon in der Svetlanov-Einspielung von 1966.

Dennoch liegt hier eine sehr subtile und tiefempfundene Version des Stückes vor, die aufnahmetechnisch nicht ganz gelungen ist aber passagenweise sehr hohe Meriten ausweist.

Bei geringeren Lautstärken erreicht der warme Klang beste Ortbarkeit bei einer großen, sehr angenehmen Raumanmutung. Hier gelingt die Staffelung ausgezeichnet, auch in der Tiefe. Auch für impressionistisch-schwebende, glänzende Farbenfülle ist gesorgt. Das Bass-Fundament geht in Ordnung. Im lauten Tutti wird es leider zunehmend halliger und die gebotene Präsenz lässt spürbar nach.

 

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4-5

Igor Golovschin

Moscow Symphony Orchestra

Naxos

1995

24:05

 

Dem früh verstorbenen russischen Dirigenten, übrigens auch Karajan-Preisträger, war es daher nicht vergönnt auch bei uns bekannter zu werden. Er konnte aber immerhin unter anderem einen Scriabin-Zyklus mit den Orchesterwerken und dem Klavierkonzert hinterlassen, der ihm, so wie es uns schien, eine Herzensangelegenheit gewesen sein muss. Die Darstellung mutet sehr bewusst an, ohne dass sie wegen des meist langsamen bis sehr langsamen Tempos schleppend, durchbuchstabiert oder behäbig wirken würde. Alles soll mit deutlicher Artikulation präsentiert werden, was auch hellhörig gelingt. Anders als beispielsweise Boulez werden hier jedoch die schnellen Teile nicht eingeebnet sondern mit der gebührenden Lebendigkeit präsentiert (z.B. Allegro volando). Das Lento gelingt feinfühlig, aber gerade noch so an der Grenze zum Dehnen. Im Moderato wird „der Genuss“ voll ausgekostet, die Dynamik wird hier sehr sanft gehandhabt.  Die Darstellung erhält den Charakter des Miterlebten. Das Delirium, subtil gestaltet, enthält auch die Pein der Wahnvorstellungen. Das Allegro erklingt dann wieder sehr schnell, sodass sich eine wahre Achterbahnfahrt auch der Gefühle ergibt. In den Durchführungen wird sehr viel Struktur gezeigt aber auch, bei stets exaktem Spiel, eindrücklich gestaltet. In der Reprise erklingen die schnellen Teile mitreißend. Diese Einspielung bietet wohl die größten Tempogegensätze überhaupt. Sie bleibt dabei immer sehr deutlich und das Orchester spielt mit großem Einfühlungsvermögen. Die Trompete ist immer gut hörbar, klingt nie penetrant und erscheint immer noch eingebettet in den Gesamtklang. Der Orgeleinsatz lässt etwas zu wünschen übrig. Die Steigerung in der Coda überzeugt. Leider erscheint diese Produktion nicht ganz durchgängig spannend.

Der Klang ist etwas blass geraten, aber sehr klar und gut proportioniert. Er wirkt ausgewogen und nie aufdringlich, mehr auf „Panoramablick“, denn auf hautnahe Präsenz aus. Dynamisch ist sie sehr gut gelungen. Gran Cassa und Tam-Tam kommen bestens zur Geltung.

 

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4-5

Mikael Pletnev

Russian National Orchestra

Pentattone

2014

21:13

 

SACD   In der ein Jahr nach Bluniers Produktion entstandenen Einspielung erfolgte eine recht ähnliche aufnahmetechnische Disposition wie in Bonn. Das Orchester klingt in Moskau noch etwas voller, auch transparent aber nicht so holographisch im Raum aufgestellt.  Auch in Moskau ist die Tiefenstaffelung exzellent. Mit der Folge, dass die Posaunen etwas zu sehr an Präsenz verlieren. Das konnte in der Aufnahme Bluniers geschickt verhindert werden.

Pletnev legt eine von akribischer Notentreue geleitete Lesart vor und seine Tempogestaltung ist durchaus kontrastreich. So mangelt es dem Allegro volando nicht an Drive, es könnte aber schärfer artikuliert werden. Die wonnigen Abschnitte werden durch die warm getönte Tongebung sehr gut herausgestellt. Im „Delirium“ geht die Transparenz und damit die Übersichtlichkeit etwas verloren; so war das von Scriabin unserer Ansicht nach nicht unbedingt gemeint. Das Orchester ist absolut hochkarätig, gerade auch das Blech klingt sonor und klangschön. In den Durchführungen wird das Blech auffallend weit zurückgenommen, was der Verfolgbarkeit der anderen Orchesterstimmen außerordentlich zugute kommt. Das Schlagwerk kommt besonders hellhörig zur Geltung. Wo kann man die Stimme der Celesta so gut verfolgen wie hier? Das ist fast einzigartig, hat aber auch seinen Preis, denn die Durchzugskraft geht mit der Präsenz des Bleches auch verloren und es kann keine Hochspannung mehr erzeugt werden. Stets bleibt der Duktus aber äußerst differenziert. Das Maestoso  klingt von Beginn an mit außerordentlich mächtiger Orgelunterstützung. Bravo. So sollte es sein. Insgesamt gelingt Pletnevs Annäherung an das Werk etwas zu neutral im Ausdruck, sie ist mehr eine akribische Darlegung als ein Erlebnis, wozu die Komposition doch eigentlich einladen sollte. Der Hörer sollte ja den extatischen Zustand beim Hören des Stückes selbst erreichen, zumindest nach der ursprünglichen Absicht des Komponisten.

