Peter Illytsch Tschaikowsky
Sinfonie Nr. 1 g-moll op. 13
"Winterträume"
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Werkhintergrund:
"Schnee funkelt in der fahlen Wintersonne, ein Pferdeschlitten gleitet durch ein lichtes Birkenwäldchen. Eisblumen wachsen an der Fensterscheibe, in der Stube brodelt der Samowar. Tschaikowsky macht dem berühmt-berüchtigten russischen Winter mit all seinen Erscheinungen in seiner ersten Sinfonie eine stimmungsvolle Liebeserklärung.
Und doch würde statt "Winterträume" der Titel "Winteralbträume" die Sache viel genauer beschreiben: Knapp zwei Jahre plagt sich Tschaikowsky mit der Entstehung. Selbstzweifel überrollen ihn wie eine Lawine. "Ich bin nutzlos, ich bin eine Null", sagt er. Tagsüber kann Tschaikowsky mit Mühe und Not einen einigermaßen geregelten Alltag hinbekommen: Unterrichten am Konservatorium, Korrespondenz erledigen und ausgedehnte Spaziergänge unternehmen. Nachts jedoch tost ein Schneesturm in seinem Inneren.
Die Nerven liegen blank, er schläft nicht, neurotische Anfälle suchen ihn heim. Über Monate hinweg. Tschaikowsky analysiert die Ursachen:
1) Meine Arbeit an der Symphonie zeigt nur mäßige Fortschritte.
2) Meine Kollegen Rubinstein und Tarnowsky verbringen den halben Tag damit, mich zu bedrängen und zu quälen.
3) Ich werde den Gedanken nicht los, dass ich bald sterben könnte. Ohne es geschafft zu haben, wenigstens eine Symphonie zu vollenden." (BR-Klassik: Was heute geschah.)
Als Tschaikowski 1866 seine erste Sinfonie komponierte, gerade einmal 26 Jahre jung, lagen ereignisreiche Jahre hinter ihm, die seinem Leben eine komplett neue Ausrichtung gaben. Auf Wunsch seiner Eltern hatte er von 1850 bis 1859 die Rechtsschule in Sankt Petersburg besucht und war anschließend im Justizministerium in Sankt Petersburg tätig. Statt einer gesicherten Karriere im Staatsdienst begann Tschaikowski dann allerdings 1862 in dem von Anton Rubinstein gegründeten Petersburger Konservatorium ein Musikstudium und wurde von Rubinstein selbst in Komposition und Instrumentation unterwiesen. Nach seinem Abschluss wechselte er 1866 nach Moskau und fand dort bei Anton Rubinsteins Bruder Nikolai Rubinstein eine Bleibe. Dieser vermittelt ihm auch eine Stelle als Dozent für Musiktheorie am Moskauer Konservatorium.
Die Urfassung der ersten Sinfonie entstand trotz großer Selbstzweifel und körperlicher Beschwerden innerhalb weniger Monate, wurde aber von seinen ehemaligen Lehrern am Petersburger Konservatorium, Anton Rubinstein und Nikolai Zaremba, als nicht ausreichend zurückgewiesen. Tschaikowski reichte Ende 1866 eine überarbeitete Fassung ein, die die Änderungswünsche seiner Lehrer berücksichtigte. Aber nur der 2. Satz (Adagio) und der 3. Satz (Scherzo) wurden als aufführungsreif bewertet und im Februar 1867 aufgeführt, der erhoffte Erfolg blieb allerdings aus. Ein Jahr später wurde schließlich die ganze Sinfonie in einer wiederum überarbeiteten Version erfolgreich in Moskau durch Anton Rubinstein uraufgeführt. Es dauerte dann aber weitere 15 Jahre bis zur zweiten Aufführung, erneut in einer revidierten, der heutzutage bekannten Fassung. Alle Einspielungen folgen dieser Fassung.
Die mehrmaligen Revisionen zeigen einen Komponisten, der zu Karrierebeginn seinen Personalstil durch die Auseinandersetzung mit den Werken der führenden Komponisten seiner Zeit entwickelt. Im Sommer 1866 waren für Tschaikowski vor allem die „Italienische Sinfonie“ von Mendelssohn als auch die 1. und 3. Sinfonie von Robert Schumann die abendliche musikalische Lektüre auf dem Klavier. Zugleich zeugen die Überarbeitungen aber auch von der Prägung und Auseinandersetzung mit seinen Lehrern, die beide – sowohl Rubinstein als auch Zaremba – einen eher konservativen, westlich-klassisch orientierten Kompositionsstil präferierten und sich damit vom „mächtigen Häuflein“ der fünf nationalrussisch orientierten Komponisten Balakirev, Borodin, Cui, Mussorgski und Rimski-Korsakow abgrenzten. Der Komponist selbst nannte seine Sinfonie „Winterträume“, auch dem ersten („Träume auf der Winterfahrt“) und zweiten („Nebelland“) der vier Sätze gab er Beinamen, möglicherweise als Reminiszenz an seine Kindheit auf dem Lande. (Christian Wucher, Boosey and Hawkes)
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky schrieb seine 1. Sinfonie g-Moll „Winterträume“ als 26jähriger, also gleich nachdem er eine Professur (oder war er damals „nur“ Dozent, da gehen die Quellen auseinander) am Moskauer Konservatorium angenommen hatte: Es handelt sich um das früheste nennenswerte Werk des Komponisten. Modest, der Bruder des Komponisten, behauptete, die Entstehung der Sinfonie habe Tschaikowski von Anfang bis Ende mehr Arbeit gekostet als alle seine anderen Werke und sei mit erheblichem Leiden verbunden gewesen. Trotzdem blieb sie ihm sein Leben lang eine Herzensangelegenheit. Insbesondere an seine Mäzenin Nadeschda von Meck schrieb Tschaikowsky 1883, er glaube, dass sie, obwohl sie „in vielerlei Hinsicht sehr unreif“ sei, dennoch „im Grunde mehr Substanz habe und besser sei als alle meine anderen reiferen Werke“.
Tschaikowsky widmete seine erste Sinfonie seinem Zeitgenossen Nikolai Rubinstein (Bruder seines Lehrers in St. Petersburg Anton Rubinstein), der als enger Freund und bedeutender Pianist seine Karriereambitionen unterstützte. Er begann mit dem Schreiben der Sinfonie, während er erhebliche soziale Entfremdung erlebte und unter extremer Müdigkeit litt; sein Abschluss am St. Petersburger Konservatorium und seine ersten Kompositionsversuche hatten ihm nicht die kreativen Möglichkeiten geboten, die er sich erhofft hatte. Die Arbeit verlief schleppend. Dieser Zustand wurde noch dadurch verstärkt, dass Tschaikowsky es angesichts der strengen Einstellung gegenüber Form und Funktion als unpraktisch, wenn nicht gar unmöglich empfand, eine ganze Sinfonie zu schaffen, die die von ihm geforderte Qualität besaß und die seiner Meinung nach von den Lehrern und Kollegen seiner Zeit und seiner Umgebung nicht als bloße Nachahmung angesehen wurde.
Obwohl das Komponieren eines so dramatischen und anspruchsvollen Werks sowohl seinen geistigen als auch seinen körperlichen Zustand ruinierte, insbesondere angesichts des erstickenden Ethos der konservativen und sogar formalistischen Musiker um ihn herum, erhielt die Sinfonie nach ihrer Veröffentlichung sowohl vom Publikum als auch von Fachleuten gleichermaßen Beifall. Dieser Erfolg hielt über viele Jahre an und sie wurde vor allem aufgrund ihrer strukturellen Erfindungen im Kontext der russischen Musik der Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder hoch gelobt. Der Musikjournalist Tom Service schrieb 2014 für den britischen „The Guardian“, dass „Tschaikowskys erste Sinfonie die Form in einen wahrhaft russischen Stil umgestaltete“, und zwar auf eine Weise, die nicht nur „ein Territorium absteckte, das seine fünf anderen Symphonien weiter erforschten“, sondern auch „eine der unwiderstehlich attraktivsten ersten Symphonien aller Zeiten“ sei. (Manch einer mag da Einwände erheben, angesichts der Erstlings-Sinfonien von Brahms, Schostakowitsch, Mahler, Schubert, Schumann, Beethoven, Bruckner u.a. wobei Reihenfolge keine Rangfolge bedeuten soll). Service fügte hinzu, dass das Können des Komponisten besonders dadurch zum Vorschein käme, da er „alle Tricks des akademischen Lehrbuchs kenne“, währenddessen er dennoch bestimmte deutlich hervortretende musikalische Elemente russischen Charakters einbaue. Der letzte Satz der Sinfonie beeindrucke Zuhörer wie ihn selbst durch seinen durchsetzungsfähigen, kraftvollen Stil. (Das mag wohl sein, aber andererseits hat bei den „Winterträumen“ anscheinend doch jeder seine eigenen „Lieblingssätze“.)
- Satz: Träume einer Winterreise. Allegro tranquillo (g-Moll) 2/4-Takt, Sonatenhauptsatzform
Als einzige der sechs durchnummerierten Sinfonien Tschaikowskys beginnt die Erste nicht mit einer langsamen Einleitung, sondern es setzt sogleich die Exposition ein. Soloflöte und Solofagott tragen im Doppeloktavabstand das melancholische Hauptthema über einem Tremolo-Hintergrund der Violinen (Schneefall) vor. Das bezaubernde Thema hat Ohrwurmcharakter und lässt einen so schnell nicht mehr los, da es direkt ins Herz trifft. Tschaikowsky zeigt sogleich, dass er, vielleicht mit Dvorak zu den allerersten Melodikern der Musikgeschichte gehört. Es wird von Bratschen und tiefen Streichern aufgegriffen und erreicht, nachdem es mehrere farbenreiche Variationen durch verschiedene Instrumente durchläuft, alsbald einen Höhepunkt. Das darauffolgende Seitenthema der Soloklarinette (D-Dur) ist mit dem Hauptthema motivisch verwandt, kann dieses jedoch trotzdem kontrastieren. Ein drittes strahlendes, fanfarenähnliches Thema im Blech schließt die Exposition ab. Die Durchführung beschäftigt sich vor allem mit der Entwicklung des Hauptthemas in mehreren Steigerungswellen. Besonders kunstvoll ist bereits in dieser frühen Sinfonie die Rückleitung zur Reprise über einem Orgelpunkt der Bläser. In seiner 6. Sinfonie wird Tschaikowski ein ähnliches Verfahren anwenden, wenn auch nochmals dramatischer. Die Reprise selbst verläuft regulär. Eine kurze Coda beendet den formal abgerundeten Satz mit einer leisen Reminiszenz an das Hauptthema kunstvoll.
- Satz: Land der Verwüstung mitunter auch „kahles Land“ übersetzt, Land der Nebel. Adagio cantabile ma non tanto (Es-Dur)
Ein sanftes Thema der gedämpften Streicher (A) umrahmt den Satz. Das eigentliche Hauptthema ist eine sehnsuchtsvoll-verträumte Oboenmelodie (B), erneut mit Ohrwurmcharakter, die ständig zwischen Dur und Moll schwankt. Mit dieser Melodie motivisch verwandt ist auch das dritte Thema des Satzes (C), welches in den Bratschen erklingt. Sie sollen piangendo spielen, was so viel heißt wie „weinend“. Weshalb Tschaikowsky sie von Moll nach Dur wechseln lässt bleibt wohl sein Geheimnis. Die Interpreten müssen hier aufpassen, dass es nicht sogar ironisch oder gar humoristisch wirkt. Höhepunkt des Adagios, da werden die Celli mit den Hörnern vielleicht darüber in Streit geraten, denn die Celli spielen in diesem Satz ebenfalls eines der herzzerreißendsten Unisoni ihrer Orchesterliteratur, ist die letzte Wiederkehr des B-Themas in den Hörnern, ehe die Wiederaufnahme des Streicherthemas (A) den Satz ruhig ausklingen lässt.
Es sind übrigens von der Partitur nur zwei Hörner für diese Passage vorgesehen, warum, das weiß wohl nur Tschaikowsky allein, denn es sitzen für den ersten und vierten Satz sowieso vier Hörner im Orchester. Im ff der Hörner wäre in manch einer Einspielung genau diese Verstärkung wünschenswert, denn die Dirigenten lassen die umspielenden Streicher bisweilen sorglos viel zu laut bis hinein ins ff steigern, obwohl laut Partitur bei f bereits Schluss (für die Streicher) sein sollte und lassen entsprechend das Espressivo zugleich „ins Kraut schießen“, dass die führenden Hörner (ebenfalls ff) über Gebühr in Bedrängnis geraten. Da es sich jedoch um unisono geführte Hörner handelt lässt es sich kaum erhören, ob zwei oder vier Hörner mitspielen (wenn die Intonation genau stimmt). Einschlägig verdächtig sind Antal Dorati (LSO), Herbert von Karajan (Berliner Philharmoniker) und Lorin Maazel (Wiener Philharmoniker). Was da an Hörnerklang geboten wird, traut man zweien einfach nicht zu. Aber wie bereits erwähnt, das ist nur ein unbewiesener Verdacht. Bei einigen anderen kommt man zumindest ins Grübeln. Wie dem auch sei, ob zwei oder vier, die Hörner können zeigen, was sie draufhaben. Eindrucksvoll ist es auf jeden Fall. Man könnte fast eine „Gänsehaut-Garantie“ darauf geben. In den drei genannten Fällen ganz sicher.
