Alexander Borodin
Eine Steppenskizze aus Mittelasien
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Werkhintergrund:
Borodin gehörte zu einem Kreis von Komponisten, die sich die Schaffung einer russischen Nationalmusik unter Lossagung von Stil- und Formprinzipien der westeuropäischen Musik zum Ziel gesetzt hat.
Er komponierte dieses Orchesterwerk 1880 zum 25. Jahrestag der Regierung von Zar Alexander den II. im Auftrag der Regierung und widmete es dem Komponisten Franz Liszt, der ihm Vorbild war. Dieser Zar hat Turkestan, ein Gebiet in Mittelasien, annektiert und dem Russischen Reich einverleibt.
Das Werk ist ein typisches Beispiel für Programmmusik. Borodin gab ihm folgendes ausformuliertes Programm, das auch der uns vorliegenden Taschenpartitur (Eulenburg Nr. 833) des Werkes zu lesen ist:
„In der einförmigen Steppe Mittel-Asiens erklingen die bisher fremden Töne eines friedlichen russischen Liedes. Aus der Ferne vernimmt man das Getrappel von Pferden und Kamelen und den eigentümlichen Klang einer morgenländischen Weise. Eine einheimische Karawane nähert sich. Unter dem Schutz der russischen Waffen zieht sie sicher und sorglos ihren weiten Weg durch die unermessliche Wüste. Weiter und weiter entfernt sie sich. Das Lied der Russen und die Weise der Asiaten verbinden sich zu einer gemeinsamen Harmonie, deren Widerhall sich nach und nach in den Lüften der Steppe verliert.“
Das Stück besteht im Wesentlichen aus vier musikalischen Bausteinen, die folgendermaßen charakterisiert werden:
- Endlose Weite der Steppe
- Russisches Lied
- Getrappel (der Karawane und der Pferdehufe)
- Orientalische Weise
Mit einem sehr hohen, langen und leise klingenden Diskant-Ton der Violinen, der die endlose Weite der Steppe charakterisiert (mit etwas Fantasie und je nach Einspielung kann man auch die Hitze dort spüren und die Luft flirren sehen), erklingt das Russische Lied zunächst durch die Klarinette, dann durch das Horn. Anschließend ertönt Getrappel durch gezupfte Streicher zusammen mit der Endlosen Weite der Steppe, und das Englischhorn trägt in zarter Tongebung Die orientalische Weise vor. Borodin verknüpft auch im weiteren Verlauf bis zu drei musikalische Bausteine gleichzeitig miteinander. Ausnahme bildet die Darstellung des Russischen Liedes durch das ganze Orchester in der Mitte des Stückes, um hier den „Schutz der russischen Waffen“ zu symbolisieren.
Nach Hubert Wißkirchen (in seinem Buch „Didaktische Analyse“) identifiziert sich Borodin „mit dem Bewusstsein der Russen, eine Ordnungsmacht zu sein. Das verbindet ihn mit (fast) allen Russen, nicht nur mit Slawisten, sondern auch mit den Zaristen, wahrscheinlich auch den Westlern.“ Wie Wißkirchen feststellt, ist das russische Thema dominant: „Es erscheint am Anfang und am Schluss, es kommt aus dem Steppenton und ‚entschwebt‘ am Schluss wieder in ihn: Die Steppe, der laut Programm der russische Ton bisher fremd ist, wird sozusagen „russifiziert“. Der gleiche Gedanke artikuliert sich in den imitatorisch verschachtelten Themenfragmenten gegen Schluss, die den ‚Nachhall‘ des russischen Liedes in der Steppe darstellen. In der Mitte des Stückes tritt entsprechend dem ursprünglichen Programm (‚schreckliche Kriegsmacht‘) – wirkungsvoll inszeniert durch das plötzliche ff, die massive Klanggestaltung, die im Sinne einer Hymne kompakte Ausharmonisierung (die schon in den vorhergehenden Themenauftritten begann), die ‚programmwidrige‘ Ausblendung des Ambientes (Getrappel, Steppentöne) und die harmonische Rückung von Es nach C – das Russenthema ganz martialisch auf. (Die zarte Verschmelzung dieses Themas mit dem Steppenton am Schluss stellt sozusagen die Verinnerlichung dieses politischen Anspruchs dar.) Übrigens verzichtet Borodin zugunsten dieser effektvollen Inszenierung auf eine vom Programm her naheliegende Perspektivendynamik. Er schreibt also keine Programmmusik im eigentlichen Sinne, sondern ein poetisches Gemälde mit deutlich artikulierter politischer Aussage. Das orientalische Thema erscheint zwar auch relativ häufig, wird aber im zweiten Teil zunehmend durch die Instrumentation und die chromatisierte Harmonik europäisiert.“ (Zitat entnommen aus Wikipedia.)