 

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4-5

Leonid Malyshev

St. Petersburg Festival Orchestra

HDC, Platinum Masters

?

22:49

 

Ganz ähnlich der Einspielung Golovschins oder Kitaenkos schlägt auch Malyshev, über den wir leider nicht viel in Erfahrung bringen konnten, in den langsamen Passagen ein sehr langsames Tempo an. Jedoch gelingt es ihm auch hier (besser als Kitaenko) die Spannung hoch zu halten. Den trägen Charakter zu Beginn stellt er sehr gut dar, das Klima eines schwülen Sommertages stellt sich jedoch nicht ein, dazu sind die Klangfarben zu kühl und das Spiel zu klar. Das Allegro volando wir auch hier (wie bei Golovschin) stark angetrieben, das Lento wieder stark verlangsamt. Die Übergänge gelingen jeweils geschmeidig. Bei con delice (mit Wonne) kann durchaus eine sinnliche Komponente im Spiel beschworen werden. Auch in dieser Aufnahme, bei der man nicht so recht weiß, welches gutes Orchester sich hinter dem Namen  verbirgt, vielleicht auch ein Muckenensemble der besten Sankt Petersburger Orchestermusiker wird Transparenz sehr groß geschrieben. Das Orchester erreicht aber nicht ganz die klangliche Feinheit und Geschlossenheit der gerade zuvor gehörten Philharmoniker aus Bergen. Das Scherzando wirkt überspielt, denn die Trompete reißt hier das Kommando über Gebühr an sich. Der weitere Verlauf stellt sehr zufrieden. Das Maestoso verdient sich ein „grandioso“ als Zusatz. Die Gran Cassa lässt sich selten einmal überhaupt als Einzelstimme ausmachen, was schon was heißen will, ist sie doch das Instrument im Orchester mit der größten Wucht. Hier jedoch wirkt sie endlich wieder mit voller Eruptivkraft. Auch das Glockenspiel kommt gut durch und was für ein herrlicher Bläserchoral! Die Russen scheinen das besonders zu mögen und besonders gut zu können. Das Maestoso klingt geradezu „episch“. Aber: Leider ist gar keine Orgel auszumachen. Das Orchester hat ein „Heimspiel“ und der Dirigent kennt es anscheinend auch aus dem Eff Eff.

Der Klang der äußerst preisgünstig zu erwerbenden Aufnahme ist großräumig und tief gestaffelt, dennoch präsent und recht farbig. Das Blech klingt mitunter etwas zu weit hinten im Raum und könnte etwas präsenter sein, was nicht für das Schlagwerk gilt, denn dieses klingt enorm präsent. Die Trompete klingt nicht so vordergründig wie meist. Der Klang wirkt nie massig, es fehlt ihm aber die letzte Brillanz.

 

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4-5

Dimitri Kitaenko

Bergen Philharmonic Orchestra

Virgin

1990

22:44

 

Auch dem russischen Dirigent scheint das Stück ans Herz gewachsen zu sein, denn er hat es unserer Kenntnis nach mindestens vier Mal eingespielt. Zuerst in Moskau, dann während seiner jeweiligen Zeit als Chefdirigent in Frankfurt (beim HR Sinfonieorchester, damals noch RSO Frankfurt genannt) und beim Bergen PO, die hier als einzige der vier vorlag und dann gerade zuletzt wieder mit dem Gürzenich Orchester Köln. Bereits bei unserem letzten Vergleich (Capriccio espagnol) gefiel das Orchester aus Griegs Geburtsstadt mit außergewöhnlich warm timbrierten, vollen und geschmeidigen Gesamtklang, an dem es nicht viel herumzukritteln gab. Diese schöne Leistung kann es – anscheinend mühelos – mit Scriabin wiederholen. Kitaenkos Lesart des Stückes wirkt im Vergleich, wie es schon häufiger in den letzten Dekaden seines Wirkens zu beobachten war, besonders kenntnisreich und erfahren, aber auch mit auffallend bedächtigen und behutsamen Tempi versehen. Seine nachdrücklichen Phrasierungen beachten die geringen Lautstärken (pp und p) jeweils besonders und geben so, gemeinsam mit den gewählten Tempi auch dem Poème ein besonderes Gewicht. Beim Allegro volando allerdings, immer noch sehr leise  aber auch klar intoniert, kann so  von einem „fliegenden“  Gestus nicht mehr die Rede sein, ist doch zu dieser Fortbewegungsart stets ein gewisses Mindesttempo erforderlich, auch bei leichter und lockerer Phrasierung. Ab Zi. 3 steht dann die Luft gar still, so matt und antriebslos fühlt sich unser Held. Beim Allegro non troppo und seinen „unruhigen“ Hörnern und dem entschlossenen Trompetenthema (dem „Thema der Selbstbehauptung“) geht es dann zunächst einmal mit Macht voran. Das Moderato con delice wirkt bei Kitaenko weniger genießerisch als ein wenig schmachtend. Die Übergänge mögen hier aber fließend sein. Immer wieder erfreut sich der Hörer an der bestechenden Klangkultur des norwegischen Orchesters, hier vielleicht aber auch ein Indiz dafür, dass der weitere Verlauf nicht gerade unter Hochspannung gesetzt wird. Die Spannung fällt auch tatsächlich stark ab, denn unmerklich lässt Kitaenko die Zeit wieder fast stillstehen. Gerade noch rechtzeitig (bevor noch tatsächlich jemand einnickt) intoniert die ebenfalls warm und fast wohlig klingende Trompete neuerlich ihr quartensignalbasiertes „Weck-Auf-Thema“. Auch im anschließenden Allegro dramatico ist Transparenz Trumpf, das ff des Blechs bleibt immer noch angenehm weich. Der  edle Trompetenklang mindert die Penetranz der Fanfaren deutlich. Die Posaunen wirken im Klangbild ziemlich weit zurückgesetzt, was auch ihre kunst- und eigentlich auch druckvollen Eruptionen deutlich abmindert. Der warme Luxusklang kann nicht verhindern, dass die Spannung auch im weiteren Verlauf wieder abfällt. Das Maestoso erklingt gewichtig. Die Orgel kommt sehr gut heraus aus dem Gesamtklang. Das Schlusscrescendo  klingt toll und hat fundamentale Wucht.