Die Wiederaufnahme des Streicherthemas (A) lässt den Satz ruhig ausklingen. 4/4-Takt, siebenteilige Form (A-B-C-B-C-B-A)
Ob sich Tschaikowsky tatsächlich bei dem Untertitel des Satzes auf die Landschaft seines Heimatlandes bezieht oder auf seinen Gemütszustand bei der Komposition, mag jeder für sich selbst entscheiden. Ähnliches gilt natürlich auch für den Kopfsatz und für die beiden folgenden Sätze, bei denen Tschaikowsky auf Unterschriften verzichtet.
- Satz: Scherzo, Allegro scherzando giocoso (c-Moll)
Dies war der früheste Satz, der geschrieben wurde. Die Eckteile des Scherzos hat Tschaikowsky weitgehend unverändert dem 3. Satz seiner Klaviersonate in cis-Moll entnommen, die er als Student geschrieben hatte. Er transponierte ihn nur einen Halbtonschritt nach unten, nach c-Moll. Hier kommt sein Vorbild Mendelssohn am stärksten durch, fast fühlt man sich an den „Sommernachtstraum“ oder an die „Italienische“ erinnert, die ihn ja während der Komposition stark beschäftigte (allerdings um mindestens 20-30° kälter von Italien in den russischen Winter versetzt). Die eher schelmischen Außenteile mit ständig changierenden Klangfarben umrahmen einen als Trio-Mittelteil komponierten ersten Orchesterwalzer, dessen Thema in der Coda nochmals als Mollvariante über einem Paukenrhythmus erklingt. Der erste einer ganzen Reihe von Orchesterwalzern, die er noch im Laufe seines Komponistenlebens schreiben sollte, steht im Zentrum. Den Walzer hier könnte man sich vielleicht mit Schlittschuhen an den tanzenden Füssen vorstellen. Wer kann, der kann. Zwei heftige Tuttischläge beenden den Traum. Er zündet, wenn er nicht zu melancholisch gespielt wird schon sehr gut und lässt je nach Herangehensweise der Musiker einen flüchtigen Blick bis nach Wien zu, der Stadt des Walzers schlechthin.
- Satz: Finale. Andante lugubre – Allegro maestoso (g-Moll → G-Dur) 2/2-Takt, Sontenhauptsatzform (mit langsamer Einleitung),
Der letzte Satz beginnt mit einer düsteren Moll-Einleitung (lugubre). Bald wird jedoch das Tempo beschleunigt und es erklingt das fröhlich-markante G-Dur-Hauptthema im vollen Orchester. Als Seitenthema verwendet Tschaikowski die Melodie aus der Einleitung. Tschaikowsky verwendet das Volkslied „Распашу ли я млада, младeшенка“ (Raspashu li ya mlada, mladeshenka) als Grundlage sowohl für die Einleitung als auch für das zweite Thema (in h-Moll). Leider haben wir keine „menschliche“ Übersetzung aus dem Russischen gefunden, der Google-Übersetzer-Bot meinte (mit Sicherheit komplett sinnentstellend) dazu: „Werde ich meine Augen öffnen, Baby“ oder aber „Werde ich den Kleinen aufmachen, Baby“, na ja, da geben wir mal vorsorglich keine Gewähr drauf. Da gefiele uns eine an anderer Stelle gefundene Übersetzung besser: „Wo Blumen blühen“. Ebenfalls ohne Gewähr, da die Übersetzung ebenfalls aus einer zweifelhaften Quelle sprudelte. Dazu passt allerdings die Musik sehr gut. Unsere antiquarisch erworbene Partitur aus Moskau (1961) liefert leider keinerlei Hilfestellung, da ohne jede Übersetzung. Eine vertrauenserweckende menschliche Übersetzung bot schließlich: "Soll ich, die junge zarte Maid, den Acker pflügen?" Harte Arbeit stellt zumindest guten oder blühenden Ertrag in Aussicht, auch wenn die Frage vielleicht eher an einen feschen Burschen gerichtet ist, der der zarten Maid die harte Arbeit abnehmen soll. Im damaligen Russland wird man die Weise gekannt haben.
Wie dem auch sein, dieses Lied verleiht jedenfalls dem kraftvollen ersten Thema Farbe. Tschaikowsky hatte das Volksliedmotiv in das Präludium und das Finale seiner Kantate zur Eröffnung der Polytechnischen Ausstellung in Moskau 1872 (zur Erinnerung an den 200. Geburtstag Peters des Großen) übernommen. In der Reprise wiederholt Tschaikowski die Einleitung des Satzes anstelle des Seitenthemas. Das passiert plötzlich, denn die Musik bricht ab: Die langsame Einleitung kehrt zurück, steigert sich diesmal aber zu einer großen, majestätischen Darstellung des Volksliedes für volles Orchester. Anschließend endet die Sinfonie mit einem berauschenden Orchesterfeuerwerk innerhalb einer kraftvollen Coda, in manchen Darstellungen durchaus auch als Stretta ausgeprägt. Insgesamt zeigt dieser Satz bereits die Vorliebe des Komponisten für effektvoll dahinstürmende, bisweilen lärmende Finali, wie sie in den späteren Sinfonien (außer in der Sechsten) wiederkommen werden. Den Finalcharakter betont Tschaikowsky durch die Verwendung bisher aufgesparter Instrumente. Neu ins Spiel kommen die Piccoloflöte, die Posaunen, die Tuba, die Gran Cassa und die Becken. Alles was ordentlich Lärm machen kann. Die vier Hörner aus dem ersten Satz erscheinen im vierten nun ein zweites Mal.
Die komplette Besetzung: Die Sinfonie ist mit zwei Flöten, Piccolo-Flöte (nur im vierten Satz), zwei Oboen, zwei Klarinetten (A, B), zwei Fagotten, vier Hörnern (Es, F) (in den Sätzen 2 und 3 nur 2 Hörner), zwei Trompeten (C, D), drei Posaunen (nur vierter Satz), Tuba (nur vierter Satz), Pauken, Becken, großer Trommel (die beiden letzteren nur vierter Satz) und Streichern besetzt.
Hier noch einmal die Hintergründe für die Leser/innen, die es noch etwas genauer wissen wollen, andere dürfen bereits – ohne großen Verlust - zu den Rezensionen vorscrollen: Tschaikowsky begann im März 1866 mit dem Schreiben dieser Sinfonie. Die Arbeit verlief wie gesagt aus unterschiedlichen Gründen schleppend. Hier nochmals etwas detaillierter die Hintergründe, warum: Eine vernichtende Kritik von César Cui über die Kantate, die er als Abschlussstück am St. Petersburger Konservatorium geschrieben hatte, erschütterte seine Moral. Außerdem komponierte er Tag und Nacht, vor allem aber nachts, wenn die Geister des Unbewussten besonders gerne aufsteigen. Alle diese Faktoren belasteten Tschaikowskys geistige und körperliche Gesundheit enorm. Er begann an Schlaflosigkeit zu leiden, an Kopfschmerzen, die er für Schlaganfälle hielt, und war überzeugt, dass er die Fertigstellung der Sinfonie nicht mehr erleben würde (wohlbemerkt im Alter von 26 Jahren!). Eine erfolgreiche Aufführung seiner überarbeiteten Ouvertüre in F in St. Petersburg hob seine Stimmung. Ebenso ein Tapetenwechsel für den Sommer mit seiner Familie. Trotzdem arbeitete er sich bald erneut in eine nervliche und körperliche Erschöpfung hinein, indem er weiterhin tags seiner sonstigen Arbeit nachging und nachts komponierte. Ein Arzt erklärte ihn für „einen Schritt vom Wahnsinn entfernt“ und verordnete absolute Ruhe. Tschaikowski kam der Aufforderung nach.
Trotz seiner mangelnden Fortschritte holte Tschaikowsky bei seiner Rückkehr nach Sankt Petersburg Ende August die Meinung seiner ehemaligen Lehrer Anton Rubinstein und Nikolai Zaremba ein. Er hatte auf ihre Zustimmung zu seiner Komposition gehofft und darauf, dass sie zumindest Teile davon für ein Sankt Petersburger Konzert der Russischen Musikgesellschaft (RMS) annehmen würden. Beides trat nicht ein. Beide Männer lehnten es ab, die Sinfonie ganz aufzuführen. Er unterbrach die Arbeit, um seinen ersten öffentlichen Auftrag auszuführen, eine Festouvertüre auf der Grundlage der dänischen Nationalhymne anlässlich des Moskau-Besuchs des zukünftigen Zaren Alexander III. von Russland mit seiner neuen dänischen Braut. Nachdem der Auftrag erfüllt war, stellte Tschaikowsky die Sinfonie vor den Weihnachtsferien des Konservatoriums fertig. Dabei wurden auch von Rubinstein und Zaremba gewünschte Änderungen vorgenommen, die eine Voraussetzung für eine Neubetrachtung des Werks waren.
Tschaikowsky legte das Manuskript während der Weihnachtspause Rubinstein und Zaremba erneut vor. Trotz der von ihnen geforderten Änderungen missbilligten sie die Sinfonie insgesamt noch immer; diesmal jedoch ließen sie das Adagio und das Scherzo als „aufführungstauglich“ durchgehen. Diese beiden Sätze wurden am 23. Februar 1867 bei einem Konzert in St. Petersburg gespielt, jedoch ohne Erfolg. Tschaikowski, der St. Petersburg als den bedeutendsten Musikort Russlands betrachtet hatte und davon besessen war, seine Sinfonie dort als erste aufzuführen, war völlig desillusioniert – nicht nur vom St. Petersburger Publikum, sondern auch von den kritischen Urteilen seiner beiden ehemaligen Lehrer. Er verwarf alle von ihnen geforderten Überarbeitungen und blieb mit einer Ausnahme bei seiner ursprünglichen Fassung. Diese Ausnahme, so stellte sich heraus, war unvermeidlich. Auf Zarembas Drängen hin hatte er für den Eröffnungssatz ein neues zweites Thema komponiert. Er hatte die Papiere, die sein ursprüngliches zweites Thema enthielten, weggeworfen und konnte sich nicht erinnern, was er ursprünglich komponiert hatte (!). Tschaikowsky musste das von Zaremba genehmigte zweite Thema so stehen lassen, wie es war.
Zurück in Moskau war Antons Bruder Nikolai bereit, die Sinfonie aufzuführen; nur das Beharren des Komponisten auf einer Aufführung in St. Petersburg hielt ihn davon ab. Tschaikowsky erlaubte ihm nun, das Scherzo bei einem Moskauer Konzert am 22. Dezember zu dirigieren. Obwohl das Scherzo wenig Erfolg hatte, war Rubinstein dennoch bereit, das komplette Werk aufzuführen. Dies fand schließlich am 15. Februar 1868 mit großem Erfolg statt. Dem Augen- und Ohrenzeuge Kaschkin zufolge soll Tschaikowsky auf der anschließenden Feier vor Freude alle Anwesenden abgeküsst und sämtliche Gläser zerschlagen haben, was angeblich Glück bringen soll. Überraschenderweise musste die Sinfonie jedoch 15 Jahre auf ihre nächste Aufführung warten! Die Uraufführung der überarbeiteten Fassung fand am 1. Dezember 1883 in Moskau unter der Leitung von Max Erdmannsdörfer statt.
Später bekannte Tschaikowsky freimütig, dass er nicht im Einklang mit den Regeln der westlichen Sonatenform schreiben konnte – den Regeln der Exposition und der organischen Entwicklung und Entwicklung von Themen, die von „germanischen“ Komponisten wie Haydn und Mozart entwickelt worden waren. Anton Rubinstein befolgte diese Regeln in seinen eigenen Werken sklavisch (ein Grund, weshalb sie an die Werke Tschaikowskys nicht heranreichen). Dies könnte wiederum ein Handicap für Tschaikowsky beim Schreiben der „Winterträume“ gewesen sein. Er konnte keine Symphonie schreiben, die Rubinstein gefiel, indem sie strikt im klassischen Format blieb und gleichzeitig Musik, die seinen Stärken als Komponist entsprach.
Das heißt nicht, dass Tschaikowsky völlig unfähig war, innerhalb der musikalischen Form zu arbeiten. Obwohl seine natürliche Begabung für organische symphonische Verfahren sicherlich nicht unbegrenzt war (wer verfügt schon über eine unbegrenzte Begabung?), ist er sich selbst vielleicht damit nicht ganz gerecht geworden. Dies war Tschaikowskys erstes großangelegtes Werk, und Rubinsteins und Zarembas Einmischung war nicht gerade hilfreich; sie verstärkten nur die Ängste, die Tschaikowsky natürlich ohnehin gehabt hätte.