Wenn diese politische Interpretation des Stückes glaubhaft realisiert werden soll, ist es wichtig, dass das plötzliche ff in der Mitte des Stückes auch so intensiv dargestellt wird, dass von ihm Gewalt und Schrecken ausgeht. Bei vielen Darbietungen fehlt es hier jedoch an Intensität, sodass sich nur schwierig ein Machtanspruch hineininterpretieren lässt. So erscheint es nicht unbedingt gesichert, dass die Dirigenten bei ihrer Beschäftigung mit dem Stück eine „politische“ Interpretation des Stückes im Sinn hatten. Unterschiedlich starke Annäherungen daran können jedoch durchaus herausgehört werden.
Aber auch sonst ist dieses Werk nicht einfach auf Tonträger zu realisieren, so haben vor allem die älteren noch analogen Aufnahmen (50er und 60er Jahre) damit zu kämpfen, dass ein ppp oder pp nicht überzeugend wiedergegeben werden konnte. Es wäre ja auch auf dem damaligen Tonträger, der LP, im Band- und vor allem im Rillenrauschen und der oft mangelhaften Pressqualität untergegangen. So beginnt man hier schon im mf, was auch den Kontrast zum wiederum aufnahmetechnisch eingeschränkten ff merklich einschränkt. Auf den Editionen dieser Analogaufnahmen auf CD sind diese Eigenschaften nach wie vor hörbar. Spätere Aufnahmen der Digitalära habe es hier spürbar leichter.
Schwierig für die Solisten der Holzbläser und der Horngruppe ist es auch, in dem grenzwertig leisen Klangraum ihre Soli auch leise und trotzdem klangschön und ausdrucksvoll (cantabile) hinzubekommen. Das gilt für die Oboen, das hier besonders wichtige Englischhorn und insbesondere auch für die Hörner. Hier kommt es auf das individuelle Können der Instrumentalisten an. Es wird bisweilen im vollen Selbstbewusstsein auf ein gesundes mf zurückgegriffen.
Eine weitere Herausforderung ist es, in den Passagen, in denen sich die Themen überlagern alle entsprechend ihrer eigenständigen Bedeutung hörbar zu machen. Ganz untergehen darf hier keines, wiewohl die unterschiedliche Gewichtung durchaus Teil der Interpretation sein könnte. Selbst bei einer bewussten Verschmelzung von russischem und orientalischem Thema (Assimilation der Kulturen) müssen beide noch identifizierbar sein.
Auffallend im Hörvergleich war auch der unterschiedliche Gebrauch von Tempomodifikationen: Es ist nur ein Tempo für das ganze Stück vorgegeben (Allegro con moto; die Viertel Note = 92). Manche Dirigenten lassen es aber im Verlauf (besonders wenn die Themen im Vordergrund stehen) merklich verlangsamen und beschleunigen dann wieder, wie bei einer Berg- und Talfahrt, nach dem Motto „meine“ Steppe ist kein Flachland sondern eine Hügellandschaft.
Überhaupt ist die Temponahme der Metronomangabe zum trotz unter den Vergleichsaufnahmen ziemlich divergent, was nicht ohne Auswirkung auf den Ausdrucksgehalt bleibt. Es gibt dabei zwei Lager: Die Dirigenten der russischen Schule (einschl. Sanderling, und seltsamerweise auch Salonen) bevorzugen breite Tempi jenseits der Metronomangabe, während die diesseits des ehemaligen eisernen Vorgangs (einschl. Fricsay) sich der Metronomangabe mehr oder weniger nah annähern.
zusammengestellt bis 4.9.2019

Alexander Borodin vor 1865
Rezensionen der gehörten Einspielungen:
5
Kurt Sanderling
Staatskapelle Dresden
Eterna, auch DG
1960
8:05
eigentlich zu langsam, trotzdem intensivste Darstellung, Dynamikspektrum im Ganzen zum Lauten hin verschoben (hoher Aufsprechpegel), mit starken dramatisch motivierten Tempomodifikationen, ff-Stelle wird zum brutalen Hymnus der alles niederwalzt mit nachfolgender Unterwerfung, hervorragender Analogklang mit breit ausladender Räumlichkeit, Orchesterqualität sehr ansprechend: Eine extreme, auch extrem motivierte tiefernste Darstellung, die den politischem Hintergrund glaubhaft macht.