Da hat sich im hohen Norden eine echte “Orchesterperle“ entwickelt und Kitaenkos Disposition wirkt souverän. Es besteht in seiner Lesart aber die Gefahr, dass die phasenweise zelebrierte „Trägheit“ unseres Helden hier als kleiner Hauch auch auf den Hörer abfällt und ihn in wohligem Ambiente sanft ermüden lässt.

Der Klang interpretiert hier mit. Er ist angenehm rund und sehr gut gestaffelt und verteilt sich in einem großen Raum, ohne dass die Atmosphäre in Hallige kippen würde. Die edel klingenden Bläser könnten präsenter klingen. Die Dynamik ist breit angelegt. Der Gesamtklang ist etwas sfumatohaft, kleinere Details gehen schon einmal verloren. Ein Scriabin für die, die im Klang baden wollen.

 

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4-5

Zubin Mehta

Los Angeles Philharmonic Orchestra

Decca

1970

19:58

 

Gegenüber der im Vergleich gerade zuvor gehörten Maazel-Einspielung wirkt das Orchester aus Los Angeles überraschend motivierter und mit einem wärmeren Grundton versehen als das Perfektionsensemble aus Cleveland. Maazel und sein Orchester bringen im Gegenzug aber die Details der Partitur erheblich ziselierter und deutlicher heraus. Aber: Auch das Orchester von der Westküste ist bestens präpariert und klingt weich, üppig, brillant und mit besonders schönen, warmen Klangfarben. Die Aufnahme selbst klingt sogar etwas klarer als die spätere aus Cleveland.

Mehta beginnt seine klangvolle Exegese gebührend matt, das Lento sehr sanft (!) und zurückgenommen. Aber auch das Allego volante wirkt etwas zäh. Die Solovioline kann zu Beginn mit den besten nicht ganz mithalten, auch im Lento klingt sie ein wenig wie „gequetscht“. Während das Blech recht präsent klingt, könnten die kurzen Holzbläser- und Streichereinwürfe  klarer klingen, besonders die Basslinie bleibt unterbelichtet. Bei Zi. 8 lässt Mehta die „Füllstimmen“ im Gesamtklang dominieren, während das Holz ziemlich undeutlich bleibt. Eine Interpretation des Deliriums eher für die Spezialisten, die bereits wissen, wie es mit umgekehrter Gewichtung klingt.. Der Zugriff im Allegro dramatico gefällt. Bei Zi. 10 hört man leider kein Tamtam, obwohl ein dickes f dabei steht. Besonders gut gelingt Mehta die Realisierung des vom Komponisten „volupteux“ (d.h. üppig, sinnlich) gewünschten Streicherklangs (beispielsweise 3 nach Zi. 12). Dies war früher ein Markenzeichen des Dirigenten und fiel bereits bei seiner Einspielung der Tschaikowsky-Sinfonien aus L.A. positiv auf. Das komplexe Stimmengeflecht klingt bisweilen etwas ungeordneter als es sein müsste. Trotz nur gerade noch so hörbarer Orgel wird im Maestoso ein glänzender Höhepunkt erreicht. Diese Aufnahme wurde in Ulrich Schreibers „Klassik Auslese“ in den 70ern übrigens als Referenz-Einspielung geführt.

 

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4-5

Lorin Maazel

Cleveland Orchestra

Decca

1978

18:30

 

Der direkte Vergleich mit der Aufnahme Mehtas, den der alphabetisch orientierte Ablauf des Vergleiches mit sich bringt, wurde ja schon vorweggenommen. Die Partitur wird hier vielstimmig zum Klingen gebracht und fein, ja fast penibel ausgehört, aber weniger unter Spannung gesetzt. Alles klingt klar und differenziert. Das Orchester meistert die beträchtlichen Anforderungen mit spielerischer Leichtigkeit und ausgesprochen klangschön. So klingt auch die gebieterische Trompete hier eher mit Leichtigkeit und ohne die besondere harte Attitüde. Der Star des Orchesters sind diesmal die Violinen, die man sich nicht geschmeidiger und strahlkräftiger vorstellen könnte. Die Orgel erhält einen gebührenden Platz im Orchester überstrahlt aber nicht. Es reicht aber, um der Extase einen gewissen religiösen Rahmen zu geben. Maazels Wiedergabe hat auch eine gewisse Eleganz. Die Extase wird zwar glaubhaft, aber etwas widerstandslos erreicht. Auf einem sehr hohen Niveau erzählt diese Produktion die Geschichte unseres Helden nach, während sie beispielsweise bei Svetlanov miterlebt wird.

