Michail Glinka

Capriccio brillante über die „Jota aragonesa“

Spanische Ouvertüre Nr. 1

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Werkhintergrund:

 

Über den russischen Komponisten ist im allgemeinen Gedächtnis so gut wie nichts bekannt, weder von seiner Person oder seinem Leben, noch von seinen Werken. Außer der temperamentvollen Ouvertüre zu „Ruslan und Ludmilla“ werden nur sehr selten Kompositionen von ihm aufgeführt oder eingespielt. Das gilt sogar für das nach der genannten Ouvertüre bekanntesten Werk aus Glinkas Feder, dessen Einspielungen wir nun gerne im Anschluss vergleichen wollen und das landläufig vereinfacht „Jota aragonesa“ genannt wird.

Das folgende „Lebensbild“ haben wir weitgehend den betreffenden Artikeln bei Wikipedia und der Encyclopedia Britannica entnommen, denn es gibt nur wenig Literatur über den Komponisten aus der man schöpfen könnte. Michail Glinka wurde 1804 in dem Dorf Nowospasskoje bei Smolensk als Sohn eines Adligen geboren. Seine ersten sechs Lebensjahre verbrachte er meist im überheizten Raum seiner Großmutter väterlicherseits, die ihn von allen äußerlichen Eindrücken abzuschirmen versuchte. So beschränkten sich seine ersten musikalischen Eindrücke auf den Vogelgesang im Garten seiner Familie, die Lieder seines Kindermädchens und die durchdringend lauten Kirchenglocken, für welche die Region Smolensk berühmt war. Nach dem Tode seiner Großmutter 1810 kam er in die Obhut seiner Eltern und hatte endlich die Möglichkeit, andere Musik zu hören. Als er nach etwa vier Jahren ein Klarinettenquartett des finnischen Klarinettisten Bernhard Henrik Crusell hörte, weckte dieses Erlebnis sein Interesse für die Musik. Zusätzlich beeinflusste ihn die russische Volksmusik eines Blasorchesters, die er bei verschiedenen Festen hörte. Ein Violinist aus der Musikgruppe seines Onkels erteilte ihm erste Unterweisungen im Violinspiel.

 

Um 1817 begann er am Adelsinstitut von Sankt Petersburg zu studieren. Er nahm drei (!) Klavierstunden beim irischen Komponisten John Field, und bei einem Treffen mit Johann Nepomuk Hummel auf dessen Russlandreise hinterließ er bei diesem einen positiven Eindruck. 1823 unternahm er eine Reise in den Kaukasus, wo ihn die Naturschönheiten und lokalen Gebräuche faszinierten, kehrte für ein halbes Jahr an seinen Geburtsort zurück und übernahm nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg 1824 eine anspruchslose Stelle als Untersekretär im Verkehrsministerium. In seiner Freizeit erweiterte er seinen Bekannten- und Freundeskreis. Der Dichter und Literat Wilhelm Küchelbecker, der nach dem Aufstand der Dekabristen* am 14. Dezember 1825 nach Sibirien verbannt wurde, machte Glinka mit dem russischen Nationaldichter Alexander Puschkin bekannt. Glinkas Verbindungen zu dem bekannten Poeten und die politischen Wirren der Zeit beeinflussten das Denken und Handeln des Komponisten. Ab 1830 ging er auf eine Reise nach Italien, wo er drei Jahre lang seine Kenntnisse über die Oper erweitern konnte. Während dieser Zeit studierte er in Neapel und lernte in Mailand Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti und Felix Mendelssohn-Bartholdy kennen. 1833 führte er in Berlin weitere Musikstudien bei Siegfried Dehn durch. Als 1834 sein Vater starb, kehrte er nach Russland zurück.

 

1836 wurde im Petersburger Großen Theater seine Oper „Ein Leben für den Zaren“ (Libretto von Baron Jegor Fjodorowitsch von Rosen) uraufgeführt. Sie war die erste auf Russisch gesungene Oper Russlands, die Klassikerstatus errang. Die Geschichte erzählt von den Heldentaten des Bauern Iwan Sussanin, der in der Zeit der Wirren Anfang des 17. Jahrhunderts gelebt haben soll. Der Legende nach hatte Sussanin polnische Besatzer in unwegsame Wälder geführt, aus denen sie nicht mehr zurückfanden. Kurz darauf wurde er erschlagen.

In Glinkas Nationaloper spielen einfache Menschen wie Bauern die Hauptrolle, was den Angehörigen des Adels nicht gefiel. Nur um nicht den Unmut des Zaren zu erregen, wählte er für sein Werk nicht den Titel „Iwan Sussanin“, sondern „Ein Leben für den Zaren“. Die Oper wurde ein großer Erfolg, und Glinka wurde zum Kapellmeister der Petersburger Kapelle berufen.

 

1842 folgte seine zweite Oper „Ruslan und Ljudmila“ (Libretto von Walerian Schirkow und Nestor Kukolnik), die nach einem Gedicht Alexander Puschkins entstand und sehr volkstümlich gehalten ist.  Das exotische Thema und die kühn originelle Musik von „Ruslan“ fanden weder Anklang bei den Kritikern noch wurden sie vom Publikum gelobt, obwohl Franz Liszt von der Neuartigkeit der Musik beeindruckt war. Ab 1844 begab er sich wieder auf Reisen, diesmal nach Paris, wo er sich häufiger mit Hector Berlioz traf, und im nächsten Jahr von Paris aus nach Spanien (Valladolid, Madrid und Sevilla). Hier begeisterte er sich für die traditionelle Musik Spaniens und schrieb seine Erste Spanische Ouvertüre mit der Jota aragonesa.

Der Ausbruch des Krimkrieges** trieb ihn wieder nach Hause. Anschließend schrieb er sein höchst unterhaltsames Zapiski (Memoiren; erstmals veröffentlicht in St. Petersburg, 1887), die ein bemerkenswertes Selbstporträt seines trägen, liebenswürdigen, hypochondrischen Charakters geben. Seine letzte bemerkenswerte Komposition war „Festliche Polonaise“ für den Krönungsball von Zar Alexander II. (1855). Nach weiteren Reisen nach Polen, wo er Einflüsse von Frédéric Chopin aufnahm, und Frankreich brach er im Mai 1856 zu seiner letzten Reise nach Berlin auf, wo er seine Kontrapunktstudien bei Siegfried Dehn an Werken Johann Sebastian Bachs wieder aufnahm. Nach einem Konzert im Januar 1857, in dem Giacomo Meyerbeer einen Ausschnitt aus „Ein Leben für den Zaren“ dirigierte, erkältete sich Glinka und verstarb drei Wochen später am 15. Februar 1857 in der preußischen Hauptstadt.

Um das Ausmaß der Leistungen Glinkas zu begreifen, muss zunächst die musikalische Situation Russlands, in die er hineingeboren wurde, in Betracht gezogen werden. Im Laufe des 18. Jahrhunderts waren Stileinflüsse aus Westeuropa in der russischen Kultur dominierend geworden. Sogar das russische Volkslied war vor „fremden“ Einflüssen nicht gefeit, denn in den Städten entwickelte sich das Stadtlied, wo sich der westliche Einfluss in regelmäßigen Rhythmen und dem verstärkten Gebrauch von Sequenzen bemerkbar machte.

Glinkas wichtigstes Vermächtnis liegt jedoch nicht so sehr in seinen stilisierten Volksliedern, sondern vor allem in seiner ganz persönlichen, sehr russisch geprägten Musiksprache, in der er im Gegensatz zur deutschen Musik auf die zergliedernde und kombinierende Durchführung kleinräumiger Themen verzichtet und stattdessen Variationen von längeren melodischen Phrasen komponiert. Aufgrund seines stilprägenden Einflusses gilt Glinka als „Vater der russischen Musik“. (Artikel aus Wikipedia übernommen, Quellen siehe dort, ergänzt um Passagen aus der Encyclopedia Britannica, die ebenfalls keine Autoren nennt.)