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5
Valery Gergiev
Kirov Orchestra
Philips
2001
7:54
Die Steppe klingt zu Beginn nicht dürr sondern weich und voll, recht langsame aber nie schwerfällige und flexible Temponahme, sehr großer dynamischer Ambitus, herausragend klangschöne Soli (auch im pp) mit leuchtendem Klang, trotz Hall ausgezeichneter, räumlicher Klang, der sich von den Bässen her aufbaut, ff-Stelle intensiv aber nicht zugespitzt brutal, danach jedoch orientalisches Thema in den Celli Herz zerreißend elegisch: Ein exzellentes Orchester im Dienst der dramatischen Aussage, das auch die leisen Stellen sehr gut umsetzt.
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4-5
Jos van Immerseel
Anima Eterna
ZigZag
2004
6:49
Ziemlich partiturnahe Tempowahl, dynamisch sehr zurückgenommen, Soli sehr gut realisiert, vor allem auch zurückhaltende Hörner, ff nicht besonders bedrohlich, das politische Potential wirkt nur angedeutet, hohe Orchesterkultur, transparente Aufnahme in Pastellfarben, die den Ausdrucksgehalt gut trifft ohne zu übertreiben
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4-5
Vladimir Fedoseyev
Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks
Silenzio (P)1991
8:08
Vorbildliche dynamische Gestaltung sowohl der Gesamtanlage als auch der Soli, bis auf das bedächtige Grundtempo sehr partiturgenau, wenig Tempomodifikationen, ff etwas abgeschwächt, eher ein feierlicher Hymnus, ausdrucksvoller erzählerischer Duktus, das Entschwinden am Schluss sehr bildhaft umgesetzt: Eine „lyrische“ Aufnahme, die die Musik sprechen lässt, der es nicht an Bildhaftigkeit mangelt, nur etwas an opulenter Klangfülle
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4-5
Loris Tjeknavorian
National Philharmonic Orchestra
RCA
1977
8:09
gut herausgearbeiteter melancholischer, Gesamtcharakter, das Londoner adhoc-Orchester ist sehr gut besetzt, klangschöne räumliche Aufnahme, kontrastreiche ff-Stelle, Celli mit sehr ausdrucksvollem Cantabile, stellenweise inbrünstig
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4-5
André Cluytens
Philharmonia Orchestra London
EMI
1958
6:43
Metronomangabe eingehalten, vitale russische Reiterschaft, beschwingte Karawane, partiturgenaue, zurückhaltende aber klanglich dünne und z.T. hart geblasene Soli, saubere, für die Zeit sehr transparente und dynamisch erstaunlich gut differenzierte Aufnahme, ff stark und siegesgewiss: Eine vitale Tondichtung, die keine Zeit hat, zu verweilen.
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4-5
Leonard Bernstein
New York Philharmonic
CBS-Sony
1969
7:28
Steppe wirkt unangenehm schneidend, als ob es sehr heiß wäre, Lautstärkeniveau zum Lauten hin verschoben, ziemlich tempokonstant, Soli mit großem Ton, Hörner mit Mühe sich zurückzuhalten, Karawane ist nicht erschöpft, sondern erscheint „gut im Futter“, ff strahlend und siegesgewiss, aber auch das orientalische Thema zeigt danach eher Zuversicht als Depression nach erfahrenen Knute: Eine atmosphärisch gut gelungene kraftvolle Darstellung in präsentem Klang, die immer nach vorne blickt, der aber der letzte orchestrale Feinschliff fehlt.
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4-5
Artur Fiedler
Boston Pops
RCA
1958
7:42
Klangvollere und feinere Soli als beim NYPO, dem Rubato nicht abgeneigt, leichte Tempomodifikationen, ff nicht so eindrücklich und bestimmt, Cellokantilene wirkt optimistischer als sonst, insgesamt ausgezeichneter weicher Klang, für das Aufnahmedatum verblüffend. Eine insgesamt positiv wirkende Version, die orchestral und klanglich zu glänzen vermag, die die Extreme auch im Ausdruck meidet.
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4-5
Ole Schmidt
Royal Philharmonic Orchestra London
Membran
1995
7:09
Eine schön gespielte in den Soli differenziert herausgearbeitete Wiedergabe, die auch transparent aufgenommen wurde. Sie ist tempokonstant und stellt das Werk ohne besondere Zutaten auf eine sympathisch zurückhaltende Art dar. Eine „runde“ Sache, bei der lediglich das Konfliktpotential nicht ganz ausgespielt erscheint.