 

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4

Riccardo Muti

Philadelphia Orchestra

EMI

1990

19:57

 

Auch Muti Darstellung hat ein sehr hohes technisches und orchestrales Niveau. Aus den unterschiedlichen Tempi wird aber nur relativ wenig Spannung gewonnen. Die Übergänge erfolgen fast unmerklich. Ausnehmend schön gelingt Muti und den Cellisten die Passage ab 5 Takte vor Zi. 1, die meistens ungerechtfertigt gegenüber den Holzbläsern zurückstehen muss. Die Akzente erfolgen nur halbherzig (insbesondere wenn man noch Mravinsky im Ohr hat). Bei Muti kommen zwar die Hörner besser zur Geltung aber insgesamt ist die Spannung gegenüber Mravinsky deutlich gemindert. Es läuft eben so durch. Ein ums andere Mal wird man hier an Tschaikowsky erinnert. Die Höhepunkte werden genießerisch ausgekostet, da kann das Orchester mit seinen  „Klangpfunden“ wuchern. Im Maestoso lässt Muti die Orgel wuchtig mitwirken, sie ist prominent herauszuhören. Insgesamt hinterlässt die Darbietung zunächst einen souveränen und brillanten Eindruck, beim genaueren Hinhören wird aber bisweilen etwas unbekümmert über die Besonderheiten des Werkes hinwegmusiziert.

 

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4

Vladimir Ashkenazy

Radiosinfonieorchester Berlin (heute: Deutsches Sinfonieorchester Berlin)

Decca

1990

19:02

 

Ashkenazy legt wie Abbado zu Beginn für einen als matt und träge zu realisierenden Gestus (zur Erinnerung: es geht bei Flöte und Solovioline um die eher brach liegenden Begierden) ein (zu) flottes Tempo vor. Das Solo der Trompete klingt richtig gebieterisch, könnte aber leiser beginnen (bei manchen kommt es sogar aus dem Nichts). Die Tempogestaltung bleibt im weiteren Verlauf auch im flotten Bereich. Das Violinsolo (süß und „streichelnd“) klingt etwas brüchig. Dem Orchester fehlen im Moderato, das an Wonne und Genuss denken lassen soll, etwas die süßen Klangfarben, die die Bostoner und Abbado hier hervorzaubern konnten. Im weiteren Verlauf brillieren die Blechbläser des RSO durchaus, aber es fehlt ein wenig an der Imagination einer(erotisch?) aufgeheizten Atmosphäre, auch hier lag der gerade zuvor gehörte Abbado vorne. Auch erklingen orchestrale Details nicht ganz mit derselben Klarheit wie in Boston. Bei Zi. 8 (presque delire) wirkt der Rhythmus etwas verschliffen, andererseits fehlt im Delirium ja auch der klare Durchblick, was aber hier doch wohl eher am schnellen Tempo liegen mag. Die finale Klangapotheose gelingt mit der Technik der 90er Jahre aber deutlich klarer und mit ungeschmälerter Dynamik als 1970 bei Abbado.

Insgesamt ist diese Produktion nicht so subtil und vielgestaltig wie die des Italieners. Trotzdem wird souverän gespielt und der Gestus ist entschlossen und zupackend.

Der Klang wirkt dunkler timbriert als bei Abbado aber gut aufgefächert und auch in der Tiefe gut gestaffelt. Die Dynamik ist in Ordnung.

 

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4

Thomas Sanderling

London Philharmonic Orchestra

Real Sound

2001

19:20

 

Der auch in Russland lebende und ausgebildete Dirigent reiht sich mit seiner gelungenen Einspielung in die Reihe von Mravinsky, Gergiev und Ashkenazy ein. Eine durchweg „flotte“ Gangart ist ihr eigen. Wie bei den beiden genannten Berufskollegen erstreckt sie sich auch auf die von der Partitur vorgegebenen langsamen Zeitmaße des Stückes, so beispielsweise im Lento oder im trés parfumé lautenden Abschnitt. Das durchweg recht schnelle Tempo behindert etwas sie schwüle, lethargische Gefühlswelt, die den Beginn so charakteristisch klingen lässt. Die Trompete wird erst im späteren Verlauf dominierend. Im Dramatico können die Bläser (insbesondere die Trompeten und Posaunen) des LPO zeigen, was sie drauf haben.  Das Tempestoso gelingt tatsächlich sehr stürmisch. Kleinere Details (z.B. die Stimme des Glockenspiels) gehen leider verloren. Auch der Solovioline fehlt der berückende Schmelz. Die Trompete(n) können sich jedoch mit ihrem gebieterisch-knackigen Spiel jederzeit bestens behaupten, denn zu ihrem Können werden sie auch noch etwas zu prominent mikrofoniert. Aber das mag Geschmacksache sein. Die Leitung des sehr guten Orchesters macht einen sehr kundigen Eindruck.