Die „Jota“ (spanisch) ist eine populäre Lied- und Tanzgattung im Tripeltakt, die praktisch überall in Spanien beheimatet ist, wobei die aragonesischen und navarrensischen Jotas auch überregional die bekanntesten Varianten sind. In Valencia tanzte man früher die Jota bei Beerdigungen(!). In anderen Landstrichen Spaniens sind weitere Ausprägungen der Jota, den „Dialekten“ ähnlich, bekannt. Als visuelle Darstellung wird die Jota mit Kastagnettenbegleitung getanzt und gesungen, und die Interpreten tragen meist regionale Trachten. Glinkas Werk ist jedoch für den Konzertsaal bestimmt. Viele nichtspanische Komponisten haben die „Jota aragonesa“ in verschiedenen Werken verwendet. Die wahrscheinlich bekannteste mit einer besonders virtuos-überhöhten Verarbeitung findet man wohl in der „Rhapsodie espagole“ von Franz Liszt. Auch Glinka griff in der „Capriccio Brilliant über die Jota aragonesa“ auf diese Tanzform und die bekannteste Melodie zurück. Die Orchestrierung des Capriccios ist bemerkenswert, da sie die vielen Farben, die in einem Orchester möglich sind, umfassend nutzt. Glinka verwendet keine übermäßigen Doppelstimmen, um einen vollen Klang zu erzeugen. Die enorme Anzahl an Instrumentalkombinationen, die Glinka in verschiedenen Variationen durchführt, ist für die damalige Zeit ziemlich erstaunlich. Vielleicht macht sich da die Bekanntschaft mit Hector Berlioz bemerkbar. Auffallend ist auch die Verwendung von Harfe und Pizzicato-Streichern, um den Klang der Akustikgitarre zu vermitteln. Der Vollständigkeit sei es erwähnt, dass es, wenn es schon eine erste Spanische Ouvertüre gibt, zumindest auch eine zweite Spanische Ouvertüre geben sollte. Sie heißt „Souvenir d'une nuit d'été“ und wie die erste spiegelt auch sie die Eindrücke Glinkas wider, die er bei seinem Spanien-Aufenthalt gewonnen hat. Auch bei ihr gibt es einen alternativen Titel, was bei der Suche nach einer Einspielung wichtig werden könnte: Man nennt sie auch „Eine Sommernacht in Madrid“, Fantasie über Spanische Themen. Aufnahmen davon sind nochmals seltener als von der ersten Ouvertüre, dem Capriccio brillante und sozusagen an einer Hand abzuzählen.

 

*Exkurs: Die Dekabristen (russisch Декабристы Dekabristy von декабрь dekabr ‚Dezember‘, deswegen im deutschsprachigen Raum auch als Dezembristen bekannt) waren Revolutionäre, vor allem Offiziere der russischen Armee, die am 14. Dezemberjul. / 26. Dezember 1825greg. auf dem Platz vor Senat und Synode in Sankt Petersburg den Eid auf den neuen Kaiser Nikolaus I. verweigerten. Damit bekundeten sie ihren Protest gegen das autokratische Zarenregime, gegen Leibeigenschaft, Polizeiwillkür und Zensur. Die rebellischen Offiziere dienten in Petersburger Garderegimentern und waren westlich gebildet. Ihre Anführer wurden gehängt, einige degradiert und rund 600 von ihnen nach Sibirien verbannt und zu Zwangsarbeit verurteilt. In diesen damals relativ wenig kultivierten Teil der Welt brachten sie als Strafgefangene Kultur und Bildung und stehen deshalb noch heute dort in hohem Ansehen.

Die Dekabristen bildeten die erste bewusst gegen die zaristische Autokratie gerichtete revolutionäre Bewegung, deren Programm bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft und politisch teilweise bis zur Errichtung einer Republik reichte, auch wenn die Mehrheit von ihnen eine konstitutionelle Monarchie favorisierte, bei der dem Zaren eine Rolle ähnlich jener der britischen Könige zugedacht war.

Die liberalen und sozialen Ideen hatten sich seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in der russischen Oberschicht gebildet. Zunächst wurden diese Gedanken nur in Geheimbünden propagiert. Eine Rolle spielte dabei der Kontakt zum revolutionären Frankreich während der Napoleonischen Kriege, in deren Verlauf viele russische Offiziere nach Westeuropa gekommen waren. Einige persönliche Kontakte verbanden ausgewählte Dekabristen auch mit dem Dichter Alexander Puschkin, der in seinem Poem Eugen Onegin auf den Dekabristenaufstand ebenfalls direkten Bezug nimmt. Puschkin selbst stand Inhalten und Zielen der Dekabristenbewegung eher kritisch gegenüber (Wikipedia entnommen).

 

**Der Krimkrieg (auch Orientkrieg; russisch Восточная война, Крымская война Wostotschnaja woina, Krymskaja woina) war ein von 1853 bis 1856 dauernder militärischer Konflikt zwischen dem Russischen Reich einerseits und dem Osmanischen Reich sowie dessen Verbündeten Frankreich, Großbritannien und seit 1855 auch Sardinien-Piemont andererseits. Er begann als zehnter Russisch-Türkischer Krieg, in den die westeuropäischen Mächte eingriffen, um eine Gebietserweiterung Russlands auf Kosten des geschwächten Osmanischen Reichs zu verhindern. An Verlusten werden auf Seiten der Alliierten rund 220.000, auf russischer Seite 450.000 angegeben. Der Krimkrieg wird als der erste „moderne“ und der erste „industrielle“ Krieg angesehen. Bei der Belagerung Sewastopols kam es zum ersten Stellungskrieg der Moderne und zum ersten Grabenkrieg in großem Stil. Es war mehr ein Krieg der Maschinen, Logistik und Industriepotentiale und weniger der „Feldherrnkunst“. Vor Sewastopol lieferten sich die Beteiligten die erste Materialschlacht der Geschichte. (Quelle ebenfalls Wikipedia, näheres siehe dort)

 

 

Zusammengestellt bis 7.8.2024

 

 

 

 

Michail Glinka, Lithographie von August Prinzhofer, 1849

 

 

 

Vergleichende Rezensionen:

 

 

5

Charles Mackerras

London Symphony Orchestra

Mercury

1961

9:14

Sir Alan Charles MacLaurin Mackerras, hatte zunächst seine Repertoire-Schwerpunkte im barocken und klassischen Bereich (Henry Purcell, Georg Friedrich Händel, Christoph Willibald Gluck, Wolfgang Amadeus Mozart) sowie im tschechischen (insbesondere Leoš Janáček, Bedřich Smetana) und englischen Repertoire (Gilbert und Sullivan, Edward Elgar, Frederick Delius, Benjamin Britten). Daneben war er auch bemerkenswert vielseitig. Er studierte und spielte zunächst in Sydney Oboe, bevor er sich dem Dirigieren zuwandte. Prägend waren seine Studienjahre bei Václav Talich in Prag, aus denen er als Wahrer der böhmischen Tradition hervorging. Von 1954 bis 1956 war er Chefdirigent des BBC Concert Orchestra. Ab 1948 bis 1977 dirigierte er regelmäßig am Londoner Sadler’s Wells Theatre (zuletzt als dessen Generalmusikdirektor), von 1961 bis 1963 an der Berliner Staatsoper, von 1965 bis 1970 an der Hamburgischen Staatsoper und seit 1964 auch in Covent Garden. Spätestens seitdem war Mackerras einer der weltweit gefragtesten und geehrtesten Dirigenten und galt seit dem Tode Rafael Kubelíks auch als der authentischste „tschechische“ Dirigent der alten Schule. 1980 leitete er als erster Nicht-Brite die beliebte „Last Night of the Proms“ in London und eröffnete 1973 das damals neue Opernhaus von Sydney. Was die Übernahme fester Chefdirigentenpositionen betrifft, war Mackerras sehr zurückhaltend und zog es vor, überwiegend als freier Dirigent zu arbeiten. Eine intensive Zusammenarbeit verband ihn mit dem Scottish Chamber Orchestra, der Tschechischen Philharmonie und dem Orchestra of the Welsh National Opera, deren Chefdirigent er von 1987 bis 1992 war. Mackerras war Ehrenbürger Prags und leitete jahrzehntelang regelmäßig die Tschechische Philharmonie. 1979 wurde er als Knight Bachelor („Sir“) geadelt. Zur Zeit der Einspielung war er 36 Jahre alt.

