Hector Berlioz:

Le Corsaire

Konzertouvertüre op. 21

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Werkhintergrund:


Piraten betrachtete man in der Romantik mit Schauer und Bewunderung: Sie waren meist adliger Abstammung und schlitterten nur durch Intrigen in ein Seeräuberleben. In ihrem Herzen aber regierte der Edelmut. Lord Byron hat in seiner wild-poetischen Verserzählung "Der Korsar" ein literarisches Seelengemälde eines gesellschaftlich geächteten Piraten gemalt. Das inspirierte Hector Berlioz zu seiner Konzertouvertüre "Le Corsaire". 

 

Er (Berlioz) macht es sich in einem gut gepolsterten Beichtstuhl (im Petersdom zu Rom) bequem und liest ein höchst weltliches Buch über einen Seeräuber: "The Corsair" von Lord Byron. Man mag das für pietätlos halten, aber Berlioz‘ Beschreibung dieser Szene ist hinreißend: "Auch Sankt Peter ließ mich immer einen Schauer der Bewunderung empfinden ... Ich liebte es, während der unerträglichen Sommerhitze den Tag darin zuzubringen. Ich hatte einen Band Byron bei mir ... und im Genuss der Kühle, der heiligen Stille, die nur in langen Zwischenräumen von dem harmonischen Plätschern der beiden Fontänen auf dem großen Sankt-Peters-Platz unterbrochen wurde, wenn Windstöße es an mein Ohr trugen, verschlang ich mit Muße jene feurige Poesie; auf den Wogen folgte ich den kühnen Fahrten des Korsaren; ich verehrte auf das tiefste diesen zugleich unerbittlichen und zärtlichen, mitleidslosen und edelmütigen Charakter, in dem sich in wundersamer Weise zwei scheinbar entgegengesetzte Gefühle zusammenfinden: der Hass gegen die Gattung und die Liebe zu einer Frau."


Berlioz – und mit ihm viele Dichter, Maler und Musiker der Romantik – glühte zwar für die Erzählungen und Versepen von Lord George Gordon Byron, doch er dachte zunächst noch nicht daran, die Früchte seines Lektüre-Erlebnisses im Petersdom in eine Komposition zu verwandeln. Jahre später erst keimte die Idee langsam in ihm auf. Im Frühherbst 1844 beschäftigte sich Berlioz mit der Komposition einer Ouvertüre. Er wohnte damals in einem Turm, der an den Felsen von Les Ponchelles gebaut war, konnte also in Einsamkeit die faszinierende Natur der Meeresküste genießen. Unter diesen Eindrücken entstand die erste Fassung seiner Ouvertüre, die er „La tour de Nice“ (Der Turm von Nizza) taufte. Die Uraufführung – Berlioz dirigierte selbst – war erfolgreich, doch der Komponist war nicht zufrieden mit seinem Werk und nahm eine gründliche Überarbeitung vor. Die zweite Fassung entsprach seinen Vorstellungen ebenfalls noch nicht ganz. Erst die dritte, stark gekürzte und überarbeitete Version hielt seiner strengen Selbstkritik stand. Unter dem Namen „Le Corsaire“ – und damit unverkennbar als musikalischer Abkömmling von Byrons Dichtung gekennzeichnet – erschien die Ouvertüre 1852 im Druck. Zwei Jahre später folgte die Uraufführung in Braunschweig.

 