Zuvor wurde die Aufnahme Ruzickas gehört, die allerdings praller, voller und runder klingt, auch die Räumlichkeit wirkte in Peking großzügiger.

 

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4

Libor Pesek

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon

1985

19:19

 

Der Trompete des Prager Orchesters hört man sehr gerne zu. Wie schon bei Stokowski klingt sie sogleich durchdringend, mächtig gebieterisch aber auch musikalisch und vollmundig. Auftrumpfend in Gehabe und Klang sowieso. Sie lässt an ihrer zentralen Rolle in der Komposition als der große Motivator von Beginn an keinen Zweifel. Immer wieder scheint es, als treibe sie das musikalische Geschehen voran. Trotz des relativ schnellen Tempos wirkt der Gestus zu Beginn aber eher schwer und gedrückt. Überhaupt gelingen in dieser Einspielung die matten und schmachtenden Passagen oder die im Delirium besser als die entschlossenen, wilden oder „fliegenden“. Diese könnten nämlich lebendiger bzw. leichter dargestellt werden, mitunter klingt es etwas flügellahm und nivelliert. Stokowski fand da einen inspirierteren Zugang und konnte das Orchester mehr dazu motivieren, das Beste zu geben.  Die Trompeten entwickeln aber eine ungeheuere Strahlkraft, was zumeist auch für die Posaunen gilt. Immer wieder finden wir im Hörprotokoll den Hinweis: Sonderlob für Trompeten und die Solotrompete nicht vergessen. Ab Tragico und tempestuoso steigert sich der Gestus deutlich hin zum zugespitzt-dramatischen. In den vorantreibenden Momenten entwickelt die Einspielung dann doch hohe Sogkraft. Der Klang des Bleches ist dabei schneidig, eruptiv und dynamisch. Leider werden die exzellenten Prager Hörner akustisch viel zu weit in den Hintergrund versetzt. So können sie ihrer Bedeutung nicht gerecht werden. Im Maestoso hört man die in den Gesamtklang integrierte Orgel gerade noch so. Das exzellente Blech richtet es aber. Das übrige Orchester kann mit dieser Glanzleistung dieses Mal nicht ganz mithalten.

Leider ist die Technik mit dem Stück etwas überfordert, ab fff wirkt der Klang abgeregelt und wenig dynamisch. Zudem ist das Klangbild leicht aufgeraut, vor allem bei den Violinen. Im Tutti verliert das Klangbild an Durchzeichnung. Wir vernehmen ein leicht schreiendes ff. Die Klangtechnik raubt der Produktion die durchschlagende Finalwirkung, umso bedauerlicher angesichts der herausragenden „Performance“ der Solotrompete und ihrer Gefolgschaft.

 

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4

Leopold Stokowski

Royal Philharmonic Orchestra, London

BBC Legends

1969  LIVE

18:15

 

Auch mit 87 gelingt dem musikalisch jung gebliebenen Dirigenten eine temperamentvolle Live-Aufführung. Leider war die Aufnahmedisposition weniger glücklich als ein Jahr zuvor bei der Svetlanov-Sternstunde. Die Aufnahme macht das Orchesterspiel pauschaler, als es wahrscheinlich tatsächlich war. Das Poème war hier übrigens Teil eine „bunten“, eher populären Programms russischer Komponisten. Schon daran kann man erkennen, dass Stokowski es dem Publikum unbedingt näher bringen wollte. Die Tempi sind jugendlich-flott! Leider gehen Teile der Partitur im jugendlich wirkenden Furor sang- und klanglos unter. Die Durchführung erklingt ausgesprochen kämpferisch. Hier werden keine „Gefangenen“ gemacht.  Das Maestoso wird super gesteigert und auch hier wieder flott durchgezogen. Die Orgel wird ausgezeichnet hörbar gemacht und klingt auch profund. Der Applaus war tosend, aber auch an ihm ist der Unterschied einer bloß jugendlich-flotten vollauf gelungenen Darbietung und einer echten Sternstunde, wie bei Svetlanov, deutlich abzulesen. Im Gegensatz zur Houstoner Aufnahme lässt sich der Maestro diesmal nicht „lumpen“ und lässt die Gran Cassa auch die letzten vier Takte noch kräftig mitwirbeln, obwohl sie laut Partitur da schon Feierabend hätte. Wir haben es bereits erwartet. In Houston galt es der Nachwelt, in London wurde für das Live-Publikum musiziert, da schaut doch keiner in die Partitur! Die Prager Aufnahme war dann eine ganz besondere Zugabe mit der man schon nicht mehr rechnen durfte.

Der Klang ist sehr präsent ausgefallen, könnte aber voller und farbiger klingen, immerhin durften wir aber schon Stereo-Klang genießen. Von Körperhaftigkeit kann keine Rede sein, die Instrumente klingen ziemlich flach. Es fehlt auch an Brillanz und die Auffächerung des Orchesters könnte präziser sein. Der Dynamik mangelt es am richtigen p und lässt das Spiel vergröbern.