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4-5
George Prêtre
Royal Philharmonic Orchestra London
Erato
1962
5:53
Die russische Kavallerie und die Karawane begegnen sich im Schnellzugtempo, das Allegretto wird wörtlich genommen, die Metronom-Angaben stellenweise sogar überboten, Soli sehr diszipliniert und so expressiv, wie es das Tempo noch zulässt, ff wird stark herausgestellt, aber auch danach keine Zeit zu Verweilen, es geht im Eiltempo weiter: Eine „sportliche“ Variante, die ich sich stimmig ist, die aber die Weite der Steppe nur wenig zur Geltung bringt und stellenweise etwas nervös wirkt.
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4
Vladimir Ashkenazy
Royal Philharmonic Orchestra London
Decca
1993
7:13
Eine recht partiturnahe Wiedergabe, die zügig aber trotzdem durchaus prägnant vorbeizieht, die aber im entscheidenden ff abgemildert und fast schon läppisch wirkt, damit auch ein wenig oberflächlich erscheint.
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4
Vladimir Fedoseyev
Großes Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks
Melodia-Zyx
1981
7:02
Gegenüber der neueren Aufnahme zwar zügiger aber auch sorgloser und weniger intensiv gespielt, räumlich deutlich eingeengt, Bläsersoli etwas ungehobelt, insgesamt nur noch solide, zudem in den Klangfarben leicht verfärbt.
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4
Ferenc Fricsay
RIAS Sinfonieorchester Berlin
DG
1952
6:17
Streng, exakt und durchgehend im vorgegebenen Metrum bleibend, jede Modifikation meidend, im Monoklang geht zwar kein Detail verloren, aber es stellt sich auch keine Imagination der Weite ein. Bässe erstaunlich präsent, Stimmen untereinander sehr ausgewogen: Eine objektive Darstellung auf hohem Niveau, die durch den kargen Klang aber an Stimmung einbüßt und insgesamt sehr nüchtern wirkt.
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4
Neeme Järvi
Göteborg Symphony Orchestra
DG
1987
7:27
Dynamisch gute, zügige und recht unbeschwerte Darstellung mit gutem Klang. Anfangs exakt 92 Schläge das Viertel, dann aber mit vielen Tempomodifikationen, ff zeigt einschüchternde Wirkung schickt aber auch das Tempo auf Achterbahnfahrt: Eine Aufnahme mit guten Ansätzen, die aber nur verwässert ankommen und insgesamt dann doch harmlos erscheint.
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3-4
Jean Fournet
Concertgebouw-Orchester Amsterdam
Philips
1961
8:26
Tempo erscheint träge und imaginiert weder die Weite noch die brütende Hitze, Soli allesamt zu laut und wenig klangschön, nicht vergleichbar mit den Qualitäten des späteren COA, ohne Feinschliff, ff massiv und einschüchternd, der entschwindende Schluss wird gut dargestellt. Insgesamt wenig stimmungsvoll in den leisen Abschnitten und im Ganzen nur bemüht wirkend.
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3-4
Esa Pekka Salonen
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Philips
1985
8:02
Fein ausgehörte Aufnahme mit großem, weiträumigen Stereo-Panorama, exzellentes Orchester mit schönen Soli, Englischhornsolo in einem Atemzug, ff eindrücklich, Cellokantilene sehr breit, Temponahme wirkt insgesamt jedoch stark uneinheitlich und sehr stark gespreizt. Das hohe Potenzial wirkt durch die subjektive, willkürlich wirkende Temponahme etwas verschenkt.
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3
Charles Gerhard
National Philharmonic Orchestra
Menuet
1985
8:42
Sehr langsame, leise und weiträumige Aufnahme die die Steppe sehr gut imaginiert, das Londoner adhoc-Orchester wurde wieder sehr gut besetzt, ff -Passage sehr schnell genommen, Akzente wie Peitschenhiebe, Temponahme generell extrem unterschiedlich (wie Berg und Talfahrt) auf einzelne Episoden ausgerichtet. Das wirkt inszeniert. Das Stück zerfällt in viele Einzelteile. Der Salonen-Aufnahme darin nicht unähnlich nur noch auf die Spitze getrieben: sehr eigenwillige Deutung, die kaum durch die Partitur gedeckt erscheint.
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4.9.2019