Die Erste Symphonie zwang Tschaikowsky, sich diesen Tatsachen zu stellen. Vor Beginn der Kompositionen war er damit zufrieden gewesen, seine Musik so gut wie möglich an die Praktiken früherer Komponisten anzupassen. Die „Winterträume“ zwangen ihn zu der Erkenntnis, dass er „um die Regeln herum“ arbeiten musste, um als Komponist wachsen und sich entwickeln zu können. Das bedeutete, dass er die Sonatenform und die symphonische Struktur an die Musik anpassen musste, die er schreiben konnte. Dabei zeigte er bereits bei dieser Sinfonie enormen Einfallsreichtum. Wie der Musikwissenschaftler David Brown schrieb: „Der Anfangsabschnitt des ersten Satzes reicht bereits aus, um die uralte Legende zunichte zu machen, dass Tschaikowsky keine wirkliche symphonische Begabung hatte.“
Im Gegensatz zu den zukunftsorientierten Tendenzen der Fünf blieben Anton Rubinstein und seine Anhänger neuen Trends in der Musik gegenüber misstrauisch, ja sogar feindselig. Stattdessen versuchten sie, in ihren eigenen Werken das zu bewahren, was sie für das Beste der westlichen Tradition der jüngsten Vergangenheit hielten. Obwohl er nicht als Komponist aktiv war, bildete Nikolai Zaremba keine Ausnahme von dieser Regel. Er vergötterte Beethoven, insbesondere dessen Spätwerke, aber sein persönlicher Geschmack war nicht weiter fortgeschritten als der von Mendelssohn. Rubinstein, selbst ein sehr produktiver Komponist, war fast ebenso rückwärtsgewandt wie Zaremba und schrieb in einem „germanischen“ Stil, der dem von Schumann und Mendelssohn ähnelte. („Germanisch“ ist hier immer als Erweiterung von Deutsch gemeint und schließt ganz besonders die Österreicher mit ein, man betrachtete die Musikgeschichte eben von Russland aus, da verschwimmen anscheinend die Grenzen, die damals sowieso nicht lange Bestand hatten.) Obwohl Rubinstein als Lehrer versuchte, die Vorstellungskraft seiner Schüler zu fördern, erwartete er von ihnen auch, dass sie so konservativ blieben wie er selbst.
Während der Sommerferien mit seiner Familie im Jahr 1866, als sich die Abendaktivitäten der Musik zuwandten, spielte Tschaikowski ausnahmslos Mendelssohns Italienische Sinfonie, Schumanns Erste oder Dritte Sinfonie oder Das Paradies und die Peri. Mendelssohns Präsenz ist in „Winterträume“ stark, mit Anmut, Leichtigkeit und Tempo durchgängig. Besonders das Scherzo könnte aus „Ein Sommernachtstraum“ stammen. Sowohl der Untertitel der Sinfonie als auch die der ersten beiden Sätze – „Träume einer Winterreise“ und „Land der Trostlosigkeit (um „ödes oder kahles Land“ mal etwas ins Gemüt mitzunehmen), Land der Nebel“ – verraten eine mögliche Vorliebe für Mendelssohns Fähigkeit, in sinfonischer Form ein persönliches Erlebnis auszudrücken, das aus Emotionen beim Anblick einer romantischen Landschaft entsteht, obwohl Tschaikowsky diese Idee nicht bis zum Ende durchführte (die letzten beiden Sätze haben keine Untertitel).
Trotz dieser Einflüsse sind, wie der russische Schriftsteller Daniel Zhitomirsky erklärt, „das Thema, die Gattung und die Intonation“ von Tschaikowskys Werken eng mit dem russischen Leben und der russischen Volksmusik verwoben.“ Warrack stellt fest, dass „die obsessiven Terzen russischer Volkslieder Tschaikowskys Melodien durchdringen; und auch das Intervall der fallenden Quarte muss ihn irgendwann befallen haben, so stark färbt es die Erfindung der frühen Symphonien, ist immer prominent in den Melodien platziert und dient eher als emotionale Färbung denn als Andeutung einer harmonischen Progression.“
Tschaikowsky hatte also gewissermaßen bereits „seinen Ton“ gefunden. Seine Quellen sind: Strenge, am klassisch-frühromantischen Vorbild orientierte sinfonische Form; eine russisch gefärbte Thematik und Melodiebildung; eine stark von subjektiven Wahrnehmungen und Gedanken geprägte romantische Tendenz, die jedoch weniger objektiv-literarische Vorlagen oder Naturereignisse nachzuahmen versucht, als vielmehr den subjektiven Reflex darauf.
Von all den Qualen des Entstehungsprozesses merkt man dem fertigen Werk eigentlich nur wenig an. Man sollte es so spielen, als sei es bereits ein Meisterwerk, ohne den jugendlichen Gestus dabei zu vergessen. Auf keinen Fall sollte es sich nach einem „Alterswerk“ anhören.
Bei den Einspielungen gehören die meisten zu Gesamtaufnahmen der durchnummerierten Sinfonien Tschaikowskys (d.h. meist ohne „Manfred“ und ohne die unvollendeten oder die von fremder Hand vollendeten). Dem entsprechend sind sie nur selten als einzelne Produktion veröffentlicht worden. Man traut der ersten Sinfonie (wie auch den beiden folgenden) anscheinend alleine nicht zu, am Markt bestehen zu können. Innerhalb einer Gesamtaufnahme scheinen sie besser den Weg zu den Musikliebhaber/innen zu finden. Ob sich das bei einer neuen Generation von Dirigenten und Produzenten und vor allem bei der geringen Nachfrage nach klassischer Musik überhaupt ändern wird, bleibt abzuwarten.
Zusammengestellt bis 23.1.2025

Der junge Peter Tschaikowsky ungefähr zur Zeit der Komposition der Ersten Sinfonie genannt: "Winterträume"
Auflistung der 52 rezensierten Einspielungen, die ausführlichen Besprechungen folgen wie immer im Anschluss:
5
Vladimir Jurowski
London Philharmonic Orchestra
LPO Live
2008, live
5
Antal Dorati
London Symphony Orchestra
Mercury
1965
5
Nikolai Golowanow
Großes Sinfonieorchester des Allunionsradios und des zentralen Fernsehens
Urania, Melodija
1947
5
Gennadi Roshdestwenski
Großes Sinfonieorchester des Allunions Rundfunks und Fernsehens der UdSSR
Melodija
1972
5
Jewgeni Swetlanow
Staatliches Sinfonieorchester der Russischen Föderation
Exton
1993
5
Paavo Järvi
Tonhalle Orchester Zürich
Alpha
2021
5
Yuri Temirkanow
Royal Philharmonic Orchestra, London
RCA
1993
5
Jewgeni Swetlanow
Akademisches Sinfonieorchester der UdSSR
Melodija, MCA-MFSL
1967
5
Leonard Bernstein
New York Philharmonic Orchestra
CBS-Sony
1970
5
Bernard Haitink
Concertgebouw-Orchester Amsterdam
Philips
1979
5
Lorin Maazel
Wiener Philharmoniker
Decca
1964
4-5
Igor Markewitsch
London Symphony Orchestra
Philips, Newton
1966
4-5
Samuel Friedman
Nishny Novgorod Philharmonic Orchestra
Arte Nova
P 1995
4-5
Mikhail Pletnev
Russian National Orchestra
Pentatone
2011
4-5
Alexander Sladkovsky
Tatarstan National Symphony Orchestra
Sony
2019
4-5
Michael Tilson Thomas
Boston Symphony Orchestra
DG
1970
4-5
Andrew Litton
Bournemouth Symphony Orchestra
Virgin
1989
4-5
Pablo Heras-Casado
Orchestra of Saint Luke´s
Harmonia Mundi
2015
4-5
Vasily Sinaisky
BBC Philharmonic, Manchester
BBC Music
2004
4-5
Eugene Ormandy
Philadelphia Orchestra
CBS-Sony
1959
4-5
Mariss Jansons
Oslo Philharmonic Orchestra
Chandos
1984
4-5
Oleg Caetani
Melbourne Symphony Orchestra
ABC Classic
2008, live
4-5
Jewgeni Swetlanow
BBC Symphony Orchestra, London
Ica Classics
2002, live
4-5
Christoph Poppen
Deutsche Radio Philharmonie
Oehms
2007, live
4-5
Václav Smetácek
Prager Sinfonieorchester
Supraphon
1961
4-5
Mstislaw Rostropowitsch
London Philharmonic Orchestra
EMI
1976
4-5
Herbert von Karajan
Berliner Philharmoniker
DG
1979
4-5
Riccardo Muti
New Philharmonia Orchestra, London
EMI, Brilliant Classics
1979
4-5
Vasily Petrenko
Royal Liverpool Philharmonic Orchestra
Onyx
2015
4
Adrian Leaper
Nationales Polnisches Radio-Sinfonieorchester, Kattowitz
Naxos
1991
4
Kurt Masur
Gewandhausorchester Leipzig
Teldec
1989
4
Neville Marriner
Academy of Saint Martin in the Fields
Capriccio
1990
4
Maurice Abravanel
Utah Symphony Orchestra
Vox, Vanguard
1973
4
Neeme Järvi
Göteborger Sinfonieorchester
BIS
2003
4
Dmitri Kitajenko
Gürzenich Orchester Köln
Oehms
2009, live
4
Mikhail Pletnev
Russian National Orchestra
DG
1995
4
Semyon Bychkov
Tschechische Philharmonie, Prag
Decca
2017, 2018 oder 2019
4
Zubin Mehta
Los Angeles Philharmonic Orchestra
Decca
1977
3-4
Claudio Abbado
Chicago Symphony Orchestra
Sony
1991
3-4
Wladimir Fedossejew
Tschaikowsky Symphony Orchestra des Moskauer Rundfunks (seit 1993 mit diesem Namen, in der Vergangenheit mehrmals umbenannt)
Relief
1999
3-4
Waleri Gergijew
London Symphony Orchestra
LSO Live
2012
3-4
Wladimir Fedossejew
Großes Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR (heute: Tschaikowsky Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks)
Melodija
1984
3
Bystrik Rezucha
Slowakische Philharmonie Kosice
Mediaphon
P 1993
3
Gerard Schwarz
Seattle Symphony Orchestra
Naxos, ehemals Delos
1992
3
Vyatcheslav Ovchinikov
Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks und Fernsehens, auch Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR genannt
Warner, Olympia
AD ?
Unveröffentlichte Live-Aufnahmen, gehört bei Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks:
5
Dima Slobodeniouk
Wiener Symphoniker
ORF
2022, live
5
Paavo Järvi
HR-Sinfonieorchester
HR
2012, live
5
Andrey Boreyko
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
SWR
2009, live
4-5
Franz Welser-Möst
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO)
BR
2017, live
4-5
Seiji Ozawa
Berliner Philharmoniker
RBB
1992, live
4-5
Erina Yashima
HR-Sinfonieorchester
HR
2025, live
4-5
Axel Kober
Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern
SR
2024, live
3
Allessandro Bonato
Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
RAI, vom SWR gesendet
2023, live
Die detailierten Rezensionen:
Der Hinweis GA bedeutet, dass zur Aufnahme der Ersten Sinfonie in derselben Bestzung auch die übrigen fünf durchnummerierten Sinfonien eingespielt wurden. Manchmal ist sogar auch noch die "Manfred"-Sinfonie dabei. Die Bewertung bezieht sich jedoch ausschließlich auf die Erste Sinfonie.
5
Vladimir Jurowski
London Philharmonic Orchestra
LPO Live
2008, live
11:16 11:06 7:25 11:33 41:20
GA Diese Aufnahme entstand während eines Konzerts in der Royal Festival Hall, Southbank Centre, in nur einem Take. Das heißt, es wurden keinerlei Korrekturen mittels Schnitttechnik angebracht. Das LPO befand sich anscheinend 2008 auf einem Niveau, dass man von früheren Zeiten nicht unbedingt von ihm gewöhnt war. Nachdem wir die Einspielung kennengelernt haben, kann man mehr als nur vermuten, dass sich die Konkurrenz aus London, ob sie nun LSO, Philharmonia Orchestra oder Royal Philharmonic Orchestra heißt, „warm anziehen“ muss. Innerhalb seiner eigenen Geschichte dürfte sich das Orchester, zumindest einmal, wenn man von dieser Live-Aufnahme ausgehen darf, auf einem „einschüchternden“ Höhepunkt befunden haben. Oder aber es erlebte einfach nur einen ganz besonderen Glückstag, eine Sternstunde. Allen voran die makellosen Hörner.
Der erste Satz wird jedoch von allen Orchestergruppen mit Hingabe und Intensität gespielt. Die Durchführung erreicht ein Intensitätsniveau, wie man sie allenfalls in den entsprechenden Passagen der letzten drei Sinfonien Tschaikowskis erwartet hätte. In Hinsicht auf Kraft, pointierte Rhythmik und dramatische Schärfe kommen nur wenige andere Einspielungen mit und wenn (z.B. Dorati, Golowanow), dann klingen sie nicht so gut. Den lyrischen Pausen der Besinnung oder Rekreation wird jede Trägheit genommen. Bestechend, wie klar und eloquent das Holz hervorgehoben wird. Der ganze Satz wirkt wie durchpulst von jugendlichem Tatendrang. Wenn die Schlittenfahrt auf holpriger Strecke noch lebensgefährlicher sein soll, wenn es also wie auf Leben und Tod gehen soll, dann muss man schon auf die wesentlich älteren Einspielungen von beispielsweise Dorati oder Golowanow zurückgreifen.
Der zweite Satz wird nicht zu einer Aneinanderreihung oder gar einer Parade von hübschen Melodien. Geschlossenheit dominiert, wobei der vordringlichste Eindruck die Auflockerung des ganzen Satzes durch eine geschickte Agogik ist. Atmosphäre und Poesie stellen sich wie von alleine durch ausgesprochen gelungene solistische Leistungen bzw. die kollektiven Leistungen der Orchestergruppen ein. Beispielhaft das ausgesprochen tonschön, flexibel und souverän geblasene Oboen-Solo. Zusätzlich aufgewertet mit einem exzellenten Hauch von Vibrato. Wenn man sagen müsste, welches Oboen-Solo denn nun das schönste des ganzen Vergleiches ist, so müsste man sich ganz genau nochmal das BRSO (Welser-Möst) und die Berliner mit Karajan gegen diese Londoner anhören. Und vielleicht auch nochmal die Wiener Philharmoniker (Maazel) mit ihrem ganz außergewöhnlichen Oboen-Klang. Aber glücklicherweise fragt uns niemand. Die anderen Spieler der Holzgruppe stehen ihm nicht nach, sie klingt als Ganzes warm-leuchtend und fabelhaft weich. Das gleiche lässt sich auch von den Streichern und sogar vom Blech sagen. Wie sinnlich alleine die Violinen klingen! Man mag es kaum glauben, wie sich der Charakter des Orchesters gegenüber den Aufnahmen früherer Jahre, ob nun mit Tennstedt, Haitink, Masur, Welser-Möst oder Solti gewandelt hat. So haben die Celli überhaupt keine Probleme gegen die aufbrausenden Violinen mit ihrem wunderbar expressiv gespielten Unisono durchzukommen. Das spricht sowohl für die Innenbalance des Orchesters als auch für die Wachsamkeit des Dirigenten. Gleiches gelingt den beiden ungeheuer klar aufspielenden Hörnern, die das ff der Streicher nochmals überragen können. Der Satz wird so gespielt wohl niemanden ungerührt lassen.