Mit ihrem auftrumpfenden Beginn packt die Ouvertüre den Hörer gleich in den ersten Takten. Sie ist eine der glänzendsten und typischsten unter den Kompositionen von Berlioz und strotzt nur so von rhythmischem Schwung und aufgeladener Energie. Durch kunstvolle Varianten des Hauptthemas schafft Berlioz eine beziehungsreiche musikalische Architektur. Die Synkopen der Bläser, die rauschenden Tonleitern der Streicher und der melodiöse durchdringende  Glanz des Blechs stehen im Gegensatz zu der tiefen Ausdruckskraft einer Melodie im Adagio sostenuto (die unglückliche Liebe unseres Helden zu einer Frau darstellend). Die Wirkung dieser Musik ist von unwiderstehlicher Dramatik: Berlioz zieht den Hörer mitten hinein in das stürmisch peitschende Meer – und gleichzeitig in die Tiefen der aufgewühlten Seele jenes unglücklichen und dennoch kämpferisch entschlossenen Menschen, den Byron so eindringlich geschildert hat. In der Koda muss das Orchester das letzte an Kraft mobilisieren (schon ab con fuoco) und am Ende beschließt es das Werk mit einem strahlenden C-Dur Akkord, der ebenso kraftvoll und triumphierend wirkt, wie der Schluss der Symphonie fantastique.

(Quellen: SWR Musikstück der Woche 3.-9.1.2011 von Doris Blaich und Hugh Macdonald, 1979, Vorwort der Eulenburg Minipartitur Nr. 621 jeweils gekürzt, verändert und angepasst)

 

zusammengestellt am 23.9.2019

 

 

 

Héctor Berlioz 1832, also ca. zwölf Jahre vor der Komposition der Ouvertüre. Gemälde von Émile Signol

 

 

 

 

Rezensionen im Vergleich:

 

 

5         

Charles Munch            

Boston Symphony Orchestra               

RCA              

1959               

8:03    

Klanglich überaus präsent, Orchester spielt in Toppform und stürzt sich ins Geschehen, knackiges Blech mit ansatzlosem Biss, durchdringendes Fagottstaccato, flexible Tempi, die die Dramaturgie unterstützen, insgesamt beeindruckender Steigerungsverlauf - ab con fuoco nochmals zugespitzt - atemlos durchgezogen bis zum triumphalen Schlussakkord

Gegenüber Paray hat Munch das tiefer gestaffelte Klagbild und das etwas geschliffener spielende Orchester zur Verfügung.

 

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5         

Paul Paray              

Detroit Symphony Orchestra     

Mercury         

1958               

7:51

Furioser Beginn, auch hier traumwandlerisch sicheres Hineinstürzen ins Geschehen, Adagio ausdrucksvoll, wie resigniert, ff-Stellen mit Verve, Blechbläser mit ansatzloser Attacke, rasanter Hauptsatz, Klangbild etwas verrauscht aber mit hautnaher Präsenz, ab con fuoco kann die Rasanz noch gesteigert werden, das Orchester hat sich unter seinem Dirigenten die berliozsche Tonsprache vollends zu Eigen gemacht.

 

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5         

Sir Thomas Beecham        

Royal Philharmonic Orchestra               

EMI               

1959               

7:58

Auch das RPO präsentiert sich im besten Licht, ff-Stellen sehr gut gelungen, die aufgewühlte See bzw. die Kämpfe des Korsaren werden sehr anschaulich dargestellt, ab con fuoco wirklich mit nochmals gesteigertem Feuer, gegenüber Munch und Paray fällt nur das etwas mattere, weniger präsente Klangbild für die Aufnahmezeit aber immer noch sehr gelungene Klangbild ab.

 

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4/5      

James Levine            

Berliner Philharmoniker                  

DG                 

1991               

8:39

Souveräner Einstieg, Bläsersoli besonders klangschön und eloquent, Orchester selbst im größten Trubel ohne jede Härte, hier erscheint der Held weniger flink aber dafür besonders kraftstrotzend, Fagottsolo leider etwas unterbelichtet, dem Dirigenten kommt dieses Stück offensichtlich sehr entgegen und er kann beim Orchester aus dem Vollen schöpfen, zur Spitzenaufnahme fehlt es nur etwas an quirliger Rasanz.

 

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4/5      

Colin Davis   

London Symphony Orchestra              

Philips            

1965               

8:33

Virtuoser Einstieg, rhythmisch geschärfte Synkopen, Blechbläser strahlend und intensiv, das LSO ist ein idiomatisches Berlioz-Orchester, eher helles Klangbild mit guter Staffelung, Bässe als bewusstes Ausdruckselement erkennbar, insgesamt etwas engagierter und draufgängerischer als Davis´ spätere Aufnahme aus Dresden, gegenüber Munch, Paray und Beecham aber schon noch etwas einstudierter wirkend.