Pikanterweise erschien die uns nun vorliegende „Jota aragonesa“ niemals auf einer Mercury-Platte, obwohl sie von Mercury in London aufgenommen wurde. Sie und die anderen kleinen Stückchen der CD, die in den 90er Jahren unter dem Namen „Kalaidoscope“ auf den Markt kam, entstand als „Zwischenbeschäftigung“ für das Orchester während und nach den Aufnahmen der beiden Liszt-Klavierkonzerte mit Svjatoslav Richter und Kyrill Kondraschin, die als „Hauptsache“ vom Mercury-Team für Philips aufgenommen wurde. Und in der Tat gab es Unterbrechungen, z.B. bestellte sich Herr Richter ein Ersatzklavier, weil er mit dem vorgesehenen nicht zufrieden war. In der Zwischenzeit war der junge Mackerras zur Stelle und dirigierte die Ouvertüre zu „Abu Hassan“ von Weber und spielte sie selbstverständlich dabei ein. Nachdem das Klavier geliefert wurde, war Richter am Zuge. Danach wurden die weiteren „Bonbons“ mit Mackerras eingespielt. Warum die „Jota“ erst auf einer Musikkassette das Licht der Öffentlichkeit erblickte, entzieht sich unserer Kenntnis. Vielleicht war einfach kein Platz mehr auf der damaligen Philips-LP. Das Orchester genoss es jedoch hörbar unter dem vielseitigen Australier zu spielen, das hört man der ganzen CD an. Doch nun endlich zurück zum Stück aus der Feder Glinkas:

Die Introduktion wird bei diesem Dirigenten zu einem großen Auftritt; entsprechend intensiv wird intoniert, wobei sich die herrlich schmetternden Hörner des LSO (incl. Barry Tuckwell) und die glanzvoll strahlenden Trompeten besonders hervortun dürfen. Sie stehen für das Imponiergehabe, das man so gerne mit spanischen Tänzern assoziiert, während die zarten Einwürfe der ungleich sanfteren Streicher vielleicht mit den Tänzerinnen zu assoziieren wären. So wollte es das damalige Rollenverständnis, das sich gerade auch im Gesellschaftstanz der Zeit widerspiegelte. Bei den ff der Londoner könnten sich die Balken biegen, wenn man mit dem Lautstärkeregler nicht achtsam umgeht.

Es ergibt sich so ein denkbar starker Kontrast zum kammermusikalisch intimen Beginn der eigentlichen „Jota“, in dem das spiccato der ersten vier Spieler(innen) der ersten Violinen zu ihrem zarten Quartett ansetzen. Die unisono geführte Harfe wird dabei nicht vergessen. Schön, dass man sich trotz des dramatischen Beginns zum gemeinsamen Tanz zusammenfindet. Die Streicher spielen und klingen noch besser als die bei Ansermets Orchestre de la Suisse Romande und das präsente und prägnante Holz spielt sozusagen mitten ins Herz hinein. Spätestens jetzt wäre es auch klar, dass wir eine „Living Presence“-Aufnahme von Mercury hören, auch wenn wir das Booklet der CD mit der typischen Aufschrift nicht kennen würden. Die „Jota“ in dieser Aufnahme klingt straff aber doch ungemein tänzerisch und dabei weich abgefedert. Sie wird im Verlauf unwiderstehlich gesteigert und mit fetzigen Akzenten versehen, wobei die Becken nie übermäßig lärmend die Oberhand gewinnen. Die einzelnen Variationen werden sehr schön charakterisiert, sehr detailreich gespielt, mit vortrefflichen Überleitungen versehen und mit besonders geschärften Entwicklungen dargeboten. Das klingt so leidenschaftlich und heißblütig als läge London in der spanischen Provinz Aragon. Besonders gut gefällt uns an der Einspielung, dass die beherzt gespielten Orchestermassierungen nie wirklich massiv oder gar plump klingen, denn das könnte den Spaß an dem Stück schnell vermiesen. Apropos beherzt: Es wird noch ein wenig beherzter gespielt als bei Ansermet.

Die hautnahe Präsenz des Klangs der Aufnahme hatten wir schon erwähnt. Wir dürfen auch in dieser Mercury wieder die „Dirigentenperspektive“ einnehmen. Es klingt dabei kompakter und etwas dichter als bei der Decca-Aufnahme Ansermets. Besonders ins Ohr fallen wieder einmal die in den 60er Jahren ganz besonders agilen Blechbläser der Londoner. Sie klingen unmittelbar und knackig, ja mitunter sogar „angriffslustig“, sind bei bester Spiellaune (wie übrigens auch das übrige Orchester) und besonders gelungen ist die völlige klangliche Äquilibristik der Hörner mit den Posaunen. Nur ganz leicht vermögen die herausragend glanzvollen Trompeten die beiden Gruppen noch ein wenig zu überstrahlen. Die Aufnahme rauscht deutlich stärker als die nur drei Jahre jüngere Decca.

 

5

Paul Kletzki

Philharmonia Orchestra, London

EMI

1958

7:15 

Geboren als Paweł Klecki (die deutsche Schreibweise nahm er erst später an) in einer jüdischen Familie, spielte bereits der Vierzehnjährige ab 1914 als Violinist im Sinfonieorchester seiner Geburtsstadt Lodz. An der Musikakademie Warschau studierte er bei Emil Młynarski (Violine) und Juliusz Wertheim (Komposition). 1920/21 kämpfte er im Polnisch-Sowjetischen Krieg. Zu Beginn der 1920er Jahre übersiedelte er nach Berlin, um dort seine Studien an der Hochschule für Musik abzuschließen, und wirkte in den folgenden Jahren als Dirigent und Komponist. Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini nahmen Werke Kletzkis ins Programm, 1926 spielte das Pozniak-Trio den 3. Satz aus seinem Trio op. 16 bei der Deutsche Grammophon ein. Furtwängler lud ihn außerdem ein, die Berliner Philharmoniker zu dirigieren, hier dirigierte Kletzki im November 1928 neben anderen Werken die Berliner Erstaufführung seines Violinkonzerts G-Dur mit dem Solisten Georg Kulenkampff und im März 1933 ein reines Beethoven-Programm. Vor dem wachsenden Antisemitismus der Nationalsozialisten musste Kletzki 1933 aus Deutschland emigrieren. Über Venedig kam er nach Mailand, dort unterrichtete er von 1935 bis 1937 an der Scuola Superiore di Musica Komposition. 1937 bis 1938 war er als Chefdirigent in Charkiw tätig (wo er dieses Mal vor den «Säuberungen» Stalins abermals flüchten musste). Zurückgekehrt nach Mailand, flüchtete er vor den italienischen Faschisten 1939 schließlich in die Schweiz (1928 hatte Kletzki die Schweizerin Hildegard Woodtli geheiratet, das half nun bei der Aufnahme in der Schweiz). Zahlreiche Mitglieder seiner Familie, unter anderem die Eltern und seine Schwester, wurden Opfer des Holocaust. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Kletzki international als Gastdirigent. 1947 nahm er die schweizerische Staatsbürgerschaft an. 1954 wurde er Leiter des Liverpool Philharmonic Orchestra, von 1958 bis 1962 war er Chefdirigent des Dallas Symphony Orchestra in Texas, danach dirigierte er das Berner Symphonie-Orchester. Von 1967 bis 1970 leitete er als Nachfolger von Ernest Ansermet das Orchestre de la Suisse Romande. Da Paul Kletzki bisher noch nicht bei unseren Rezensionen auftauchte, sollte er erst einmal vorgestellt werden, bevor wir uns seiner Einspielung des Werkes von Glinka zuwenden.

Zunächst befremdet es, dass bei ihm das „Capriccio brillante“ unter Umgehung der Introduktion direkt mit der „Jota“ beginnt, auf männliches Imponiergehabe scheint er keine Lust gehabt zu haben oder aber, die Introduktion erschien dem Dirigenten kompositorisch ein wenig zu dürftig. Dafür müsste es eigentlich einen kräftigen Punkabzug geben, denn Partiturtreue sollte eigentlich ein hohes Gut sein.