Das Scherzo erklingt in einem fast schon rasenden Tempo, einem scharf pointierten Rhythmus und einem spannend-irrlichterndem tänzerischen Gestus. Bei der Wiederaufnahme nach dem Trio, das den ersten Orchesterwalzer aus Tschaikowskys Feder festhält, gesellt sich noch eine hervorragend körperhaft abgebildete und das ganze geforderte Spektrum von f bis ppp auch realisierende Pauke zum transparent aufspielenden Orchester hinzu. Der als Trio fungierende Walzer klingt ziemlich zügig und wunderbar fließend und gerade wegen seiner makellosen Schönheit besonders melancholisch. Liegt nicht gerade die makellose Schönheit ganz besonders dicht an der Vergänglichkeit?
Den vierten Satz müsste man in dieser Einspielung eigentlich noch vor den anderen loben, denn Hand aufs Herz, es ist der am löchrigsten komponierte. Und er kommt uns bei Jurowski keine Sekunde zu lang vor, was sich nur von den wenigsten Darbietungen behaupten lässt. Mit Volldampf, voller Kraft oder wie unter vollen Segeln wirkt er besonders mitreißend gestaltet und mit dem allseits enthusiasmiert aufspielenden Orchester wirkt er geradezu aufgewertet. Man merkt, wie sehr gerade eine messerscharfe Präzision verbunden mit einem temperamentvollen Tempo viel Frische und Lebensfreude in den Satz zaubert. In dieser meisterhaften Darbietung erleben wir (live und ohne doppelten Boden!) ein frühes Meisterwerk. Kein Wunder, dass man vom Publikum nur Stille mitbekommt, so gebannt oder sprachlos wie es während der Aufführung gewesen sein muss. Bis auf den Schlussapplaus, da war es schier „aus dem Häuschen“ vor Begeisterung, denn so hatte sicher noch niemand die Erste Tschaikowskys gehört. Es sei denn man konnte ein Konzert mit Antal Dorati und dem LSO 1965 besuchen, das in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zur Einspielung von Mercury stattgefunden haben könnte. Davon gleich im Anschluss mehr.
Der Klang der Aufnahme ist voll, plastisch und körperhaft. Den Hörer erwartet eine glasklare Transparenz bei jeder Lautstärke und bei jeder Besetzungsstärke. Der Raumeindruck wirkt bei guter Raumtiefe natürlich mit einer leichten Tendenz ins Trockene. Wichtig dabei ist natürlich, dass er die entstandene Atmosphäre ungeschmälert wiedergeben kann. Das scheint in hohem Maß der Fall. Das Holz kann man in seiner ganzen Schönheit kristallklar und schön präsent erleben. Die Gran Cassa hat ordentlich Wucht und Tiefgang, die Bässe überhaupt wirken tief und satt. Insgesamt wirkt das Klangbild ganz exzellent ausbalanciert. Die Aufnahme lässt wie auch die Interpretation als Vorgänger in der Aufnahmegeschichte des Werkes besonders die Einspielung Antal Doratis erkennen.
5
Antal Dorati
London Symphony Orchestra
Mercury
1965
10:14 9:42 9:41 14:10 43:47
GA Das LSO war in den 60er Jahren als Plattenorchester besonders beliebt. So kamen Mitte der 60er fast gleichzeitig zwei Gesamtaufnahmen der Sinfonien Tschaikowskys auf den Markt. Mit Antal Dorati (Mercury) und Igor Markewitsch (Philips). Bei den anderen Sinfonien mag es anders sein, bei der ersten jedoch begeisterte uns die Einspielung mit Dorati ganz besonders.
Ähnlich der vorstehenden Einspielung mit Jurowski und dem LPO wird der ersten bei Dorati ebenfalls der Wert eines Hauptwerkes eingeräumt ohne ihm den jugendlichen Grundgestus eines „Erstlings“ vorzuenthalten und was genauso wichtig ist, es wird mit voller Hingabe musiziert.
Der erste Satz Allegro tranquillo hat sehr viel von einem Allegro allerdings sehr wenig bis gar nichts tranquillomäßiges an sich. Da ist von Beginn an viel Schwung und Entdeckerfreude mit im Schlitten, jede Menge Energie und Rhythmusgefühl. Dies ist wohl die dynamischste und draufgängerischste Darstellung des ersten Satzes überhaupt, denn sie stellt diesbezüglich ähnlich geartete wie die Jurowskis oder Bernsteins noch ein wenig in den Schatten. Es wird völlig klar, dass es Tschaikowsky bei diesem Satz nur um Tagträume gehen konnte, denn bei diesem Impetus wäre man bei Träumen während des Schlafes sofort aufgeschreckt, denn es scheint Dorati bei dieser Schlittenfahrt um Leben und Tod zu gehen. In der Partitur steht Poco piu animato, von wegen poco, bei Dorati geht die Schlittenpost fast so schnell los, als ginge es im freien Fall bergab. Das pralle, hoch akzentuierte Spiel wirkt mehr als lebhaft, voller Dramatik, ja Drastik und geprägt von heftigen Akzenten. Das LSO, in jener Zeit sowieso bereits zuvor in vielen Einspielungen (auch bei Decca) von uns bewundert, befindet sich ebenfalls in bestechender Topform und spielt voller Leidenschaft. Die instrumentalen Wechselspiele erhalten nicht die liebevolle Ausgestaltung wie bei Bernstein, bei Dorati scheint es wichtiger, dass sie mit einer gewissen rasanten, ja rasenden Atemlosigkeit wie unter einem Spannungsbogen gezwungen erscheinen. So als hätte man die Geschicke gar nicht mehr in eigener Hand. Eine Fahrt auf Leben und Tod bei der nur noch das Schicksal rettend eingreifen kann. Besonders natürlich in den Höhepunkten der Steigerungsverläufe während der Durchführung. Die ganze Dynamik des begeisternd aufspielenden Orchesters wird hier ausgereizt. Eher doch wohl ein Albtraum als ein Tagtraum. Grandios umgesetzt.
Der zweite Satz verliert bei Dorati fast seinen Charakter als typisch langsamer Satz. Dabei sollte er zwar Adagio cantabile aber eben auch „ma non tanto“ gespielt werden. Also in einem gesanglichen Adagio-Tempo, aber eben auch „nicht so sehr“. Mit dem zügigen Tempo wird ihm jedenfalls die letzte Larmoyanz ausgetrieben. Atmosphärisch wirkt er trotzdem, aber er nähert sich so dem „kahlen“ oder oft auch als „wüstes“ Land übersetzten der Satzunterschrift treffend an. Dazu passt auch die damals mehr oder weniger allen Londoner Orchestern eigene helle und hart aufspielende, herbe Oboe sehr gut. Härter noch als die Oboe bei Bernstein und den New Yorkern. Sie wird auch noch deutlich lauter wiedergegeben als die sie eigentlich ebenso laut umspielende Flöte. Den Violen kann es bei diesem Tempo kaum gelingen so richtig zu klagen, keine Spur von piangendo (weinerlich). Dazu ist es einfach viel zu schnell (noch dazu in Dur). Sie klingen dennoch super und sie bewegen das Herz der Hörer/innen, was den folgenden Celli in noch höherem Maß wundervoll gelingt. Wer könnte ihrer Melodie und dann auch noch mit dieser Inbrunst gespielt überhaupt widerstehen? Sie können sich im Wettstreit mit den Violinen gut behaupten. Die Flöte muss hingegen ein wenig gerügt werden, denn bei T. 88 und 89 spielt sie nicht das geforderte p, sondern sie geht mit einem schonungslosen f dazwischen. Den sonst so rigiden und höchst aufmerksamen Herrn Dorati scheint es nicht gestört zu haben. Die Hörner sind mit die besten des ganzen Vergleiches. Sie lassen ein ff zum Niederknien hören, so als ob sie die ebenfalls zum heftigsten ff angetriebenen Streicher gebieterisch übertrumpfen möchten. Was im Übrigen gelingt. Was für eine begeisternde Wirkung, die alleine schon Gänsehaut provozieren könnte. Es ist aber nicht die Lautstärke, es ist die gewisse erhabene Intensität, die viele andere Hörner unseres Vergleiches dagegen erblassen lassen. Zur Erklärung dieses Phänomens könnte dienen, dass kein geringerer als Barry Tuckwell von 1955-68 Erster Hornist dieses Orchesters war. Es keimte übrigens der Verdacht bei uns auf, dass statt der zwei von Tschaikowsky in diesem Satz geforderten Hörner alle vier beim Unisono beteiligt waren. Wer könnte es erkennen bei einem haarscharf gespielten Unisono? Noch ein paarmal drängte sich dieser Verdacht auf (so bei den Wienern mit Maazel und den Berlinern mit Karajan). Sie sind ja da und warum sollten die beiden anderen nur zuhören? Auf diese Idee könnte man also durchaus kommen. Erst gegen Ende des Satzes kommt eine für einen langsamen Satz typische Stimmung auf. Sehr aufregend.
Im Scherzo hingegen wirkt (wie bei Bernstein) das Tempo etwas gezügelt. Es wird jedoch sehr kontrastreich und prägnant musiziert, weshalb es eher stampfend als elegant wirkt. Weniger ein Ballett von zarten Elfen auf Schlittschuhen als ein Gnomen-Reigen. Erneut fällt die Flöte mit ihrem saftigen f auf, wo sie p zu spielen hätte (T. 37), was die Oboe ihr zuvor allerdings bereits vorgemacht hat. Anscheinend saß man ziemlich dicht an den beiden Hauptmikrofonen. Eleganz gibt es allein im Walzer-Trio, wodurch Dorati letztlich eine maximale Kontrastwirkung erreicht. Er überrascht mit einer gewissen Langsamkeit und erfreut mit der Bereitstellung glasklar gebrachter, reich wirkender Nebenstimmen. Die Soli werden alle auf den Punkt gespielt, letztlich hat man Mendelssohn nicht aus den Augen verloren, nur stark russifiziert. Insgesamt wirkt auch dieser Satz sehr ausdrucksstark. Sehr präsent gebrachte Pauke in bester dynamischer Abstufung.
Auch die Darbietung des letzten Satzes gehört der langen Spielzeit zum Trotz zu den kontrastreichsten und mitreißendsten überhaupt. Für die lange Spielzeit ist vor allem der sehr langsam genommene und sehr düster wirkende Beginn (Andante lugubre) und die langsam genommene „Ruhe vor dem Sturm“ verantwortlich. Ob Dorati so verfährt, damit er die Accelerandi und Stringendi noch mitreißender ausgestalten kann? Das Allegro maestoso gelingt wie bei Jurowski sehr präzise mit einem Blech von erhabener Strahlkraft. Den Trompeten, wenn sie allein oder als Gruppe hervorkommen, fehlt vielleicht aufnahmetechnisch bedingt ein wenig Bindung zum Gesamtklang. Das könnte manch empfindliches Ohr stören. Falls das so wäre, könnte man ja zu Jurowskis Einspielung greifen, dessen vierter Satz ansonsten ebenso herausragend gelungen ist und bei dem die Trompeten nie die Bindung zum restlichen Blech verlieren. Andere werden die unmittelbare Präsenz und die hautnahe Nähe zum Orchester (und gerade zu den Trompeten) bei der Einspielung Doratis besonders schätzen. Lediglich die Gran Cassa konnte noch nicht ihrer natürlichen Dynamik gemäß untergebracht werden. Das ist aber ein Bedauern auf höchstem Niveau. Der Hymnus ab T. 431 wird etwas schneller genommen als bei Bernstein, ohne ihn dadurch flüchtiger erscheinen zu lassen. Uns gefällt es, dass er das statische so weitgehend verliert. Das Allegro vivo ist ausgeformt als eine absolut mitreißende Stretta. Extrem rhythmisch und von einem Blech gespielt, dass einem fast die Spucke wegbleibt.
Der Klang der Aufnahme erfreut mit einer anspringenden Präsenz als ob man den Platz des Dirigenten hätte einnehmen dürfen. Er wirkt noch etwas klarer und präsenter als bei der diesbezüglich schon ausgezeichneten Bernstein-Aufnahme. Wir hören ein recht lautes, beständiges Bandrauschen. Da wurde nichts geschönt. Der Klang ist klangfarbenreich, sehr gut gestaffelt und sehr transparent. Die Dynamik begeistert auch heute noch. Für viele immer noch referenzverdächtig.