 

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4/5      

Alexander Gibson           

Royal Philharmonic Orchestra London              

Membran       

1997               

8:07                

Temperamentvoller Einstieg und sehr gut durchhörbar, Adagio ausdrucksvoll, Orchesterqualität höher als bei Gibsons früherer Aufnahme mit dem SNO, Fagott-Staccato präsent, kann bei con fuoco nochmals anziehen: Eine kompetente Berlioz-Interpretation, die eine angenehme Wirkung ausübt, weil es ihr eigentlich an nichts fehlt, sie aber auch nichts bis ins Extrem ausreizt.

 

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4/5      

David Zinman           

Baltimore Symphony Orchestra            

Telarc             

1987               

8:09

Glasklares Klangbild und besonders filigrane exakte Artikulation, Adagio zeigt die „weibliche“ Komponente des Helden besonders zart und ausdrucksvoll auf eine sehr zurückhaltende Art. Auch der Hauptsatz wirkt elfenhaft und leichtgewichtig, erinnert stark an Mendelssohn, was durchaus legitim ist. Sehr partiturgenau: Auch bei con fuoco wird noch eine Steigerung an Intensität erreicht: Eine luzide, leichte und filigrane Alternative, der es etwas an „sprudelnder Gischt“ fehlt, die aber in ihrer Gesamtqualität angenehm überrascht.

 

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4/5      

Ernest Ansermet       

Orchestre de la Suisse Romande          

Decca             

1967               

8:41

Luzide Interpretation in einem hellen, frisch und lebendig wirkenden Klangbild, die den Ausdrucksgehalt insgesamt stimmig wiedergibt. Eine dünn klingende Oboe und andere kleine Schwächen besonders bei den Holzbläsern bei Intonation und Zusammenspiel muss man allerdings hinnehmen. Die letzte „Wildheit“ der Spitzenaufnahmen kann dieses Orchester nicht aufbieten.

 

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4/5      

Colin Davis   

Staatskapelle Dresden                           

RCA              

1997               

8:44

Klanglich voller und runder wirkend als Davis` Aufnahme aus London, überzeugende Soli, aber nicht ganz einheitlich, da betuliche Abschnitte mit überzeugenden (z.B. nach con fuoco) einhergehen. ff nicht ganz ansatzlos. Ein klangschönes Orchester mit hohen Reserven wird hier nicht aus seiner Komfortzone herausmotiviert, es fehlt so an Temperament und Spritzigkeit.

 

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4/5      

Charles Dutoit            

Orchestre Symphonique de Montréal                         

Decca             

1997               

8:08

Leicht halliges Klangbild, Beginn durchaus temperamentvoll aber nicht vollends präzise, ff mitunter leicht verschliffen, später dann zwar perfekt aber nicht so unmittelbar anspringend wie bei den Spitzenaufnahmen, con fuoco ab S. 53 unterbelichtet, da bereits ab S. 46 größtmögliche Intensität erreicht wird. Insgesamt eine idiomatische Berlioz-Wiedergabe, die möglicher Weise etwas zu wenig geprobt wurde und so unter ihren Möglichkeiten bleibt.

 

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4/5      

Alexander Gibson           

Royal Scottish National Orchestra                      

Chandos         

1982               

8:07

Gibson gelingt auch mit dem schottischen Orchester eine hochkarätige Aufnahme, z.B. gute Steigerung bei con fuoco, einige Details sind jedoch weniger gut gelungen, so geht das Fagottsolo etwas unter, die Soli sind etwas weniger eloquent und die Koda gelingt nicht so intensiv wie in seiner späteren Aufnahme, auch ist der Klang etwas dünner geraten.