 

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4

Pierre Monteux

Boston Symphony Orchestra

RCA

1952

18:48

 

MONO   Obwohl gegenüber der Koussevitzky-Aufnahme, ebenfalls mit dem BSO, nur sechs Jahre ins Land gegangen sind, wirkt Monteuxs Aufnahme erheblich hellhöriger und differenzierter. Die Solo-Violine spielt nun ohne den zeitbedingten Schleifer und klingt auch viel besser. Beim Allegro volando bleibt das Tempo nur mäßig, da kommt nichts ins Fliegen. Die Hörner sind um entscheidendes präsenter. Die Trompete irritiert mit reichlich Vibrato, immer wenn von ihr eine dolce verlangt wird. Das „Thema der Selbstbehauptung“ klingt auf diese Art für heutige Ohren ziemlich schauerlich. Das haben wir so sonst auch nicht so gehört. Das „Delirium“ gelingt sehr anschaulich, genau wie das Tragico.

Gegenüber Koussevitzky wirkt der Klang desselben Orchesters viel heller und dynamischer, geradezu Licht durchflutet. Er ist offen und präsent, fast wie bei einer moderneren Aufnahme. Das Spiel wirkt erheblich geordneter als bei Koussevitzky. Trotzdem bleiben noch einige Nebenstimmen auf der Strecke.

 

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4

Paul Kletzki

Orchestre National de I´ORTF, Paris

INA

1955  LIVE

18:20

 

MONO   Wie viele andere Dirigenten der älteren Generation schlägt auch Paul Kletzki sehr zügige Tempi an. Und wie bei den meisten historischen Aufnahmen fallen auch hier viele Details der noch unzulänglichen Technik zum Opfer. Das zweite Phänomen ist auch hier, dass der Hörer kaum einmal in den Genuss eines richtigen p kommt. Die dynamische Skala fängt erst beim mf an. Trotzdem gelingt es dem erfahrenen Dirigenten gekonnt, die drückende, schwüle Atmosphäre der Mattigkeit zu evozieren. In ruhigeren Passagen, in denen der Stimmenaufbau nicht gar so komplex ist, erklingt der Orchestersatz mitunter erstaunlich vielschichtig. Die Trompete erweist sich als höhensicher und überhaupt erweist sich das Orchester als ziemlich sattelfest. Wir hatten es seit der Live-Aufnahme von Janaceks Sinfonietta unter Jascha Horenstein schon ganz anders in Erinnerung. Dieser Mitschnitt mit dem gestrengen Kletzki gefällt auch heute noch besonders durch die Stringenz und den spannenden, soghaften Zug, den der Meister entfacht. Bei einem so klangsensualistischen Werk kann die klangliche Seite der Einspielung jedoch heute nicht mehr überzeugen. Auch die Tatsache, dass einfach ein Teil der Partitur nicht hörbar wird, braucht der Musikfreund angesichts mannigfacher Alternativen nicht mehr hinzunehmen. Der Umgang des Dirigenten mit dem Werk ist aber aller Ehren wert.

Dem Klang fehlen an den entscheidenden Stellen die dynamischen Reserven, das Klangbild ist hinreichend klar und erstaunlich farbig, jedoch nur durchschnittlich transparent.

 

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3-4

Daniel Barenboim

Orchestre de Paris

Erato

1986

19:50

 

Barenboims Beitrag zur Diskographie des Werkes hat mit den geringsten Aufsprechpegel. Damit sich überhaupt ein schönes Orchesterhalbrund eröffnet, muss der Pegel also deutlich erhöht werden. Dennoch fallen die solistischen Beiträge weniger profiliert aus als bei den zuvor gehörten Abbado und Ashkenazy. Die Spielanweisung bei Zi. 3 molto languido (sehr matt, schwach, schmachtend) lässt sich bei Barenboim auch ohne weiteres auf das folgende Allegro non troppo übertragen. Es wird so gut wie gar nicht differenziert. Beim ersten Horneinsatz mit dem „Thema der Unruhe“ lässt sich der Zusatz inqueto (unruhig) nicht verifizieren. Da fehlt die unmittelbare Brisanz. Der dramatische Ablauf bis zum Allegro dramatico erfolgt wie taktweise gelesen und im Gestus eines vorsichtigen Vorantastens. Man hat das Gefühl, dass die Orchestergruppen ihre Motive spielen, ohne sie in Beziehung zu den Mitspielern zu setzen (wenig Interaktion). Es wird auch kein großer Bogen gespannt. Der dramatische Zug fehlt weitgehend. Das Allegro volando klingt überzeugender, aber alles hat eine leicht wabernde Note. Dem Klang fehlt etwas die Tiefenschärfe, auch die Präsenz könnte besser sein. Das Orchester wirkt leicht zurückgesetzt. Die Polyphonie und die Polyrhythmik bleiben so etwas unterbelichtet. Die Dynamikspitzen wirken abgeflacht. Im Ganzen erscheint das Werk eher wie ein harmloser Spaziergang, als aus dem Existenziellen herkommend oder gar existenziell berührend. Die Schlussextase leidet zudem auch noch am leicht unpräzisen Zusammenspiel. Die Strukturen wirken eher impressionistisch-schemenhaft, wie in ein Sfumato gehüllt.