5
Nikolai Golowanow
Großes Sinfonieorchester des Allunionsradios und des zentralen Fernsehens der UdSSR
Urania, Melodija
1947
11:34 11:02 6:49 9:58 39:23
1881 in Moskau geboren wurde Golowanow 1937 als Nachfolger Alexander Orlows künstlerischer Leiter und Chefdirigent des damals noch mit einem besonders sperrigen Namen ausgestatteten Großen Symphonieorchesters des Allrussischen Radiokomitees und des Opernradiotheaters des Allrussischen Radiokomitees. Das kann man sich ja kaum merken. Er interpretierte die Werke oft eigenwillig, indem er beispielsweise Tempi nach seinen Vorstellungen anglich, Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung ohne die Zwischenspielpromenaden spielte und in Mozarts Requiem eine Basstrompete einsetzte, wie es Kurt Sanderling beschrieb. Er blieb bis zu seinem Tod 1953 Chefdirigent des Orchesters, das uns auch mit seinen späteren Chefs Gennadi Roshdestwenski (1961-1974) und Vladimir Fedosseyev (1974 bis heute) nochmals mit Tschaikowskys Winterträumen begegnen wird.
Seine Einspielung, die leider wegen ihrer historischen Klangqualität wenig für audiophil orientierte Hörer/innen taugen wird, scheint gegenüber fast allen anderen in unserem Vergleich vertretenen aus einer anderen musikalischen Welt zu kommen. Von den uns bekannteren Dirigenten der Vergangenheit gleicht seine Herangehensweise an Musik noch am ehesten der von Leopold Stokowski (in Teilen auch von Wilhelm Furtwängler). Von den nachfolgenden Dirigenten haben Pletnev und Sladkowsky noch stärkere Verbindungen zum Vorbild und zartere am ehesten noch Yuri Temirkanov. Von den westlichen Dirigenten scheint Gerard Schwarz dem großen Vorbild (allerdings mit wenig Erfolg) nachzueifern.
Diese älteste uns bekannte Einspielung ist von Beginn an hoch gespannt und besonders gestisch orientiert. „Winteralbträume“ würde zu ihr von allen Einspielungen am besten passen. Und nicht etwa, weil das Orchester albtraumhaft schlecht spielen würde, ganz im Gegenteil. Diese Tour de force müsste ihm heute erst einmal ein anderes nachspielen, denn man kann sagen, dass jede einzelne Passage das für sie als passend erachtete Tempo und den für passend erachteten Ausdruck erhält. Das hat einen ganz besonders lebhaften Ausdruck zu Folge. Enorme Stauungen und rasante bis rasende Beschleunigungen wechseln sich ab. Aber anders als bei Gerard Schwarz, der im ersten Satz ähnliches versucht (mit der Seattle Symphony), wirkt dieses Vorgehen nicht aufgesetzt, sondern aufregend und kolossal spannend. Ein Wechselbad der Gefühle erwartet den aufmerksamen Hörer also. Höchste Aufmerksamkeit wird auch vom Orchester eingefordert, denn es muss immer auf dem Sprung bleiben, wenn es nicht Fehl gehen will. Die Tempi wirken zumindest auf uns höchst spontan und einfallsreich, man muss jedoch davon ausgehen, dass da sorgfältigste Probenarbeit voranging, denn sonst könnte das Orchester nicht mit dieser staunenswerten Präzision folgen. Immerhin war Golowanow bereits zehn Jahre Chefdirigent des Orchesters als diese Aufnahme entstand, man kannte sich also. Jahrzehnte später ergab sich mit demselben Orchester mit den Dirigenten Fedosseyew und Ovchinnikow dagegen ein desillusionierendes Bild der Einfallslosigkeit. Dagegen hört man bei Golowanow, bei dem der Dirigent offenbar noch eine Art Nachschöpfer ist und nicht bloß ein notenlesendes, selbst jedoch weitgehend willenloses, ausführendes Organ, wobei bei Ovchinnikow noch eine gewisse Trägheit beim Notenlesen dazuzukommen scheint. Man muss zu einer gewissen Drastik greifen um den Unterschied einigermaßen herauszuarbeiten. Einen goldenen Schnitt von kreativ wirkendem Dirigat einerseits und Notentreue, die per se ja begrüßenswert ist, andererseits und zudem noch verbunden mit einem scharfen analytischen Blick hören wir in der Einspielung mit Roshdestwenski. Sie verfügt von all den Einspielungen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR bzw. dem Tschaikowsky Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks (wie auch immer das Orchester gerade staatlicherseits benahmt wurde) zudem über die beste Klangqualität. Ihr wenden wir uns gleich im Anschluss an diese Besprechung zu.
Doch nun noch schnell zum zweiten Satz. Hier überrascht uns der Dirigent weniger mit der nun schon zu erwartenden fantasievollen Phrasierung, sondern mit besonders stimmungsvollen aber auch extrem langsamen Tempo. Das Oboen-Solo ist von der Intonation her gefährdet. Es gelingt dem Dirigenten trotzdem eine stimmungsvolle Szenerie zu entwerfen und sogar noch eine gewisse tänzerische Note zu vermitteln. Und trotz der rudimentären Klangtechnik erklingt der Satz reicher an Nebenstimmen als üblich. Die Hörner zeigen imponierende Kraftentfaltung bis zum abschließenden ff. Stets erheben sie sich triumphierend über das ebenfalls bis zum ff getriebenen Espressivo der Streicher. Die abschließende Passage wirkt hingegen weniger erfühlt.
Das Scherzo erklingt drängend und mit viel Kraft. Es ist eines bei dem die flinken Elfen aus dem „Sommernachtstraum“ ersetzt werden durch grobe Trolle, die allerdings mit viel Schnellkraft und nie plump, wie man sie sich landläufig vorstellt, sondern mit viel Geschick ihren Spuk vorantreiben. Kaum einmal wird der Walzer so spannend vorbereitet, so dass sein Einsetzen als Überraschungscoup wirken muss. Bei uns allerdings weniger, denn es war unsere 34. Einspielung, die zu Gehör gelangte. Er entfaltet sich zu einer leidenschaftlichen Größe, jedoch immer wie gestört durch eine untergründige Unruhe. Leider stellt uns die Aufnahmetechnik die Musik im Walzer nur mit schwankendem Aufsprechpegel zur Verfügung. Steigerungen werden fast immer noch mit einer gewissen Beschleunigung „verschärft“, was in diesem Fall zu einer deutlichen Dramatisierung des Satzes führt. Bei minderen Dirigenten läuft eine ähnliche Gestaltung gerne auch mal völlig ins Leere, wenn die erforderliche Hochspannung fehlt. So dringlich und unmittelbar kann man den Satz jedenfalls kaum nochmals erleben.
Sehr individuell auch Golowanows Gestaltung des Finales. Wir hören einen gesanglichen Streicherchor, ekstatische Steigerungen, brüllendes Blech. Alles, was man sich von einer hochromantischen Darstellung der Musik erwartet, man findet es hoch emotionalisiert vor. Das ist fast schon eine andere Erlebniswelt als in den späteren Einspielungen. Oft genug mussten sich die damaligen Vertreter der Zunft anhören, dass ihr Musizierstil von vorgestern sei, kein Wunder, dass es niemand mehr so anbieten wollte. Gerard Schwarz versucht im ersten Satz eine Art Revival, das aber in unseren Ohren ziemlich schief geht. Davon später mehr. Golowanov hingegen findet wie im ersten auch im noch „gefährlicheren“ (wegen der Untiefen) letzten Satz für jede Passage den richtigen Ton, so dass man seinen Ohren kaum zu trauen wagt. Inbrünstiges Orchesterspiel auf des Messers Schneide mit einem eigenen, höchst individuellen Stil. Trotz der rückständigen Technik nie lärmend.
Der Klang der Mono-Aufnahme ist bescheiden, obgleich man sich wundert, wie durchhörbar sie manchmal gelingt. So sitzen die Holzbläser mitunter wie auf dem Präsentierteller, allerdings nie im Tutti. Die Räumlichkeit, bei Mono-Aufnahmen sowieso nur bestenfalls eine spärliche Illusion, falls man überhaupt davon reden kann, ist historisch eng und flach. Obwohl die Dynamik technisch eng begrenzt ist, raubt sie einem manchmal geradezu den Atem. Die modernen Dirigenten sollten sich einmal Gedanken machen, wieso die Musik trotzdem so viel mitreißender auf das menschliche Gemüt wirkt. Erfreulicherweise gibt es wenig Nebengeräusche, keine Rillengeräusche und auch kein Rauschen.
5
Gennadi Roshdestwenski
Großes Sinfonieorchester des Allunions Rundfunks und Fernsehens der UdSSR
Melodija
1972
12:09 9:54 7:27 12:36 42:06
GA Nach nur fünf Jahren ließ Melodija der ersten Gesamtaufnahme der durchnummerierten Tschaikowsky-Sinfonien Jewgeni Swetlanows eine weitere folgen. Herr Roshestwenski wurde damit betraut. Dieser geht den ersten Satz zurückhaltender an. Das Orchesterspiel ist sehr gut, es wird alles ausformuliert, nicht wie bei Swetlanow 1967 (nicht aber 1993) überstürzt vor lauter Drängen. Der Orchestersatz wirkt erheblich aufgelichtet und es werden mehr Nebenstimmen freigelegt. Durch das langsamere Tempo kann auch erheblich differenzierter gespielt werden, sodass der Stimmensatz ein wenig vielschichtiger erscheint als üblich. Das Tempo hindert jedoch nicht daran die Verläufe wie beim Vorgänger Swetlanow enorm zuzuspitzen und zu schärfen; so wirkt das Spiel erheblich intensiver als beispielsweise bei Vasily Petrenko, um nur mal eine neuere Einspielung herauszupicken. Die Gefahrenmomente werden ganz deutlich zutage gefördert und innerhalb einer sorgsam und unaufhörlich gesteigerten Dramatik fühlbar gemacht. Dabei exponiert sich das Blech sehr auffallend. Es klingt wie bei Swetlanow 1967 (nicht mehr 1993) noch schneidend silbrig, fast genau wie beim Staatsorchester. Der Ansatz Roshdestwenskis wirkt intellektueller und strukturbezogener als der Svetlanows, ohne der Emotionalität des Dramas etwas schuldig zu bleiben.
Stimmungs- und ausdrucksvoll beginnen die Streicher den zweiten Satz. Die hell jedoch nicht schrill klingende Oboe wird von der zeitweise wie vogelfreien Flöte leicht übertönt, während das Fagott hintenanstehen muss. Das Unisono der Bratschen gelingt ungewöhnlich glanzvoll, selten, dass sie der weinerlichen Ausdrucksvorschrift zum Trotz die ausdrucksvolle Melodie so schnell spielen dürfen. An Sentimentalitäten ist Herr Roshdestwenski überhaupt nicht interessiert, sodass er den weinenden Charakter mit hohem Tempo leicht unterläuft. Sein Vorgehen ist durch die Partitur legitimiert, denn Pochissimo piu mosso, heißt ja ein klein wenig bewegter, bei ihm hört man das neue Tempo indes deutlicher beschleunigt als üblich. Es lockert den Satz merklich auf. Die Celli spielen dann besonders ausdrucksvoll, jedoch nicht weich und füllig wie sonst gerne (wie mit dem dicken Pinsel gemalt), sondern sehnig und gespannt singend. Der Bläsersatz im Holz wird im weiteren Fortgang etwas zu deutlich von der Flöte dominiert, was den Satz zusätzlich aufhellt. Ob das im Sinn Tschaikowskys ist, bleibt fraglich, denn der Partitur nach sollte sie nicht gegenüber den anderen Stimmen hervorgehoben werden. Allerdings zeigt sie im orchestralen Umfeld auch eine besondere Klasse. Ob das allerdings gleich einen Freifahrtschein bedeutet? Die Hörner scheinen grenzenlose Luftreserven zu haben, sie schmettern ihr unisono mit einem herausragenden ff. Auffallend erneut die Flöte, die mit ihrem pp fast die gleiche Lautstärke erreicht wie die Hörner. Da hat vielleicht doch die Tontechnik über Gebühr nachgeholfen. Bei Roshdestwenski erklingt der langsame Satz besonders erlebnisreich.
Den Scherzo-Charakter arbeiten er und sein Orchester sehr gut heraus. Es klingt pointiert, rhythmisch pulsierend und sehr transparent. Das gut charakterisierende Holz belebt den Satz zusätzlich. Dem Walzer fehlt ein wenig der warme Schmelz, er klingt jedoch bewegt und ausdrucksvoll wie in kaum einer anderen Produktion.
Im Finale kommt der urwüchsig-beherzte Orchesterklang voll zur Geltung. Man spielt hier musikantischer als im ersten Satz, sehr temperamentvoll aber keineswegs unkultiviert. Immer wieder spürt man, wie die Dynamik des Orchesters die Leistungsgrenzen der damaligen Sowjettechnik voll ausreizt, bisweilen jedoch über die Grenzen hinausgeht. Da setzt dann spürbar und unvermittelt der Dynamik-Begrenzer ein, oder der Tonmeister regelt von Hand zurück. Die Verläufe werden mit großer Klarheit herausgearbeitet, gerade in den Fugati. Soweit es die Technik erlaubt wirkt der Satz geradezu licht. Ein wirklich glanzvoller und authentisch wirkender russischer Orchesterklang der 70er Jahre, der auch heute noch besonders gut zum sinfonischen Erstling passen will.
Der Klang der Aufnahme wirkt sehr präsent, vor allem bei den Streichern und beim Holz, insgesamt farbig und recht plastisch. Die Transparenz ist bis zum mf sehr gut. Bei höheren Lautstärken lässt sie deutlich nach. Die Violinen klingen noch leicht gepresst. Die Tiefenstaffelung ist schon ziemlich gut, die Dynamik wirkt im f und ff eingebremst. Dennoch ist das Klangbild schon natürlicher und einfach besser als 1967 bei Swetlanow.