 

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4         

Sylvain Cambreling    

SO des SWR Baden-Baden und Freiburg    

Hänssler         

2007   

8:26

Ähnlich der Zinman-Aufnahme; auch hier ein auffallend klares transparentes Klangbild und eine feine, detailreiche Artikulation, das Spiel wirkt sehr gut durchstrukturiert (z.B. klar heraushörbares Fagottsolo) aber insgesamt doch etwas bedächtig: Die Aufnahme hat ein sehr hohes orchestrales Niveau aber der Korsar wirkt im Ganzen zu gepflegt, das Meer nicht aufgepeitscht genug.

 

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4         

Leonard Slatkin            

Orchestre National de Lyon              

Naxos             

2011               

8:05

Gute, transparente Klangtechnik, die auch die tiefen Frequenzen nicht vergisst, Blech erscheint in der recht weiten Räumlichkeit jedoch zu weit in den Hintergrund gedrängt und verliert dadurch an Präsenz und Durchschlagskraft, Adagio wenig ausdrucksvoll und bewegt, con fuoco Stelle etwas beherzter, insgesamt aber eine weniger intensive und zu „schaumgebremste“ Wiedergabe.

 

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3/4      

Michel Plasson           

Orchestre National du Capitol de Toulouse 

EMI   

1991   

8 :28

Saubere, beschwingte Eröffnung, Adagio jedoch wenig ausdrucksvoll, die Aufnahme klingt steril und nicht besonders transparent, die Klangfarben etwas stumpf, der Verlauf entwickelt sich allenfalls korrekt und bemüht, die Musiker scheinen noch an den Noten zu hängen: Dem Korsaren wird der Wagemut und die Beherztheit jedoch so weitgehend vorenthalten.

 

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3/4      

Myung Whun Chung           

Orchestre de l´Opera de la Bastille   

DG  

1995     

8 :49

Insgesamt recht temperamentvoll und nicht einmal unmotiviert mit einer guten Steigerung bei con fuoco, dem Orchester fehlt es aber in jeder Hinsicht an Feinschliff und wirkt insgesamt matt und distanziert. In die Gefühlswelt des Korsaren dringt man mit dieser Aufnahme nicht so recht ein.

 

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3         

André Cluytens         

Orchestre National de l´ORTF         

EMI   

1961   

9 :08

Betulicher Beginn, ff wenig kontrastierend, Blech ohne jede Durchschlagskraft, Holz schwach profiliert: Hier werden die Elemente nicht geweckt und der Charakter des Korsaren lehrt niemanden das Fürchten: Vom Anfang bis zum Schluss: Harmlos. Der Dirigent schien bei diesem Orchester auf verlorenem Posten zu stehen.

 

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3         

Alain Lombard        

Orchestre Philharmonique de Strasbourg     

Erato  

1980   

8 :31

In der Einleitung schwammige Bläsereinsätze, Adagio zu schnell, es wirkt so zwar fließender aber es büßt an der geforderten Melancholie ein, ff-Einsatz ganz schwach abgesetzt, Fagott-Solo geht fast unter, Blech wirkt nur bemüht, hat keine Strahlkraft und kann keinerlei Glanz verbreiten: Diese Aufnahme vermittelt keinen echten Berlioz-Klang und es fehlt ihr generell an orchestraler Qualität und Charakterzeichnung.

 

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2/3      

Kenneth Jean         

Orchester der Polnischen Staatsphilharmonie Kattowitz    

Naxos             

1988               

8:58

Eine behäbig wirkende Aufnahme ohne jeden gallischen Esprit, die Streicher lassen an präzisem Zusammenspiel und an Intensität zu wünschen übrig, ff des Blechs ohne Strahlkraft, con fuoco zwar mit Steigerung aber das spielt sich auf geringem Niveau ab, einzig der Schlussakkord weiß zu überzeugen, da wird die ganze Kraft hineingelegt. Eine Aufnahme der es entschieden an orchestraler Virtuosität und an dramatischem Impetus mangelt und somit dem berliozschen Idiom nicht gerecht wird.

 

 

 

 

23.9.2019