Die „Jota“ beginnt jedoch dermaßen zart und so wunderbar klar, dass wie es gar nicht glauben konnten einer 58er EMI zu lauschen. Das Orchester spielt mit so viel Klasse, höchster Präzision und Verve, dass der Punkteabzug sofort in Vergessenheit geriet. Herr Kletzki lässt im Tempo zurückhaltend spielen, er brennt kein Strohfeuer ab, aber die Glut, die das Orchester entfacht, ist beständig und heiß. Das Spiel des Philharmonia ist sehr nuanciert und pointiert, der Gestus sehr spannend und durchaus temperamentvoll. Nur wenn es die Partitur erlaubt, wird die Glut zum offenen Feuer. Ein so effektvolles Spiel ist man von dem seriösen Orchester, das man aus dieser Zeit vor allem mit den ernsten Einspielungen Otto Klemperers in Verbindung bringt (die Karajan-Zeit war schon fast vorbei), gar nicht erwartet. Die Musik wird aber auch bei Kletzki nicht zur Show. Jeder Akzent sitzt präzise, ohne so messerscharf zu werden wie bei Toscanini. Es klingt wunderbar reichhaltig, nuanciert und musikalisch. Da waren Könner am Werk. Einfach Klasse! Was, die Introduktion fehlt? War da was?

Der Klang überrascht nachhaltig. So offen, voll, warm und transparent…kann das eine 58er EMI sein? Zur ausgezeichneten Balance kommt auch noch eine sehr angenehme Direktheit und eine nie überzogene aber staunenswerte Brillanz. Fast unglaublich, was eine gute Neuüberspielung auf neuem Stand der Technik bringen kann.

 

5

Ernest Ansermet

Orchestre de la Suisse Romande

Decca

1964

9:27

Ernest Ansermet war schon oft mit Aufnahmen bei unseren vergleichenden Rezensionen vertreten, weshalb eine erneute Vorstellung entbehrlich erscheint.

Die Introduktion erscheint zwar ebenfalls grave, was man jedoch nicht mit gravitätisch verwechseln sollte. Gerade bei Ansermet erscheint die Schwere nicht dunkel und plump, sondern farbig und weich. Dank der französisch-eleganten Spielweise des Orchesters, das wir unter Ansermet selten so homogen und geschmeidig gehört haben.

Die Jota beginnt ausgesprochen zart und lieblich, kaum zu glauben, dass da die gleichen Männer mittanzen, die gerade bei Mackerras noch so mit ihrem Imponiergehabe aufgefallen sind. Die Kastagnetten, als Synonym des Spanischen dürfen sie nicht fehlen, werden bei Ansermet jedoch nicht plakativ herausgestellt, sondern als ein Teil des Orchesters wie andere auch bestens und gut hörbar in den Gesamtklang integriert. Das Staccatissimo gelingt gut, wenngleich es nicht unbedingt zu den Stärken des Orchesters gehört. Feingeistige Eleganz liegt ihm mehr als übermäßig schroffe Akzente. Die Variation mit dem „Durchführungscharakter“ klingt dramatisch-vital. Mit ihrem leichten Grundcharakter, dem dezenten aber beständigen Schwung und der überschäumenden Spielfreude wird diese Einspielung zu einem großen Genuss.

Die Klangtechnik hat für einen sonoren, klaren, räumlichen farbigen und präsent-knackigen Sound gesorgt. Sehnig, frisch und besonders lebendig ist er unzweifelhaft ein „Kind“ der goldenen Analog-Ära der Decca. Die Dynamik ist sehr gut, die Ortbarkeit der einzelnen Instrumente bzw. Instrumentengruppen ebenfalls.

 

 

 

 

4-5

Neville Marriner

Staatskapelle Dresden

Eterna, Philips

1982

8:33

Diese Einspielung entstand noch durch den VEB Deutsche Schallplatten im Sudio Lukaskirche zu Dresden. Es ist unseres Wissens die einzige Zusammenarbeit Sir Nevilles mit der Staatskapelle auf CD (bzw. LP, die gab es damals nämlich auch noch). Gegenüber den bereits genannten Einspielungen, besonders aber gegenüber der Darbietung mit Rouvali wirkt Marriners Dirigat zügiger. Die Harfe wird sehr gut ins Klangbild eingebracht, besser als bei vielen anderen, ebenso bleiben die Kastagnetten dezent. Marriner zieht das Tempo nicht nur zügig durch, sondern auch ziemlich „geradeaus“, vorwärtsgerichtet, durchaus drängend und zugespitzt. Da fliegen die Röcke der Tänzerinnen besonders hoch. Allerdings spürt der Brite den einzelnen Charakteren weniger nach, bleibt gerade gegenüber Ansermet oder Rouvali ein wenig zu gleichförmig. In dieser Hinsicht wird er allerdings von Arturo Toscanini noch bei weitem "übertroffen". Darüber später noch ein wenig mehr.

Das Orchester „punktet“ jedoch mit besonders seidigem Streicherklang, vollem, golden glänzendem Blech und sonor-agilem Holz, dass es eine Wonne ist. So wird der etwas gleichförmige Duktus schon wieder etwas aufgefangen. Im Ganzen macht die Darbietung großen Spaß.

Der Klang ist voll, sonor, präsent und dynamisch. Obwohl die Plattenhüllen und CD-Booklets der diversen Philips-Auflagen jeweils als Digital-Recording mehr oder weniger deutlich verkaufsfördernd gekennzeichnet wurden, klingen weder die CD noch die LP auch nicht ansatzweise nach einer frühen Digitalaufnahme. Das klingt (glücklicherweise) analog nach bester VEB-Manier. Wie zum Beweis findet man auf den Eterna LPs keinen Digital-Warnhinweis.

 

 

 

4-5

Vasily Sinaisky

BBC Philharmonic, Manchester

Chandos

2000

8:42

Vasily Sinaisky war Schüler von Ilya Mussin, den man vielleicht als russischen Hans Swarowsky bezeichnen könnte. Auch er war Lehrer so vieler Dirigenten, die später sehr bekannt wurden. Leider kennen wir von Ilya Mussin selbst keine Einspielungen, weshalb wir ihm bei unseren vergleichenden Rezensionen nie direkt begegnen werden. Wir stellen ihn kurz vor, auch wenn es den Rahmen eigentlich sprengt. Wir zitieren dazu kurz aus Wikipedia:

Mussin studierte zunächst Klavier, dann bis zum Abschluss 1930 Dirigieren bei Nikolai Malko und Alexander Gauk, der übrigens ebenfalls mit einer Einspielung der „Jota“ in unserem Vergleich vertreten ist. 1934 wurde er Assistent von Fritz Stiedry bei den Leningrader Philharmonikern. 1937 wurde er als Dirigent zum Staatsorchester der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik nach Minsk berufen. Da er sich weigerte, in die Kommunistische Partei der Sowjetunion einzutreten, wurde seine Laufbahn als Dirigent eine Zeitlang beschnitten. Deshalb wandte er sich dem Unterricht zu und gründete die sogenannte Leningrader Orchesterdirigentenschule. Während des Zweiten Weltkriegs hielt er sich von 1941 bis 1945 in der Hauptstadt der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik, in Taschkent, auf. Dort dirigierte er zum Beispiel zum ersten Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1942, eine Aufführung der 7. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Als Dirigent trat er außerhalb Russlands erstmals 1996 in London mit dem Royal Philharmonic Orchestra auf. Da war er bereits 93 Jahre.

Seit dem Jahre 1932 lehrte Mussin am Sankt Petersburger Konservatorium, damals Leningrader Konservatorium, das Fach Dirigieren, ab 1961 als Professor. Seine Art zu dirigieren hat er in mehreren Büchern vertreten und eine große Anzahl berühmter junger Dirigenten unterrichtet. Zu diesen zählen neben vielen anderen Rudolf Barschai, Semjon Bychkov, Yakov Kreizberg, Tugan Sokhiev, Sian Edwards, Martyn Brabbins, Juri Temirkanov, Valery Gergiev, Teodor Currentzis und eben Vasily Sinaisky.

Dieser gewann 1973 den 1. Platz beim Karajan-Wettbewerb in Berlin. 1991-1996 war er Chefdirigent der Moskauer Philharmoniker, danach Nachfolger Swetlanows beim Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands, allerdings nur 2000-2002. In Manchester war er 1996-2012 Erster Gastdirigent.