5
Jewgeni Swetlanow
Staatliches Sinfonieorchester der Russischen Föderation
Exton
1993
12:25 13:40 8:20 12:59 47:24
GA Von Herrn Swetlanow liegen der Musikwelt vier Einspielungen der „Winterträume“ vor. Die drei ersten entstammen Gesamtaufnahmen. 1967 die erste für Melodija, die beiden folgenden sind 1990 live in Tokio und 1993 unter Studiobedingungen in Moskau jeweils mit dem japanischen Aufnahmeteam von Exton (mitunter auch als Octavia oder Canyon erschienen), das seine Ohren am rechten Platz hatte, entstanden. Die Live-Aufnahme von 1990 erschien in Europa auch bei Warner France. Bei allen drei war das Staatorchester der UdSSR bzw. das der Russischen Föderation beteiligt, dem er seit 1965 bis 2000 35 Jahre als Chef vorstand. Die letzte Aufnahme entstand im Jahr seines Todes 2002 mit dem Sinfonieorchester der BBC live in London. Bis auf die 1990er Live-Aufnahme aus Tokio konnten wir sie anhören. Diese hat den Dirigenten, wie zu erfahren war, nicht völlig zufriedengestellt weshalb er eine weitere im heimischen Moskau veranlasste. Damals war das noch möglich innerhalb von nur drei Jahren. Die musikbegeisterten japanischen Musikfreunde wird es gefreut haben. Die letzte Gesamtaufnahme 1993 entstand innerhalb von acht Tagen in der Large Hall des Moskauer Rundfunks. Herr Swetlanow dürfte bis heute der einzige Dirigent sein, der die sechs Sinfonien Tschaikowskys drei Mal aufnehmen durfte.
Dem 1993er Jahrgang merkt man an, wie erfahren Dirigent und Orchester mittlerweile im Umgang mit dieser Sinfonie geworden sind. Insgesamt wirkt die Darbietung nun langsamer, lange nicht mehr so aufgeregt und erheblich weicher gezeichnet als 1967. Das Orchester spielt nun deutlich sicherer und klingt um Klassen besser. Wer nur eine Kostprobe von den Holzbläsern als Beleg braucht, suche sich das Klarinettensolo aus (ab T. 137), ein pars pro toto. Wer darauf nicht warten möchte, der höre sich einfach den Beginn mit den Violinen an. Sie klingen nun einfach traumhaft schön, satt, voll, rund und schmelzend. Natürlich spielen dabei die japanischen Klangzauberer auch eine gewisse Rolle, das versteht sich von selbst. Der spannende Verlauf ist stark geprägt von nun völlig ungeschmälert zu hörenden Dynamikgegensätzen. Der Gestus ist lange nicht so trubulent wie bei Dorati oder der eigenen Einspielung von 1967, aber es wird sehr intensiv und ausdrucksvoll musiziert. Die Höhepunkte klingen jetzt sagenhaft voll und reichhaltig und wie gesagt dynamisch völlig unverschliffen. Die mittlerweile herausragend eingefangenen Bässe grundieren den Klang mit Macht und Fülle und tragen so sehr viel zu dem eindrucksvollen Klanggeschehen bei.
Im zweiten Satz kann man sich zunächst dem stimmungsvollen, beglückenden Klang der Streicher des Orchesters widmen. Nochmals getragener und viel nuancenreicher ausgehört übertrifft er den Klang der Melodija-Aufnahme von 1967 um Äonen. Die Umspielungen der Flöte wirken nun viel deutlicher als zuvor, obwohl sie keineswegs lauter erscheinen, die Oboe erklingt nun etwas wärmer (um ein entscheidendes Maß) und sie spielt nicht mehr so sehr mit Überdruck, mit hochrotem Kopf sozusagen zudem dynamisch flexibler. Die Celli werden von den japanischen Technikern überzeugend in Szene gesetzt, sie danken es mit einem nun erhaben wirkenden erwärmenden Klang. Das Marcato beim Unisono der beiden Hörner wirkt abgemildert und die Streicher mit ihrem fabelhaften Tremolo lassen die Hörner nun fast ins Hintertreffen geraten. Man mag es kaum glauben, dass man das gleiche Orchester wie 1967 hört, allerdings sind 26 Jahre eine lange Zeit und viele werden von damals nicht mehr dabei sein, aber der Hauptgrund für das ungläubige Augenreiben wird wohl die japanische Edeltechnik sein, die die alte Sowjettechnik geradezu deklassiert. Davon später mehr, wenn wir zur 67er Einspielung kommen.
Im Scherzo macht sich der gegenüber 1967 langsamere Puls, der sich durch die ganze Sinfonie zieht, am ehesten nachteilig bemerkbar. Das Spiel und der Klang sind allerdings so viel besser, dass es nicht so viel bedeutet, dass das Tempo den scherzhaften Eindruck minimal ermüdet wirken lässt. Der stark balletthafte Eindruck wird sozusagen von einem großsinfonischen abgelöst. Im Walzer mischen sich die beiden die Melodie tragenden Stimmen Violinen I und Celli nun besser, vor allem ausgewogener. Die Melancholie wird deutlich gesteigert, er klingt nun fast wie der letzte Walzer, nicht wie der erste. Tiefe russische Melancholie lässt uns vergessen, dass uns der Walzer doch eigentlich immer auch an Wien denken lässt. Der sinfonische Erstling wird nun, anders als 1967 von Swetlanow aus der Sicht der reiferen späten Sinfonien betrachtet. Das kann man als Gewinn oder auch als Verlust betrachten.
Zu Beginn des Finales lässt uns der facettenreich, tiefgründige Klang wieder ins düstere Seelenleben des Komponisten blicken. Die Trompeten haben ihren schneidenden, silbrigen Glanz von früher fast gänzlich verloren zu(un)gunsten eines goldenen Glanzes, den man auch von den besten Orchestern aus dem westlicheren Europa kennt. Irgendwie schade, dass die Globalisierung auch vor dem Orchesterklang nicht halt gemacht hat. Die Musik klingt nun ausgesprochen plastisch und klar. Der größte Unterschied ist jedoch der dominierende recht breite Strich der fabelhaft klingenden Violinen. Was für ein Unterschied auch bei den Pizzicati der Streicher ab T. 126. Überhaupt erfreut man sich an einem mirakulös durchleuchteten Streichersatz und an der glasklaren Transparenz des Orchesters auch im ff des Tutti. So gerät die fast schon atemlose, fast schon überhitzte Stretta mit dem glanzvollen Blech zu der der nunmehr 65jährige Dirigent das Orchester animiert auch klanglich zu einem Hochgenuss, wo man bei minderen Einspielungen nur noch nerviges Tschingderassabum hört.
Gegenüber der Aufnahme von 1967, aber auch, wie man hört gegenüber der Live-Aufnahme von 1990, die sogar als SACD vorliegen soll, bietet die glasklare Transparenz der 93er eine mehr oder weniger deutliche Verbesserung. Sie ist die weichere, viel tiefgründigere, plastischere, tiefer gestaffelte Alternative. Sie wird ergänzt durch einen üppigen Farbenreichtum und eine kräftige Basslinie, die das Orchester auf ein sattes Fundament stellt. Die Dynamik ist ausgezeichnet und selten hört man mal so wundervoll satt und volltönende Violinen. Der Klang wirkt ausgesprochen dreidimensional. Insgesamt ergibt sich ein traumhaft schönes Klangbild, das auch anspruchsvollen audiophilen Hörer/innen gefallen dürfte.
5
Paavo Järvi
Tonhalle Orchester Zürich
Alpha
2021
11:36 10:39 7:53 12:14 42:22
GA Die Aufnahme dieser Sinfonie fand im Ausweichquartier MAAG statt, da in der Tonhalle noch renoviert wurde. Selbst diese Ersatzspielstätte scheint akustisch wunderbar detailreiche Einspielungen zu ermöglichen, die in anderen Städten noch nicht einmal in den jeweiligen Stammsitzen herzustellen sind. Das sehr gut spielende Orchester mit seinen farbenprächtigen Holzbläsern wird überaus präsent abgebildet wie sonst nur bei der alten Mercury mit Dorati und vielleicht noch bei der noch etwas älteren Decca mit Maazel. Die sehr gut artikulierenden und ebenso gut klingenden Streicher wissen ebenfalls zu gefallen. Das überaus genaue Spiel des Orchesters deutet auf eine penible Probenarbeit hin. Allen voran die auch in Zürich ausgezeichnet klingenden und bestens akzentuierenden Violinen. Anders als der von Beginn an voll aufs Ganze gehende Dorati oder in Ansätzen auch der junge Maazel, verschießt Järvi jedoch nicht gleich sein ganzes Pulver, sondern legt den ersten Satz spürbar strategisch an. Der Gestus in der Durchführung ist dramatisch, durchaus zugespitzt und erfüllt von jugendlicher Ungeduld. Die von Dorati beschworene existenzielle Gefahr geht von Järvis Darbietung nicht aus und auch das durchgängig sehr hohe Spannungsniveau, das bei Dorati von einer gewissen Atemlosigkeit geprägt erscheint, wirkt bei Järvi durch die bedächtiger genommenen lyrischen Entspannungsphasen abgemildert und versöhnlicher gestimmt. Beeindruckend hingegen die reiche Nuancierungskunst, die er seinem Orchester abverlangt, die man übrigens auch schon im Live-Mitschnitt von 2012 mit dem HR-Sinfonieorchester in ähnlicher Weise zu hören bekam. Ein gewisser kammermusikalisch geprägter Austausch ist beiden Aufnahmen eigen, in Zürich noch etwas ausgeprägter, aber da spielte man ja auch nicht so ganz rückhaltlos live. Alles wirkt in Zürich dem Frankfurter Mittschnitt gegenüber noch etwas schärfer geschnitten, es wird nun nichts mehr dem Zufall überlassen.
Der langsame Satz beginnt sehr stimmungsvoll. Das Oboensolo, hervorragend gespielt, wird von Flöte und Fagott gekonnt und passgenau umspielt. Eine Ohrenweide ist im weiteren Verlauf das Spiel der Holzbläser, klangschön und feinziseliert. Die fast schon aufgebrachten Celli verlassen beinahe die feine Aura des Satzgebildes und auch die immer auf Distinktion achtende Art des Dirigierens von Herrn Järvi. Freien Lauf lässt der intellektuell geschärfte Blick des Dirigenten den expressiv spielenden Violinen nicht, denn die Celli müssen vorbildlich durchkommen. Das wird von ihm besonders gut abgewogen. Durch die exzellente Transparenz wirken die Nebenstimmen besonders reichhaltig, was den ganzen Satz sogar kompositorisch aufzuwerten scheint. Es werden mehr Nuancen, mehr Stimmen und mehr Stimmungen hörbar. Auf alles Affirmative scheint man verzichten zu wollen, jede Stimme wird in den Dienst des Gelingens des Ganzen gestellt. Bei den Hörnern mag man diese Herangehensweise ein wenig bedauern, sie spielen zwar super, aber es kommt bei weitem nicht alles, was an Fülle und Kraft investiert wurde beim Hörer an. Sie wurden einfach zu weit weg positioniert oder zu leise aufgenommen. Natürlich sind die Geschmäcker wie immer verschieden.
Das Scherzo ist bereits gut gelungen, besonders gut gelingt jedoch der Walzer (das Trio erscheint bei Tschaikowsky ja als Walzer), der besonders expressiv wirkt und viel tänzerischen Elan mitbringt. Besonders gut kommen die umspielenden Nebenstimmen des Holzes zur Geltung, ohne dass sie den starken Strom der Walzermelodie (Violinen I und Celli) in Mitleidenschaft ziehen würden. Bei nicht wenigen Einspielungen hätte man es sich gewünscht, dass Tschaikowsky auch die Violinen II hätte mitspielen lassen, denn mangelnde Fülle und Homogenität sind bei der Walzermelodie nicht selten, nicht aber bei Järvi, da passt alles.
Auffallend geschmackvoll gelingt in dieser Darstellung das Finale. Man hat das Gefühl, dass alles verstanden und bestmöglich umgesetzt wird. Jedes Detail erfüllt seine Funktion im Ganzen. Es wird sehr präzise und temperamentvoll gespielt, die Fugati bestechen mit größtmöglicher Klarheit, ohne dass die Stimmen seziert wirken würden. Der Grad an affirmativer Lästigkeit wird auf ein Minimum reduziert, ohne dass man das Gefühl hat, die befreiende Emotionalität des Satzes wäre gezügelt. Man könnte einwenden, dass sich dennoch ein gewisser intellektueller Eindruck breit machen könnte, der resultiert jedoch aus einer gewissen auf die Spitze getriebenen Perfektion. Wer eine freiere und emotionalere Darstellung des Satzes wünscht, sollte besser zu Dorati greifen, der immer aufs Ganze geht oder aber zu Bernstein. Jurowskis Darbietung wirkt ebenfalls noch etwas befreiender, ohne dass es an Perfektion fehlen würde. Bei ihm bemerkt man sie jedoch viel weniger, denn bei ihr überwiegt noch deutlicher der Live-Charakter. Wahrscheinlich, weil sie ohne jeden Schnitt festgehalten wurde.