 

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3-4

Leif Segerstam

Royal Stockholm Phiharmonic Orchestra

BIS

1991

24:41

 

Segerstam übertrifft sogar noch Golovschins Aufnahme zumindest was die rein zeitlich betrachtet. Sie ist die langsamste Einspielung von allen und fühlt sich auch genauso an. Bei Golovschin gab es große Kontraste bei den Tempi und im Ausdruck. Bei Segerstam sind diese extrem nivelliert. Die Bedächtigkeit, Mattigkeit und Trägheit erfährt man bei ihm im Superlativ. Sie wirken wie zelebriert. Segerstam ist den Lento-Teilen sehr viel mehr zugeneigt und verschmäht die lebendigeren Abschnitte geradezu. Verkehrte Welt, wenn man von Mravinskys Lesart herkommt. Segerstam legt also eine der wenigen extremen, ja einseitigen Auslegungen des Werkes vor. Vielleicht wollte er auch eine gewisse Zeitlosigkeit, in der sich unser Held befindet, darstellen, denn tatsächlich bewegt sich die Interpretation oft am Rande zum Stillstand. Teilweise wirkt der Duktus aber auch wie durchbuchstabiert, da fällt dann auch beim letzten Hörer die Spannung ab. Die Stimmen erscheinen aber oft als feines, zartes Gespinst. Das Orchester macht dabei einen sehr solide vorbereiteten und klanglich vorzüglichen Eindruck. Der Delirium-Abschnitt kommt ohne Wahnvorstellungen aus. Oft wirken die Dynamik lasch und die Akzente eher flau. Die Hörner klingen zu wenig profiliert. Die Durchführung wirkt wiederum zelebriert, sie kommt fast ganz ohne kämpferische Dynamik aus. Insgesamt wirkt Segerstams Darlegung aber trotzdem in sich konsequent. Auch ein gewisses Engagement ist ihm darin nicht abzusprechen. Denn alles geschieht offensichtlich aus voller Überzeugung. Er nimmt anscheinend die Poetischen Aspekte in dem Stück wichtiger als die anderen und ordnet ihr die immanente musikalische Dramatik völlig unter. Das Maestoso wird sehr breit gestaltet, mit schierer Gewalt aber trotzdem mit kultiviertem Klang. Eine Darstellung mit einer gewissen Alleinstellung.

Die Aufnahme unterstützt die Darstellung des Werkes durch den Dirigenten nach Kräften. Der Hörer bekommt eine fein gezeichnete Panoramasicht über das Orchester, anspringende Präsenz fehlt, besonders die Bläser sind weit weg. Der Klang vermeidet alles Grelle und ist weich und pastellfarben.

 

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3-4

Eliahu Inbal

RSO Frankfurt (heute HR Sinfonieorchester)

Philips

1980

18:12

 

Wenn wir die Laufzeit der LP-Seite nicht selbst gemessen hätten, hätten wir sie wahrscheinlich nicht geglaubt. Inbals Lesart wirkt jedenfalls keinesfalls wie die schnellste von allen. Dazu fehlen ihr Biss und Dramatik in den schnellen Abschnitten und die langsamen Partien, die durchaus sanft und dynamisch differenziert gestaltet werden, wirken mitunter gar etwas behäbig. Die Soli wirken teilweise etwas aufgeregt (z.B. das „Sehnsuchtsthema“ in der Oboe), teilweise durchaus gelungen (Violine). Generell macht das Orchester einen gut trainierten und über weite Strecken auch klangschönen Eindruck. Aber es steht nicht über den Dingen, wie viele andere in dem Vergleich. Gerne hätten wie einmal den direkten Vergleich mit der Aufnahme Kitaenkos mit demselben Orchester gehört. Die Durchführung wirkt hier weniger zugespitzt, das Allego volando könnte viel mehr „fliegen“. An Svetlanov darf man hier nicht nur bei diesen beiden Beispielen gar erst nicht denken. Die Tempogegensätze wirken weit weniger ausgereizt als es die Spielzeit suggeriert. Die Hörner kommen zu leise und zurückhaltend ins „Bild“. Die abschließende Extase bleibt allzu wohltemperiert oder besser „wohlgesittet“. Der gebotene Orchesterrausch bleibt zwar durchhörbar (was schon ein Verdienst ist) aber viel zu brav. Bei Inbal vermisst man generell auch etwas Belebtheit in der Darstellung.

Das abgerundete Klangbild bietet eine gute Differenzierung in Breite und Tiefe und weiche Klangfarben.

 

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3-4

Pierre Boulez

Chicago Symphony Orchestra

DG

1998

21:57

 