Dieses Orchester der BBC ist uns schon häufiger besonders angenehm aufgefallen, erinnern wir uns doch sehr gerne an die Einspielungen des 2. Klavierkonzertes von Saint-Saëns oder der ersten Sinfonie von Carl Maria von Weber zurück. In keinerlei Hinsicht muss man sich vor den großen Londoner Orchestern verstecken.

Es spielt auch bei Glinka sehr präzise, virtuos und engagiert. Besonders die Streicher klingen seidenweich. Die Introduktion ist besonders kontrastreich mit glanzvollem Blech und fast schon unterwürfig-säuselnden Streichern. Bei der Jota bewegen wir uns bei Sinaisky im Tempo auf der Linie Marriners, also sehr zügig, temperamentvoll und „anspringend“. Das Spiccato der vier Sologeigen klingt behutsam und sehr klangschön. Im temperamentvollen Verlauf zeigt das freudvolle Spiel spürbaren Biss und angenehmen Wohllaut zugleich.

Der Klang ist warm und weich, man profitiert von einer ausgezeichneten Balance von Präsenz und Raumgefühl, die Basswiedergabe ist sehr gut, die Staffelung und Ortbarkeit ebenfalls. Dies ist eine besonders ausgewogene, eine „runde“ Sache, musikalisch und klanglich. An der anspringenden Unmittelbarkeit und Dynamik, wie wir sie bei Mackerras und etwas reduziert auch bei Ansermet hören können, muss man jedoch Abstriche machen. Für unseren Geschmack klingt die Chandos-Aufnahme ein wenig zu füllig und ein wenig zu hallig.

 

 

 

4-5

Jewgeni Swetlanow

Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR

Melodija

1967

9:06

Neben Vasily Sinaisky ist Jewgeni Swetlanow einer der wenigen, die der ersten Spanischen Ouvertüre die zweite („Eine Sommernacht in Madrid“ zur Seite gestellt haben. Beide haben in ihrer Produktion nur Werke Glinkas gebracht und die „Jota aragonesa“ nicht mit anderen „Lollipops“ kombiniert. Das macht beide Produktionen bei Sammlern besonders attraktiv. Eine gewisse Seriosität ist der Einspielung Swetlanows sowieso nicht abzusprechen. Die Einspielung stammt übrigens aus der Zeit der berühmten ersten Gesamteinspielung der Sinfonien Tschaikowskys mit der Herr Swetlanow diesseits des Eisernen Vorhangs nachhaltig auf sich und sein Orchester aufmerksam machen konnte.

Das Orchester, dem Swetlanow im Anschluss an die Zeit Gauks von 1965-2000 als Chef vorstand, befand sich wohl genau wie sein Dirigent auf dem Zenit seines Könnens. Das Blech ertönt mit seiner als besonders „russisch“ apostrophierten Härte und im für ihn typischen „Silberglanz“, der auch bei Glinka etwas schneidend erscheint. Aber doch wärmer als bei seinen Aufnahmen mit Schostakowitsch-Sinfonien. Die Kastagnetten klingen überaus präsent, das typisch Spanische wollte man in Russland offensichtlich dadurch besonders deutlich machen. Von dem mitunter gnadenlosen, alles hintenanstellenden Drive, den wir von „ihren“ Schostakowitsch- oder auch Tschaikowsky-Sinfonien kennen, lassen Swetlanow und sein Orchester ab, die „Jota“ klingt durchaus tänzerisch-kraftvoll aber doch locker, sogar ein wenig verspielt und - das ist eine Überraschung - sogar etwas neckisch. Die Zuspitzungen erfolgen mit viel Kraft und Leidenschaft. Die Höhepunkte schäumen kräftig auf.

Der Klang wirkt recht räumlich und transparent, das Orchester ganz gut gestaffelt. Die Ortbarkeit gelingt nicht ganz auf den Punkt gebracht, bleibt ein wenig schwammig. Die Streicher klingen wieder ein wenig hart, auch die vier Soloviolinen zu Beginn der „Jota“. Die Aufnahme ist gewiss nicht der gleichwertige Ohrenschmaus wie man ihn so süffig bei Sinaisky hören kann. Der Gesamtklang und dabei die Becken ganz besonders klingen etwas hart.

 

 

 

4-5

Santtu-Mathias Rouvali

Philharmonia Orchestra, London

Aufnahme der BBC, gesendet vom BR, bisher unveröffentlicht

2024, live

10:16

Herr Rouvali studierte an der Sibelius-Akademie bei Jorma Panula, (mit Hans Swarowsky und Ilya Musssin die dritte Größe in der weltweiten Dirigentenausbildung), bei Leif Segerstam und Hannu Lintu. Bevor er sich mit 22 Jahren mehr dem Dirigieren zuwandte, spielte er als Perkussionist unter anderem mit dem Finnischen Radio-Sinfonie-Orchester und dem Symphonischen Orchester Lahti. Von 2013 bis 2023 war er Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters Tampere. Seit 2017 ist er Chefdirigent der Göteborger Symphoniker und seit 2021 auch Principal Conductor des Philharmonia Orchestra in London. Das Konzert, anlässlich dessen die „Jota aragonesa“ mitgeschnitten wurde, fand in der Royal Festival Hall statt.

In der Introduktion befördert der finnische Dirigent schwere Akzente, vielleicht um das Russische Idiom in der Musik zu betonen, er beschwört zudem eine eher geheimnisvolle und düstere Stimmung. In starkem Kontrast beginnt dann die „Jota“ mit dem besonders weich und präsent intonierendem Violinenquartett. Sehr rhythmisch aber auch auf betont leisen Sohlen entwickelt sich der Tanz aus dem Süden Spaniens. Das eher gemächliche Tempo verhindert nicht die deutlich ins Ohr springende Eleganz in Artikulation und Rhythmus. Die Verve wirkt jedoch gegenüber Mackerras oder Ansermet (erst recht gegenüber dem für manchen Geschmack bereits übertreibenden Toscanini) in maßvollere Bahnen gelenkt. Der Gestus bleibt jedoch beschwingt und tänzerisch. Das Orchester klingt voll und rund, die hervorragenden Holzbläser (so sonor, als wollten sie die dürren 50er und 60er Jahre wieder gutmachen) kommen gut heraus und die sonoren, voll klingenden Streicher spielen sehr kantabel. Der Präzision merkt man allerdings an, dass es sich um eine Live vom Rundfunk mitgeschnittenes Konzert handelt, bei dem es keine Korrekturmöglichkeiten gab. Das Schlagwerk hält sich wenig zurück, außer die Kastagnetten, denn das Spanische ist 2024 längst nicht mehr so besonders wie z.B. 1967 bei Swetlanow als noch kaum niemand durch den Eisernen Vorhang kam und Spanien allenfalls ein unerreichbarer Sehnsuchtsort war. Es bedarf der Betonung heute nicht mehr. Zumal die Briten als Spanienurlauber bekannt sind. Die verschiedenen Variationen werden individuell und daher besonders abwechslungsreich charakterisiert. Es ergibt sich außer der Vorstellung des Gesellschaftstanzes ebenso ein Charakterbild, wie sich Glinka als Russe in Spanien gefühlt haben mag. Von stampfend bis schwerelos ist fast alles dabei. Gespielt wird unter der Prämisse gute Laune im Publikum hervorzurufen oder sie zu intensivieren.

Klanglich gibt es an dem Mitschnitt nicht viel herumzukritisieren, begrenzend wirkt die rundfunktypisch (auch beim BR) eingeschränkte Dynamik und generell die Datenreduktion, aber dafür können das Orchester und der Dirigent nichts. Gemeinsam mit dem restlichen Programm (Kapustin: 5. Klavierkonzert, Rimsky: Capriccio espagnol und Borodin: 2. Sinfonie) böte sich eine glänzende Möglichkeit durch eine Neuaufnahme das romantisch-russische Repertoire mal wieder aktuell zu veröffentlichen. Gerade die „Jota“ hätte einen Erinnerungsschub mal wieder nötig, um wieder ins Bewusstsein der Musikliebhaber(innen) zu kommen. Leider steht die politische Lage in der Welt dem derzeit massiv entgegen.