Der Klang der Aufnahme ist sehr transparent und sehr präsent, vor allem bei den Holzbläsern. Auch das Blech ist sehr gut ortbar und recht klar hörbar, kommt aber ziemlich weit von hinten, weshalb es ihm an Durchsetzungsvermögen fehlt, was letzten Endes Dramatik kostet. Die Abbildung ist äußerst akkurat und man kann die räumlichen Abmessungen des Saals gut nachvollziehen. Der Klang wirkt plastisch und sauber, ohne steril zu wirken. Es gibt nur wenig natürlichen Nachhall, Trockenheit im Klang konnte für unser Empfinden jedoch vermieden werden. Das Klangbild ist sehr ausgewogen, alles hat seinen Platz. Bass und Gran Cassa kommen gut zur Geltung.
5
Yuri Temirkanow
Royal Philharmonic Orchestra, London
RCA
1993
12:06 12:18 7:59 13:23 45:46
GA Diese Aufnahme entstand in der Watford Town Hall ziemlich am Ende der Aufnahmesitzungen zur Gesamtaufnahme der Sinfonien Tschaikowskys, die über mehrere Jahre hinweg stattfand. Das hat ihr offensichtlich nicht geschadet, denn sie erscheint als eine der gelungensten innerhalb der Sechs. Yuri Temirkanow stand (wie Vladimir Fedosseyew) immer ein wenig im Schatten der bekannteren russischen Dirigenten wie Mrawinsky, Swetlanow oder Roshdestwenski. Ihm gelang jedoch nichtsdestotrotz bei der Einspielung der ersten Sinfonie ein Volltreffer.
Im ersten Satz paart sich eine teilweise wilde Kraft mit klanglich exquisiten lyrischen Zwischenspielen. Es werden durchaus häufige Tempomodifikationen vorgenommen, jedoch nicht so extrem, nicht so stürmisch und mit der blitzartigen Spontaneität wie bei Herrn Golowanow. Trotzdem zeigt sich Herr Temirkanow als ein Meister des Accelerando wie des Decelerando. Vor deutlichen Verlangsamungen schreckt er jedoch ebenfalls nicht ganz zurück. Der Vortrag wirkt jedoch wesentlich geschmeidiger und im Kleinen differenzierter als der des vermeintlichen Vorbildes Golowanow. Das RPO zieht gekonnt, kultiviert und virtuos mit und kann seinerseits eine gewisse Begeisterung mit einbringen. Schließlich ist Temirkanow seit 1977 Erster Gastdirigent des Royal Philharmonic Orchestra und von 1992 bis 1998 war er sogar Chefdirigent dieses britischen Klangkörpers. Man kennt sich also zur Zeit der Aufnahme sehr gut. Das Orchester klingt besonders schön, auch bei den königlichen Philharmonikern fallen die vollen, ausgesprochen geschmeidig, homogen und brillant spielenden Violinen besonders auf.
Im atmosphärisch und zart begonnenen langsamen Satz, der diese Bezeichnung hier wirklich verdient, erleben wir, ähnlich wie bei Paavo Järvi ein hervorragend abgestimmtes, sehr schönes Zusammenspiel der einzelnen Orchestergruppen in einem Niveau, das man lange nicht immer von dem Orchester zu hören bekommt. Die Oboe klingt noch etwas schmal und hart, sie spielt aber differenziert und ausdrucksvoll. Da hat sie insgesamt knapp das Nachsehen gegenüber dem Kollegen des LPO bei Jurowski. Die Celli kommen hervorragend durch, was sicher nicht zuletzt der amerikanischen Sitzordnung zu verdanken ist, bei der die Celli rechts ganz vorne auf der Bühne sitzen und nicht von Violinen oder Bratschen verdeckt werden. Die Hörner ertönen in bester britischer Manier, etwas hart im Ton aber voller Kraft und Autorität. Auch ihr Unisono bleibt völlig unbedrängt von den expressiv aufdrehenden Streichern. Ein Bravo geht so zuerst an die beiden Hornist/innen, dann an den Dirigenten, der jederzeit die Übersicht behält und keine Orchestergruppe ins Kraut schießen lässt, an die einfühlsamen Tontechniker, die den Klang fein austariert haben und an den Produzenten, der anscheinend einen hervorragend geeigneten Aufnahmeraum reservieren ließ. Wie oft geht gerade dieser Höhepunkt schief, weil die Streicher gegen mickrig wirkenden Hörner zu viel Übergewicht erhalten.
Das Scherzo klingt anschaulich und spritzig, gestisch orientiert und sehr transparent. Man kann, und das ist wirklich selten, auch mal etwas Gelächter heraushören. Stark kontrastierend dazu: der sehr melancholisch wirkende langsam gespielte Walzer.
Sehr langsam lässt Herr Temirkanow auch das Finale beginnen. Das lässt die anschließenden Beschleunigungen noch mitreißender und aufpeitschender wirken. Anzumerken wäre noch, dass die Reprise, in der das Andante lugubre des Beginns wiederkehrt gefährlich langsam genommen wird, denn da bleibt die Musik fast stehen und die Spannung beginnt durchzuhängen. Bei Herr Dorati, der ähnliche Tempogegensätze favorisiert, fiel uns ähnliches nicht auf.
Der Klang der Aufnahme ist sehr transparent; das Orchester erscheint sehr gut gestaffelt, farbig und etwas distanziert, wie es in den 90er Jahren als das Ideal angesehen wurde um eine großzügige Räumlichkeit zu betonen. Dieses Mal hat man glücklicherweise nicht vergessen, dass eine gewisse Präsenz ebenfalls zum guten Klang gehört. Der Gesamtklang wirkt ziemlich sinnlich, was zu allererst auf die auffallend schön klingenden Violinen zuzuführen sein dürfte. Er vermittelt das Gefühl von Wärme und Brillanz, eine Kombination die man immer sehr begrüßen dürfte.
5
Jewgeni Swetlanow
Akademisches Sinfonieorchester der UdSSR
Melodija, MCA-MFSL
1967
11:02 11:18 7:42 11:42 40:41
GA Bei dieser ersten Einspielung der Sinfonie war Herr Swetlanow gerade einmal 39 Jahre jung. Er präsentiert sie bereits mit demselben Ernst, die er auch den späteren Sinfonien angedeihen lässt. Gewissenhaft, aber doch leichter und vor allem auch etwas schneller als in seinen späteren Einspielungen und doch emotional weit ausgelotet. Dass es sich fast noch um ein Jugendwerk handelt spürt man bei der 67er Einspielung jedoch viel stärker als bei den Späteren. Untrennbar verbunden ist die Charakteristik der Einspielung mit dem ziemlich gnadenlos harten und silberhellen Klang der sowjetischen Blechbläser (besonders der Trompeten) und den harten und rau klingenden Violinen, die gemeinsam dem Werk einen schroffen, aber auch urwüchsigen Anstrich geben. Hinzu kommen die extrem intensiven Steigerungsverläufe, die gemeinsam mit den vom LSO unter Dorati gezeigten zu den am heftigsten zugespitzten gehören. Das Orchester wirkt etwas hemdsärmelig, rau und ungeschliffen aber sehr virtuos und, der Ausdruck sei uns verziehen, wie „kampfbereit“. Die ungeschminkte, das Raue nur noch verstärkende Technik intensiviert das scharf geschnittene Spiel noch zusätzlich und möglicherweise entscheidend.
Den Sordinen sei es gedankt, dass die Violinen im zweiten Satz gefühlvoller und etwas weicher erklingen können. Das Oboensolo haben wir schon erheblich ausdrucksvoller und tonschöner gehört. Sie spielt starr und ohne besondere Phrasierungsdetails wie an einem Stück gerade durch. Raues Land, kahles Land, das wird geradezu wörtlich genommen. Starr vor Kälte könnte man noch ergänzen. Gegenüber der Aufnahme mit Roshdestwenski umspielt die Flöte sehr zurückhaltend. Die Celli spielen mit einem sachten, aber bis zum Schluss kontinuierlich ansteigenden Crescendo. Dabei zeigen sie große Reserven. Die kräftigen Hörner spielen mit deutlichem Marcato, wie man es sonst kaum einmal hört und dabei fahren sie einen durchdringenden Strahl auf, der erstaunlicherweise wenig hart klingt.
Das Scherzo wirkt energisch durchgezogen, ein gewisses „sozialistisches“ Einheitsgrau kann nicht ganz abgelegt werden. Mit der Farbe hat es die sowjetische Pressung nicht so, die amerikanische von MFSL bietet da schon mehr, am besten klingt hier die alte Eterna-LP. Der Walzer wird expressiv gespielt und wirkt bewegt und melancholisch zugleich. Sehr trockene Schlussakkorde.
Die Violinen strahlen trotz der durchaus transparenten Linienführung zu Beginn des Finales eine gewisse zusätzliche Tristesse aus, die sehr gut zum lugubre (düster) der Satzbezeichnung passt. Später, wenn sie in der Lautstärke stark gefordert werden, schneiden sie mit ihrer Härte wie ein scharfes Messer durch weiche Butter. Diesbezüglich passen sie super zu den Trompeten und Posaunen des Orchesters, während die Hörner noch vergleichsweise weich klingen. Die Steigerungen könnten kaum mitreißender sein, sie werden befördert durch die wieselflinken, zugespitzten Tempi. Die Fugati wirken äußerst lebendig, der Hymnus extrem durchdringend (ab T. 431), die Stringendi entfalten deutliche Sogwirkung. Die Synkopen werden zu einem Fest. Was für eine Stretta, beglänzt von den straffen scheinbar ohne Begrenzung wie z.B. Lungenvolumen strahlenden Trompeten. Besonders der Finalsatz wirkt 1967 sagenhaft mitreißend.
Die Aufnahme verleugnet auch als damals eigens (das waren auch schon die 80er Jahre) abgemischte amerikanische MFSL-CD-Pressung nicht ihre Herkunft als Raubein. Im russischen Original rauscht es noch ein bisschen mehr, ist durchaus transparent, klingt durchweg heller, vor allem die Violinen, die bei MFSL etwas mehr Körper haben und sonorer klingen. Im Tutti lässt die Transparenz stark nach. Die Dynamik wirkt teils überfallartig, vor allem, wenn das schrille Blech beteiligt ist. Als MFSL wirkt das ganze Klangbild etwas voller und saftiger. Allerdings erscheint die Dynamik etwas abgemildert und so gnadenlos präsent wie die Melodija-Version wirkt die Einspielung ebenfalls nicht mehr. Sie wurde anscheinend dem damaligen Hörgeschmack, der in den 80er und 90er Jahren vorherrschte, etwas angepasst. Die Violinen wirken deutlich milder, ohne indes Wärme oder weiche Geschmeidigkeit auszustrahlen. Auch als MFSL kommt die Einspielung klanglich weder an die etwa gleichalten Aufnahmen von Dorati (Mercury) oder Maazel (Decca) heran. Audiophile Klanggourmets sollten unbedingt zur 93er Swetlanow bei Exton greifen. Die 67er würde wahrscheinlich nur zu Verdruss führen. Klanglich, nicht musikalisch.
Glücklich schätzen kann sich übrigens, wer noch einen Plattenspieler hat und eine LP der Eterna-Version aus der DDR hören kann. Viel dynamischer, weicher und runder, vor allem wärmer (das gilt sogar für die Trompeten), nicht aber transparenter als von den beiden CDs klingt es hier und sogar der audiophile Hörer könnte sich versöhnlich zeigen, wenn er eine Pressung ohne Störungen erwischt hat. Man glaubt fast, ein anderes Orchester vor sich zu haben. Ob man die sozialistischen Brüder in der DDR mit besonders klangvollen Bändern aus Moskau versorgt hat?
5
Leonard Bernstein
New York Philharmonic Orchestra
CBS-Sony
1970
11:50 12:08 8:21 12:37 44:56
GA Mister Bernstein zeigt sich dem Erstlingswerk gegenüber sehr respektvoll und voller Engagement, was man beides selbstverständlich nur mittels des Spiels des Orchesters verifizieren kann, denn uns lag ja „nur“ eine CD vor. Heutzutage (YouTube) findet man allerdings von fast allem irgendwie ein passendes Video. Wir bleiben trotzdem gerne bei den rein akustischen Medien, da kann man sich besser auf die Musik konzentrieren. Von einer Pflichtübung, die es lediglich abzuleisten gilt um den Sinfonien-Zyklus zu vervollständigen, kann also bei Bernstein keine Rede sein. Da gibt es auch andere Beispiele.
Der Kopfsatz wirkt spannungsgeladen, schlank und geschmeidig, er sprüht geradezu vor Lebensfreude und Abenteuerlust. Er steht so stilistisch eigentlich goldrichtig zwischen der von Tschaikowsky so intensiv studierten Mendelssohn-Sinfonie und den eigenen späteren Sinfonien oder den Balletten. Also zwischen den lichten Momenten der „Italienischen“, den dunkleren der Schicksals-Sinfonien (4,5 und 6) und auch den zauberhaften Märchenbildern der Ballette („Nussknacker“). Die New Yorker spielen gefühlvoll und konzertieren wunderbar zwischen den einzelnen Gruppen. Es entsteht sofort eine gewisse knisternde Magie, schon bei den simplen Bewegungen der beginnenden Streicher, bei denen man wohl an ein Schneetreiben denken könnte. Die Steigerungsverläufe wirken ungeheuer spannend und packend, das Klarinettensolo könnte allerdings etwas sämiger und ausdrucksvoller klingen (T. 150 ff). Die Violinen hingegen spielen und klingen ausgezeichnet, besser als die Chicagoer bei Abbado und viel besser gegenüber den Violinen aus Salt Lake City bei Abravanel, um nur zwei Seitenblicke innerhalb der USA zu wagen. Das ist bei den New Yorkern und CBS nicht selbstverständlich, denn man gestattete sich im Verlauf der Jahre eine durchaus schwankende Qualität. Das Orchester bringt eine sehr gute Verfassung mit, kein Wunder, denn der als strenger Trainer bekannte George Szell hatte gerade 1969 die Leitung des Orchesters von Bernstein übernommen. Eine sehr kurze Periode übrigens, die durch den Tod Szells 1970 schnell wieder beendet war. 1971 übernahm dann Pierre Boulez. Das nur nebenbei. Hier gibt es eindeutig hoch erregte Tagträume, keine Albträume und keine schlaff-nebulösen Träume, bei Bernstein herrscht helles Licht vor, trotz zeitweisen Schneefalls.