Gerade nach Stefan Bluniers Einspielung gehört, hatte die Produktion Pierre Boulez´ einen schweren Stand. Sofort fiel der kaum spürbare Gegensatz vom „träge“ anzustimmenden Andante und zum „fliegenden“ Allegro auf. Volante heißt nicht behäbig, was selbstverständlich auch Pierre Boulez weiß. Trotzdem wurde es nicht beherzigt. Es fehlt auch ganz einfach am frischen, zupackenden Gestus, den Blunier hier so schön offenlegt. Auch das Allegro non troppo, mit eigentlich guten Hörnern und Trompeten, zeigt bereits deliriumhafte Züge und spinnt die Trägheit nur weiter. Beim Moderato con delice vermissen wir den Versuch eine sinnlichere Tongebung zu realisieren wie im Notentext zuvor. Auch das Allegro dramatico versandet in träger Unlustbarkeit. Im weiteren Verlauf erreicht auch die in diesem Orchester zumeist besonders profilierte Trompete - durch das emotionslose Tempo bedingt - nie den „herrischen“ Impetus, den ihr Vortrag auszeichnen sollte. Im Tutti gehen ziemlich viele Stimmen verloren (z.B. die des Glockenspiels), sodass das Orchester nicht gänzlich durchgezeichnet erscheint. Angesichts des fortgeschrittenen Aufnahmedatums rieben wir uns verwundert die Ohren. Auch in der Reprise ändert sich nicht viel. Das Allego volando bleibt erneut wie statisch. An den drängenden, dynamischen Höhepunkten, denen es nicht an Lautstärke mangelt, wirkt das Orchester vom Gestus her viel zu passiv. Es mangelt an echtem Einsatz, wie gesagt insbesondere gerade nach der Blunier-Aufnahme. Es fehlt jeder Überschwang. An Extase gar lässt in dieser Aufnahme nicht viel denken. Vielleicht zu viel technokratische Planung, vielleicht zu wenig sinnliche „Fleischeslust“. Auch das Scherzando bleibt müde. Die monumental klingende Apotheose ab Zi. 38 überzeugt zwar mit orchestraler Prachtentfaltung, wirkt aber seltsam blass, vielleicht weil sie nicht durch das Vorangegangene erkämpft wurde. Wir hörten in Boulez´ Einspielung mehr Enthaltsamkeit als Extase. Der Dirigent scheint sich nicht gänzlich auf die Komplexität der Partitur eingestellt zu haben, nur so lässt sich der fast steril wirkende, wenig plastische und wenig lebendige Eindruck erklären. Die zahlreichen Tempomodifikationen interessieren ihn ebenfalls kaum. Vom Apologeten der Moderne hatten wir mehr erwartet.

Der Klang der Einspielung ist eigentlich transparent und dynamisch, klangfarbenreich, gut gestaffelt und auch mit einem ganz guten Bassfundament versehen. Aus den technischen Möglichkeiten und den Fähigkeiten des Orchesters wäre sicher mehr herauszuholen gewesen.

 

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3-4

Serge Koussevitzky

Boston Symphony Orchestra

RCA-History

1946  LIVE

21:04

 

MONO   Koussevitzkys Aufnahme erscheint uns heute nur noch von historischem Interesse. Die Klangqualität verhindert ein tieferes Eindringen in die Fülle des Werkes. Es fehlt ihr an jeglichem Wohllaut, sie klingt mulmig und ohne jede fühlbare Dynamik. Weite Teile des Instrumentariums sind teilweise oder gänzlich unhörbar, so das Schlagwerk, die Streicher, die Holzbläser und die Harfe. Auch die finale Orgel scheint nicht bespielt worden zu sein. Was man hört ist eine erstaunlich genaue Artikulation, das Ernstnehmen der „leisen“ Vortragszeichen (wiewohl es trotzdem laut klingt, spürt der Hörer doch die  gelungenen spieltechnischen Maßnahmen) und auch die Diversifizierung der Tempi. Das Violinsolo schleift seine Intervalle bisweilen noch hollywoodfilmschnulzenähnlich an. Koussevitzky fehlt es auch nicht am Temperament, er ist sehr um die Charakerisierung der einzelnen Abschnitte bemüht. Die schnellen Tempi entwickeln eine gewisse Sogkraft. Die Trompete spielt arg zurückhaltend. Die Extase wirkt ohne die erforderliche Dynamik stark gehemmt. Das Publikum war sehr diszipliniert, der Applaus wurde komplett und sehr unsanft weggeschnitten. Interpretation und Klang mussten rechnerisch gemittelt werden. Ansonsten wäre Koussevitzky wahrscheinlich vor der 4 zu platzieren gewesen.

 

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3

Leopold Stokowski

Philadelphia Orchestra

Victor-Andante

1932

17:40

 

MONO   Vielleicht durch die ehemals erforderlichen vielen Plattenseiten der alten Schellack-Produktion, die nötig waren um das Stück in Gänze zu konservieren, sind immer mal wieder einzelne Taktsequenzen verloren gegangen. Die Kürzungen sind jeweils so kurz und an dramaturgisch unsinnigen Stellen erfolgt, dass sie wahrscheinlich nicht absichtlich geschahen. Der Bearbeiter und Arrangeur Stokowski hat hier unserer Ansicht nicht Hand angelegt. Aus heutiger Sicht wirkt das so nur unvollständige Werk dadurch aber ziemlich zerstückelt. Die Klangqualität tut ihr übriges, um von Stokowskis ältester Einspielung abzuraten. Sie klingt, fast erwartungsgemäß, noch schlechter als die Koussevitzkis. Es kommt auch noch ein vordergründiges, sehr starkes Rauschen hinzu. Die Dynamik ist extrem nivelliert. Der Klang lässt das Stück fast zu einer Karikatur werden und macht das Hören zu einer nervigen Geduldsprobe. Die gekürzte Durchführung verpufft völlig, zeitweise herrscht zumindest für unsere Ohren ein arges Durcheinander der Stimmen im Orchester. Die Violinen klingen bisweilen schauerlich, die Orgel fehlt gänzlich. Die Extase kann so auch nicht ansatzweise erfahrbar werden. Hier steigert sich vornehmlich das Verlangen, dem Ganzen vorzeitig ein Ende zu setzen. Die anderen Aufnahmen Stokowskis sind deutlich vorzuziehen, es gibt ja genug davon.

 

 

 

Vergleich fertigestellt am 27.11.2021