 

4-5

Vladimir Fedoseyev

Radio-Sinfonieorchester „Tschaikowsky“ Moskau

Saison Russe Recording

1995

9:25 

Ersten Kontakt mit Musik erhielt der spätere Dirigent durch seinen Vater, der ein Amateur-Bajan-Spieler war. Während der Leningrader Blockade im Zweiten Weltkrieg gab er in Krankenhäusern seine ersten Konzerte. Durch Zufall überlebte er die Bombardierung des Zuges, der ihn aus dem blockierten Leningrad evakuieren sollte. Leider stoßen wir bei den kurz angerissenen Lebensläufen der „älteren“ Protagonisten unserer vergleichenden Rezensionen meist auf Kummer, Elend und Verzweiflung. Das ist ein durchgehendes Phänomen. Und in zwanzig Jahren wird man ähnliches von der heutigen Zeit zusammentragen müssen. Nach seiner Rückkehr trat er in die Mussorgski-Musikschule ein und begann mit dem bekannten Andrejew-Volksmusikorchester zu arbeiten. Danach setzte er seine Ausbildung bei Nikolaj Reznikow an der Moskauer Gnessin-Musikschule fort. 1959 wurde er der Chefdirigent des All Union Radio Russian Folk Instruments Orchestra. Seine Dirigiertechnik verbesserte er am Moskauer Konservatorium bei Leo Ginzburg. Auf Einladung von Jewgeni Mrawinski dirigierte Fedossejew ein Konzert mit den Leningrader Philharmonikern. Mit diesem Konzert gelang ihm der Durchbruch als Dirigent. Bereits 1974 wurde er künstlerischer Leiter und Chefdirigent des Moskauer Radio-Symphonieorchesters, dessen Chefdirigent er auch seit mehr als 45 Jahren noch war. Ob er auch heute noch mit 92 Jahren sein Chef ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Mit Tourneen durch Europa, Asien und die USA machte er es weltbekannt. 1994 wurde er darüber hinaus Chefdirigent der Wiener Symphoniker, ein Amt, das er bis Ende 2004 innehatte.

Die Aufnahme der „Jota aragonesa“ entstammt einer CD, die ausschließlich Werken Glinkas vorbehalten war im Studio der Moskauer Mosfilm. Selbstverständlich ist die Introduktion auch mit aufgenommen worden, jedoch macht es den Anschein, dass dieser Teil separat aufgezeichnet wurde, denn er klingt dynamisch eingeebnet und die Kontraste, die typisch für diesen Abschnitt sein sollten, sind nicht spürbar. Also kein männliches Imponiergehabe in Moskau. Das wäre heutzutage wahrscheinlich undenkbar. Die Introduktion wirkt entfernter als die folgende „Jota“, als ob sich die Tänzer(innen) in einem Vorraum getroffen hätten um dann später erst zum Tanz auf der eigentlichen Bühne zu erscheinen. Die Differenzen werden quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen.

Der musikalischen Darbietung selbst sind solche „Mätzchen“ der Regie völlig fremd. Herr Fedoseyev lässt diese leichte Musik recht schwer spielen, mit demselben Ernst und derselben Genauigkeit wie eine große Sinfonie. Die eigentliche „Jota“ klingt deutlich präsenter und sie wird zwar mit einem ehrwürdigen Tempo gespielt, sehr präzise und detailliert, aber noch lebendig genug. Was fehlt ist der sinnliche Drive und das kraftvolle Temperament. Die Kastagnetten klingen natürlich und unaufdringlich, sie sind reichlicher vertreten als üblich (geschätzt mehr als zwei Paare, vielleicht auch ein ganzes Kastagnetten-Orchester). Es wird liebevoll und musikalisch einwandfrei phrasiert, der Gestus wirkt jedoch ein wenig gediegen. Fedoseyev sieht in dem Stück kein „Schmankerl“, also keine kleine Delikatesse, die man schnell und ohne viel darüber nachzudenken wegkonsumiert. Leider spürt man auch keine rhythmischen Zuspitzungen, es geht alles im gleichen Gestus durch, allerdings anders als bei Toscanini liebevoll phrasiert. Das „Blut des Tänzers und der Tänzerin“ kommt also kaum in Wallung, der aufmerksam lauschende „Symphoniker“ unter den Musikfreund(innen) genießt den vollen, warmen Klang und das präzise Spiel und man wundert sich, wie sinfonisch die kleine Komposition klingen kann.

Der Klang aus dem Moskauer Studio ist warm, weich, rund und an der Grenze zur Opulenz. Die Blechbläser sind zu weit entfernt um einen mitreißenderen Beitrag zu leisten. Die Aufnahme wirkt recht ausgewogen, recht transparent und räumlich. Dynamik ist nicht ihre Stärke.

 

 

 

 

 

 

 

4

Loris Tjeknavorian

Armenian Philharmonic Orchestra

ASV

1999

9:28

Die Eltern des Dirigenten mussten vorm Völkermord an den Armeniern durch die Türken ins Exil in den Iran fliehen, weshalb er in Teheran aufwuchs und auch seine ersten Studien dort aufnahm. Nachdem er bereits Musiktheorie am Konservatorium in Teheran unterrichtete (das war damals dort noch möglich), nahm Herr Tjekanvorian 1963 und 64 ein Studium in Komposition bei Carl Orff in Salzburg auf. 1973 -1975 war er Chefdirigent des Opernhauses in Teheran, er nahm aber bereits 1974 Verpflichtungen in England an und übersiedelte schließlich dorthin. In Armenien war er 1989-98 und erneut von 1999-2000 Chefdirigent des Armenian National Philharmonic Orchestra in Jerewan.

Die Introduktion bringen die Musiker in dieser Einspielung ziemlich schnell hinter sich, sie wirkt sehr flott. Gediegen und ein wenig (aber nur ein wenig) gebremst wirkt hingegen die eigentliche Jota. Die Kastagnetten wirken deutlich in Szene gesetzt aber nicht aufdringlich. Das Schlagwerk generell ebenfalls, besonders die Becken, die dann gelegentlich ziemlich lärmend wirken können. Die Darstellung wirkt keinesfalls schwerfällig, detailreich und durchaus tänzerisch. Das Orchester zeigt gute Qualitäten, klanglich mag die letzte Abrundung fehlen.

Die Aufnahme wirkt nicht sonderlich dynamisch und besonders die vier solistisch auftretenden Violinen klingen seltsam metallisch. Die Transparenz ist gut, besonders die Streicher werden sehr gut aufgefächert. Anstelle der in der Partitur „gesetzten“ Cassa hat man lieber auf eine Gran Cassa zurückgegriffen, was die Durchschlagskraft im Bassbereich deutlich erhöht. Das Blech könnte etwas exponierter zu hören sein, das Holz scheint sich weitgehend auf der linken Seite versammelt zu haben, was man von den Streichern nicht behaupten kann, denn die sind besonders aufmerksam über die ganze Breite verteilt worden.

 

 

 

4

Arturo Toscanini

NBC Symphony Orchestra

RCA

1950, live

7:38

MONO  Der große italienische Dirigent war zur Zeit der Einspielung bereits 83 Jahre alt. Wenn man sich die Live-Einspielung anhört würde man das, wenn man zuvor noch kein Dirigat von Toscanini gehört hätte, niemals glauben.

Nach der ausdrucksvollen, kontrastreichen und spannend interpretierten langsamen Einleitung, die noch keine Auffälligkeiten in der Temponahme offenbart, hören wir die wahrscheinlich schnellste „Jota aragonesa“ aller Zeiten. Sie wirkt ausgesprochen „sprudelnd“ zuallererst aber drängend. Und zwar drängend ohne Unterlass. Der Dirigent scheint keine Augen für die mehr zurückgenommenen-verspielten Elemente zu haben. Dem rasanten Tempo da ein wenig nachzugeben um ihnen ein eigenes Gesicht zu geben, kommt für den Italiener nicht infrage. Alles wird in gleichermaßen schnellem Tempo durchgespielt. Hinzu tritt eine äußerst straffe Diktion, die in ausgesprochen stürmischen Zuspitzungen gipfelt. Ob die Musik noch tanzbar wäre, scheint den Dirigenten nicht sonderlich zu interessieren. Extrem mitreißende Passagen, die sich fast zu überstürzen scheinen, wechseln so mit übergangen wirkenden lyrischen Passagen ab, denen die Chance genommen wird, sich zu entfalten, mal ein wenig durchzuatmen. Das hört sich so starr an, als ob man dem Stück ein Korsett verpasst hätte. Das Orchester spielt ausgesprochen virtuos, kann aber einen gewissen gedrillt wirkenden Eindruck nicht ganz ablegen. Eine ganze Palette an Gefühlen erscheint uns insgesamt in Toscaninis Darbietung verloren zu gehen. Keinerlei Charme, nur reduziert auf motorischen Drive (davon allerdings die Höchstdosis) ist diese Einspielung nichtsdestotrotz eine einzigartige und faszinierende Einspielung, allerdings auch einzigartig einseitig.

Der Klang ist sehr präsent, ziemlich transparent (wenn auch nicht räumlich) und gnadenlos trocken. Dynamik stellt sich nur aufgrund der musikalischen Darbietung ein, de facto gibt es kaum Unterschiede in der Lautstärke.

 

 

 

4

Jiri Belohlavek

Prager Symphoniker (FOK)

Supraphon

1979

9:37

Dagegen wirkt die Einspielung Jiri Belohlaveks geradezu schwerfällig. In der Introduktion gibt es zwar auch das spanische Imponiergehabe zu hören, aber dadurch, dass dem Klang der Bass zu fehlen scheint, fehlt dem Gehabe das rechte Gewicht, um völlig überzeugen zu können.

Im spiccato zu spielenden Beginn der „Jota“ erreicht man nicht die Brillanz der Streicher bei Ansermet und schon gar nicht des LSO bei Mackerras. Die Kastagnetten-Triller klingen allerdings mit einer gewissen Eleganz und Geschmeidigkeit, den Crescendi fehlt dann wieder die Verve der Besten. Es ist auch weniger „Grundspannung“ zu spüren. Die freudige Grundstimmung ist zwar vorhanden, den Überschwang Ansermets oder Mackerras´muss man jedoch vermissen. Es wird jedoch gut gesteigert und ordentlich tänzerisch zugespitzt.

Der Klang wirkt wenig sonor. Es verbleibt stets eine gewisse Härte, die bei den Violinen besonders ohrenfällig wird. Die Aufnahme erfolgte zwar analog, jedoch hörten wir eine tschechoslowakische CD aus den 80er Jahren. Auch da macht sich die noch unausgereifte Digitaltechnik bei der Analog-Digital-Wandlung negativ bemerkbar. Die Basswiedergabe ist schwach und der Klang im Ganzen ist dünner als bei der Decca-Aufnahme von 1964. Dynamik und Transparenz für sich genommen sind ordentlich, das Schlagwerk klingt dann wieder besonders metallisch-rau und schlecht aufgelöst, also wenig fein. Die Becken übertönen über Gebühr das gesamte Orchester.

 

 

 

4

Antonio de Almeida

Moscow Symphony Orchestra

HNH, Linz, Coloured Classics

1993

9:03

Dynamisch wesentlich ausgeprägter als bei der Supraphon-Einspielung sind die Gegensätze bei der Einspielung aus Moskau. Es handelt sich übrigens um eines der damals noch nicht staatlich unterstützten, privat gegründeten Orchester in Moskau, die im Zuge der Perestroika (1989) entstanden sind. Wie es heute um es bestellt ist, wissen wir nicht. Der 2022 noch im Amt befindliche niederländische Chefdirigent Arthur Arnold trat jedenfalls wegen der russischen Invasion in die Ukraine zurück.

Die Trompeten wirken ganz besonders glanzvoll, aber auch die Hörner und Posaunen lassen sich mit ihrem überaus imposanten ff in der Introduktion nicht lumpen. Das Spiccato der Geigen gleicht eher einem Legato, die Kastagnetten verbleiben ein wenig zu artig im Hintergrund.  Das Holz ist nur recht weit im Hintergrund zu hören, sodass sich kein Dialogisieren mit den Streichern auf Augenhöhe ergeben kann. Die Steigerungsverläufe wirken temperamentvoll mit teils stürmischem Musizieren. Leider klingt es wenig knackig und straff, was man nicht zuerst dem Orchester zuschreiben darf. Der Klang in der „Jota“ ist halliger als in der Einleitung, was wir als eine schlechte Entscheidung der Techniker werten wollen, denn in der Einleitung klingt es straffer, klarer und präsenter. Das Holz, wir deuteten es bereits an ist zu weit in den Hintergrund geraten. Da die Aufnahme in einem Studio der Mosfilm entstand, war das sicher eine bewusste Entscheidung und kein unabänderlicher Nachteil von einem übergroßen, halligen Aufnahmeraum bedingt. Der Klang wirkt unausgewogen, mitunter dröhnend. Generell scheint uns das von den Musikern gebotene Potential nicht adäquat klanglich umgesetzt worden zu sein. Das Orchester hat übrigens für das Label Naxos in den frühen 90er Jahren eine recht breite Palette an Einspielungen gemacht.

 

 

 

 

3-4

Alexander Gauk

Großes Sinfonieorchester des Staatlichen Rundfunks der UdSSR

Melodija, als LP in Lizenz auch bei Westminster, online bei "Music Online"

ca. Mitte der 50er Jahre

8:28

MONO  Alexander Gauk, geboren 1893, studierte am Sankt Petersburger Konservatorium Klavier bei Felix Blumenfeld, Komposition bei Alexander Glasunow und Dirigieren bei Nikolai Tscherepnin. 1917 wurde er Leiter des Petrograder Theaters für musikalisches Drama und 1923 bis 1931 des dortigen Staatlichen Akademischen Opern- und Balletttheaters. Danach übernahm er zunächst die Leitung der Leningrader Philharmoniker (1930–34), von 1936 bis 1941 diejenige des Staatlichen Sinfonieorchesters der UdSSR in Moskau und von 1953 bis 1962 die des Rundfunksinfonie-Orchesters Moskau, das damals noch Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR hieß. Bei seinen Positionen war er somit Vorgänger Mrawinskys in Leningrad, Vorgänger Swetlanows in Moskau und ebenfalls in Moskau Vorgänger von Gennadi Roshdestwensky. Aus seiner Chef-Zeit beim Rundfunk sollte die leider nicht datierte Aufnahme stammen. Außerdem lehrte er an den Konservatorien von Leningrad, Tbilissi und von 1939 bis 1963 in Moskau (seit 1948 dort als Professor). Zu seinen Schülern zählten Jewgeni Mrawinski, Ilja Mussin und Jewgeni Swetlanow.

Das Blech strahlt in dieser fast schon historisch klingenden Aufnahme besonders stark. Es langt im ff voll zu, bei anderen wäre das ein ffff, das bei Glinka allerdings nicht vorkommt. Das p der Streicher klingt dem gegenüber geradezu säuselnd, besonders wenn man bedenkt, dass dynamische Abschattierung nicht gerade die Stärke der Klangtechnik in den 50er Jahren war. Die Geste wirkt herrisch, lässt fast an den Dialog arm gegen reich in Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ denken.

Die „Jota“ muss bei Gauk ohne das Gefühl der Leichtigkeit oder gar von tänzerischer Schwerelosigkeit auskommen, obwohl das Orchester weniger grob spielt als man es aus früherer Erfahrung erwartet hätte. Elegant klingt es aber gewiss nicht. Eher etwas burschikos-derb, besonders bei den groß angelegten, dramatischen Steigerungswellen. Die Streicher spielen und klingen homogen und durchaus weich und rund. Sie klingen (wahrscheinlich durch eine jüngere digitale Überarbeitung) weniger hart als bei Swetlanow. Die Höhepunkte erscheinen wirbelnd, nicht zuletzt durch den Klang der Aufnahme verbreitet die Einspielung jedoch keinerlei Wärme.

Obwohl monaural aufgenommen klingt die Aufnahme schon recht transparent, aber weder voll noch sonor. Die Verfärbungen halten sich in Grenzen und liegen (erstaunlich genug) auf dem Niveau der Aufnahme mit Jiri Belohlavek. Trotz des modernen Masterings ist die Einspielung kein Ohrenschmaus.

 

 

 

 

3

Keith Clark

CSR Symphony Orchestra, Bratislava

Naxos

1988

8:51

Diese Aufnahme entstand in der Konzerthalle des (heutigen) slowakischen Rundfunks, damals noch des tschechoslowakischen Rundfunks, die übrigens erst in den 80er Jahren entstand. Es gibt in Bratislava auch noch die Philharmonie in der alten Redoute, die jedoch in der Regel den Slowakischen Philharmonikern vorbehalten ist.

Die Introduktion zieht sich etwas dahin, es fehlt ihr an Spannung. Die „Jota“ erklingt in einem flotten Tempo. Die Kastagnetten klingen stark metallisch verfärbt, dass sie aus Holz sein könnten ist kaum anzunehmen. Das Orchester klingt als ganzes ein wenig dünn und immer, wenn die Violinen spielen ergibt sich ein deutlicher Verlust an Fülle. Sicher hat dieser Effekt eher klangtechnische (oder akustische) Gründe als orchestrale. Nach einer extrakleinen Besetzung hört es sich nämlich nicht an. Das Tempo ist zwar da, dennoch fehlt es an fühlbarem Brio. Es fehlt auch völlig an Charme und der Tanz wirkt selten so kühl und wenig erwärmend. Da müsste man schon selbst mittanzen um auf Betriebstemperatur zu kommen.

Den dünnen, kühlen Klang hatten wir bereits als bestimmend auch für die Interpretation angesprochen. Er ist zudem auch noch ziemlich hallig, allerdings viel weniger beim noch recht voll klingenden Blech als beim Holz und vor allem bei den Streichern. Das Orchester wirkt dessen ungeachtet gut geordnet. Der Klang ist nicht frei von frühdigitaler Härte und könnte präsenter sein. Zudem scheint nicht alles mit demselben Pegel aufgenommen worden zu sein. Insgesamt gibt zu viele klanglichen Einschränkungen aufzuzählen. Zumal die Naxos-CDs derzeit nicht mehr wirklich preiswert sind…

 

 

 

 

2-3

André Kostelanetz

and his Orchestra

Columbia, CBS, jetzt Sony

1973

7:24

André Kostelanetz entstammte einer russisch-jüdischen Familie, wurde im Jahr 1901 geboren, studierte von 1920 bis 1922 am Sankt Petersburger Konservatorium und übersiedelte anschließend in die USA, deren Staatsbürgerschaft er 1928 annahm. 1930 wurde er Dirigent bei CBS-Radio. Während des Zweiten Weltkriegs gab er zahlreiche Konzerte für die amerikanischen Truppen. Außerdem wirkte er bei verschiedenen Orchestern als Gastdirigent und wurde später Erster Dirigent der Promenade Concerts der New Yorker Philharmoniker. Kostelanetz gab eine Reihe von Werken in Auftrag bei Komponisten wie Aaron Copland, Alan Hovhaness (And God Created Great Whales), Ferde Grofé und William Schuman. Für seine Konzerte und Plattenaufnahmen arrangierte er zahlreiche Werke der populären klassischen Musik sowie des Easy Listening. Das wurde leider auch seiner Einspielung des „Capriccio brillante“ zum Verhängnis, denn der Dirigent legte Hand an und reduzierte die übliche Spielzeit der Introduktion von ca. 1:50 bis 2:00 Minuten auf 55 Sekunden. Ohne dass dabei irgendein Gewinn für die Hörer:innen herauskäme.

Das Orchester klingt wenig homogen, besonders das Blech, bei dem das natürlich besonders auffällt. Die Kastagnetten klingen wie Salven aus vielen Musketen. Im Verlauf kommen die Kastagnetten auch noch stereophon auf die beiden Kanäle verteilt von rechts und links, sodass wir uns schon wie in „Wellingtons Sieg“ wähnten. Allerdings schaukeln sie sich so gegeneinander auf, dass es schon fast vorantreibend und spannend wirkt. Jedoch wird generell auf den Effekt hin dirigiert und folglich auch gespielt. Zusammen mit dem effekthaschenden Klang ist das einfach zu viel des gut Gemeinten. Die Darbietung wirkt oberflächlich temperamentvoll, dabei jedoch nicht sonderlich detailreich. Das Stück wirkt ein wenig wie lieblos heruntergerissen. Toscaninis „Ritt über den Bodensee“ wirkt dagegen hoch seriös und zugleich musikalisch inspirierter. Bei Kostelanetz dürfen die Kastagnetten in den letzten Takten dann auch nochmal ran, von links und rechts, obwohl sie laut Partitur zu schweigen hätten.

Die LP erschien in den 70er Jahren noch als Quadro-Einspielung, was zum effektvollen Eventcharakter der Einspielung passt. Der Klang ist auch im Stereo-Format weit gestaffelt, wirkt aber künstlich und wie aufgebläht. Die Holzbläser wirken überaus präsent, wie herangezoomt und mit Spotlight versehen wie bei den Phase-4-Aufnahemen der Decca. Ganz ohne Ping-Pong-Effekte geht es auch nicht ab. Insgesamt wirkt der Klang auch noch leicht gepresst, nicht sonderlich weich und dynamisch komprimiert. Das kräftige Tutti leidet besonders unter mangelnder Transparenz. Es gibt die Einspielung auch auf SACD. Nach dem Gehörten zu urteilen lässt sich diese Investition ganz gut einsparen.

 

 

 

2-3

Carmen Dragon

Hollywood Bowl Symphony Orchestra

Capitol, EMI, Ermitage Recordings

1956

6:18

MONO  Ähnlich wie Herr Kostelanetz war auch Herr Dragon (1914-1984) ein erfolgreicher Arrangeur, seine größten Erfolge erzielte er jedoch als Komponist zahlreicher Filmmusiken. Dabei sind uns die entsprechenden Filme heute kein Begriff mehr. Ungeachtet seines Vornamens machte er übrigens seine Tochter auch noch zu seiner Namensvetterin. Wenn das mal kein Humor ist.

Noch ein Wort zum Orchester. Es handelt sich dabei um das Los Angeles Philharmonic Orchestra, das immer dann seinen Namen ändert, wenn es in der Hollywood Bowl spielt. Die Hollywood Bowl ist eine Freilichtbühne, die man am ehesten mit der Berliner Waldbühne vergleichen könnte, die aber vielleicht noch ein wenig suppenschüsselähnlicher aussieht, daher der Name „Bowl“. Das wäre so, wie wenn sich die Berliner Philharmoniker zu ihrem Saisonabschluss in der Waldbühne Berliner WaldPhilis nennen würden, oder so ähnlich.

Mister Dragon geht noch etwas weiter als Mister Kostelanetz, denn er schneidet die ganze Introduktion des „Capriccio brillante“ weg, sodass nur die „Jota aragonesa“ übrigbleibt. Seine Interpretation ist unter dem Vorbild Toscaninis zu sehen. Jedoch geht der Amerikaner nicht ganz so starr und einseitig vor und behandelt das motorische Element der Musik etwas flexibler als der Italiener. Der musikalische Ausdruck wird so vielfältiger bzw. reichhaltiger. Das LAPO klingt wohl und ist engagiert bei der Sache. Die bei Toscanini atemlose Spannung erscheint jedoch etwas abgemildert. Es wirbelt aber immer noch richtig munter. Mit Introduktion wäre die Einspielung ganz sicher ungleich höher einzugruppieren als wir es leider tun müssen.

Der Klang, der anscheinend bei Ermitage Recordings von einer alten Mono-Schallplatte digitalisiert wurde, wirkt ganz passabel, auch wenn man weiß, dass die Aufnahme bereits auf Stereo-Platten erschienen ist. Die unter dem EMI-Label kursierenden CDs tragen selbstverständlich ebenfalls die Aufnahme in Stereo. Die Abspielgeräusche sind sehr gering, aber hörbar, wenn man darauf achtet. Die Aufnahme klingt sogar monaural offen, recht räumlich und recht transparent. In Stereo klänge sie wahrscheinlich ziemlich großartig. Geschnitten bleibt sie natürlich auch in Stereo.

 

 

10.8.2024