Das Adagio cantabile bekommt das ihm zustehende langsame und strömende Tempo. Der Streicherklang kann sich voll, weich und anschmiegsam schön singend verbreiten. Die Oboe klingt sehr ausdrucksvoll, auch darin besser als Chicago und Utah, mit einem noch weich zu nennenden Ton, der einige Wärme zu transportieren weiß. Das Vibrato wird nicht übertrieben, es wird aber auch nicht unterlassen. Die Bratschen spielen wunderbar klagend und weinerlich (piangendo), die Celli vollkommen homogen und sonor. Überhaupt kommt jede Gruppe sehr ausdrucksvoll zur Geltung, hoch motiviert eben. Die Hörner unterscheiden sehr deutlich zwischen Marcato und Legato, was längst nicht selbstverständlich ist, ihr Steigerungspotential von f nach ff ist markant, ebenfalls nicht selbstverständlich. Und trotz der tosenden Streicher im ff kommen die zwei noch gut durch. Dass die Streicher dann aber nicht wieder rechtzeitig auf ein f zurückgehen, lässt ihnen Bernstein durchgehen, vielleicht ist er auch der eigentliche Initiator. Die Gesamtwirkung mit den Hörnern wäre aparter, wenn sie nachlassen würden, der Vergleich hat es gezeigt.
Das Scherzo wirkt auf uns ein wenig hüftlahm für ein Allegro scherzando giocoso. Es wird immerhin genauestens phrasiert und sehr gut akzentuiert, das ist ja auch was wert. Der Walzer klingt gut, etwas reduziert im Schwung und mit viel Melancholie im Herzen.
Das Finale weiß Bernstein ausgezeichnet in Szene zu setzen: atmosphärischer Beginn, großartige Steigerungen, harte Kontraste, Blech in Hochform. Es drängt sich jedoch nicht auf, sondern bleibt gut integriert, aber geschärft, nicht aufgesetzt und plump. Die Fugati werden schön rausgespielt, nicht runtergespielt, nicht schulmeisterlich, sondern meisterlich. Lebendig und mit mitreißendem Accelerando und diversen Stringendos geht es weiter. Der Hymnus ab T. 431 wird voll und recht breit ausgespielt und in ausgelassenen Jubel überführt. Selbst im ff des Tutti bleibt der Duktus immer noch klar.
Der Klang der Aufnahme ist gut aufgefächert, klangfarbenreich, sehr gut tiefengestaffelt, plastisch und vorbildlich transparent. Das Orchester erscheint voll und satt klingend, aber doch noch sehnig (nicht aber drahtig). Auffallend ist der „aufgelichtete“ Streicherchor, bei dem auch die Mittelstimmen (Violen und Celli) noch deutlich zu unterscheiden sind. Ausgezeichnete Basswiedergabe. Das Orchester bleibt weitgehend in seiner ganzen Pracht erhalten. Schön, dass sich CBS damals bemüßigt sah, der Sinfonie mehr als nur ihr klangliches Standard-Outfit mitzugeben.
5
Bernard Haitink
Concertgebouw-Orchester Amsterdam
Philips
1979
11:35 11:48 7:48 12:28 43:39
GA Wie Karajan bei der DG und Bernstein bei CBS spielte Bernard Haitink die ersten drei Sinfonien später ein als die drei späteren. Im Fall der ersten muss man sagen: glücklicherweise. Zufälligerweise fanden die beiden Einspielungen von Karajan und Haitink sogar im gleichen Jahr statt, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg.
Haitinks Lesart ist sehr detailliert, dunkel getönt und sie wirkt inspiriert. Das Spiel der Amsterdamer ist über jeden Zweifel erhaben, akzentuierter als das der Berliner unter Karajan. Beide haben im ersten Satz in etwas das gleiche Spannungsniveau. Der exquisite Orchesterklang ist in Amsterdam jedoch erheblich deutlicher aufgefächert. Weich, wohlkonturiert und farbig ist er in beiden Fällen. Beide Orchester verfügen über einen gut vom Bass her grundierten und auf ihm aufbauenden Klang, farbiges Holz und glanzvolles Blech. Bei der Schlittenfahrt geht es zwar hoch her, an das Feuer von Dorati, Swetlanow I oder Jurowski kommen sie beide jedoch nicht heran. Es geht nicht so sehr um die Existenz bedrohenden Gefahren, die durchlebt werden müssen. Das Amsterdamer Orchester spielt dem LSO Doratis gegenüber maßvoller, weniger zugespitzt und immer sehr klangschön. Das sonst bei Haitink mitunter zu beobachtende Maß an Gediegenheit wird jedoch deutlich übertroffen.
Im Adagio beeindruckt der zauberhaft zarte Klang der Streicher mit der Sordine. Man lässt sich viel Zeit. Das COA spielt schon mit der neuen Oboenbesetzung, deutlich voller als früher, jedoch immer noch härter als der bei den Berlinern zu hörende Oboenklang. Und so klagend wie der Wiener Oboen-Klang bei Maazel ist er auch nicht. Die Streicher klingen jedoch berückend schön, sanft, weich, leicht und ein wenig silbrig im hohen Frequenzbereich. Die Celli werden nicht so schön deutlich hervorgehoben, klingen also weit weniger klangmächtig als bei den Berlinern oder Wienern, da mag die Orchesteraufstellung einen Teil beigetragen haben. Die Flöte fällt beim Holzbläsersatz ganz leicht aus dem Rahmen und auch gegenüber dem zarten Streicherglanz wirkt sie ein wenig zu auftrumpfend. Die samtig klingenden Hörner schließlich zeigen weniger Marcato als üblich, aber was für ein homogener, glanzvoller Klang! Dadurch, dass Haitink die Streicher nicht bis zum äußersten ff treibt, kommen die Hörner immer gut mit ihrem unisono durch, ohne zu forcieren. Es klingt so lockerer und weniger theatralisch als bei Karajan und Maazel. Aber auch weniger erhaben.
Das Scherzo hat starke balletthafte Züge, es wird sehr sauber und exakt, aber auch rhythmisch sehr gut akzentuiert gespielt. Es profitiert immer von der größtmöglichen Klangschönheit, der sich das Orchester in diesem Satz befleißigt. Den Walzer lässt Haitink langsam und intensiv spielen, schöner ist es kaum möglich. Dass Tschaikowsky die Violinen II nicht mit den Violinen I und den Celli mitspielen lässt fällt bei den Amsterdamer viel weniger auf als bei anderen. Es wird auch so eine bruchlose Homogenität erreicht. Das kommt nicht eben häufig vor.
Beim Finale schaut Haitink genauer auf die Vorzeichen als Karajan. Ein p ist bei Haitink ein p, bei Karajan wird auch gerne einmal ein mf daraus. Das COA klingt weniger lärmend als die Berliner. Der gut geformte Spannungsbogen hängt nur vereinzelt leicht durch, die Gefahr bei langsameren Tempi. Der Hymnus wird recht breit ausgespielt (ab T. 431). Das COA wirkt immer hochkonzentriert und scheint begeistert bei der Sache zu bleiben. Da ist immer noch eine gewisse Entdeckerfreude mit zu hören, nicht zuletzt dadurch wird die erste bei Haitink und den Amsterdamern bereits zu einem frühen Meisterwerk. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass der Amsterdamer Luxusklang dem letzten Satz weitestgehend das Affirmative nimmt. Haitink verzichtet für die Schlusswirkung auf eine schnelle Stretta und bleibt (partiturkonform) beim gleichen Tempo mit dem die Coda begonnen hat.
Wir hören einen körperhaften, offenen Analogklang der besten Zeit von Philips. Man hatte die Analogtechnik gerade voll ausgereizt, als man dabei war, die Digitaltechnik einzuführen. Das Orchester wird gut in der Breite und in die Tiefe hinein aufgefächert bzw. gestaffelt. Die Raumanmutung wirkt natürlich. Der Gesamtklang ist warm, weich, natürlich und präsent. Er ist erheblich transparenter als die im gleichen Jahr entstandene Berliner Aufnahme mit Karajan, bei vergleichbarer Fülle. Auch die anderen in etwa zu gleichen Zeit entstanden Einspielungen von Muti und Rostropowitsch werden klangtechnisch deutlich übertroffen, auch die Vorgänger-Aufnahme bei Philips mit Igor Markewitsch.
5
Lorin Maazel
Wiener Philharmoniker
Decca
1964
11:11 10:01 8:08 12:40 42:00
GA Diese Einspielung stammt noch aus dem Sophiensaal (man redet auch gerne von den Sophiensälen) in Wien, in dem Decca bis in die 70er Jahre gerne aufgenommen hat. Vor allem natürlich die Wiener Philharmoniker. Viele ausgezeichnet klingende Aufnahmen sind hier geglückt (legendär: „Der Ring des Nibelungen“ mit Georg Solti). Die uns nun vorliegende Einspielung kann man getrost dazuzählen.
Das Orchester ist in hervorragender Spiellaune, wirkt sehr motiviert und geht beherzt und lebendig zur Sache. Offensichtlich gelingt es dem damals gerade einmal 34jährigen Lorin Maazel eine jugendlich-frische Aufbruchstimmung zu vermitteln, was gleich schon zu Beginn ins Ohr fällt, genau wie übrigens der herausragende und damals geradezu adrenalingesättigte Klang der Violinen. Die Schlittenfahrt wirkt nicht so albtraumhaft und gefahrenvoll wie bei Dorati oder gar Golowanow, ohne Gefahren und dramatischen Schärfungen bleibt sie jedoch nicht. So klingt die Durchführung als Höhepunkt des ersten Satzes spielerischer und nicht gar so bissig und exaltiert wie bei der übrigens gerade ein Jahr jüngeren Einspielung mit dem LSO und Dorati.
Sehr stimmungsvoll klingen die Streicher im zweiten Satz nun sordiniert, trotz des für ein Adagio cantabile recht zügigen Tempos. Die ganz besonders zum klagen befähigte Wiener Oboe passt hier ganz hervorragend zum Gestus der Musik. Exzellent gelungen auch die völlige Äquilibristik der Lautstärke zur umspielenden Flöte, die allerdings sehr viel voller und brillanter klingt. Und wer wollte den Violen ihr piangendo nachspielen? Die Celli, geradezu herzerweichend schön, können sich sehr gut gegen die flirrenden Violinen durchsetzen, obwohl die angesichts des teilweise notierten p ganz schön auftragen. Die Wiener Hörner geben wirklich ihr Bestes und überragen die Streicher, obwohl die alles in ihr ff hineinlegen, was zu Gebot steht, dermaßen deutlich, dass wir daran zweifeln, dass es bei den beiden geforderten Hörner geblieben ist. Wie bei Karajan in Berlin vermuten wir, dass die beiden in diesem (und im dritten) Satz eigentlich nichts als pausierenden Kollegen animiert wurden mitzuspielen. Wir können uns auch täuschen, aber wenn man den Satz hört, so sticht das Volumen, die Lautstärke und die spezielle Tiefgründigkeit dieses Unisonos doch so stark heraus, dass die Vermutung Nahrung findet. Bei dem Unisono wäre detektivische Akribie erforderlich um der Sache auf den Grund zu gehen, zumal intonatorisch alles passt. Man kann es aber auch einfach nur genießen, denn es klingt extrem ausdrucksvoll und ergreifend. Eine umwerfende Demo-Show in Sachen Wiener Horn ist es außerdem.
Beim Scherzo gehen Herr Maazel und die Wiener etwas zu unbekümmert zu Werke, das p wirkt gegenüber dem mf viel zu laut. Es ergibt sich so keinerlei Mendelssohn-Feeling. Stattdessen wirkt der angenommene russische Charakter etwas klischeehaft und plump. An Schwung mangelt es indes keineswegs. Dem Walzer gibt man viel Eleganz, Herz und Impulsivität mit, wen wundert es, wenn die Walzerkönige höchstselbst zum Tanz bitten. Ein Wermutstropfen ist die leider kaum abgestufte und generell zu leise ins Klangbild kommende Pauke. Die hätte hier Gelegenheit gehabt vom f bis zum ppp zu zeigen, wie gefühlvoll sie ihr decrescendo gestalten kann.
Im Finale ist die Transparenz leider nicht mehr so beispielhaft wie in den Sätzen zuvor. Man hat zudem den Eindruck, dass man die Präzision ein klein wenig vernachlässigt, denn das LSO unter Dorati zeigt hier, wie man das Satzgefüge u.a. mit messerscharfer Präzision in seiner problematischen Faktur stärken kann. Die Steigerungsverläufe gelingen dessen ungeachtet großartig und an Spielfreude mangelt es eigentlich auch nicht, im Gegenteil. Die Ausstrahlung, die man vom Satz wahrnimmt ist gegenüber Dorati jedoch insgesamt merklich kühler, als ob der Dirigent (und/oder das Orchester) der Sache nicht so recht traut, er nicht so recht überzeugt von ihr wäre. Die Posaunen mischen sich mit ihrem eigentümlichen und speziellen Klang, der ein wenig bronchial eingefärbt wirkt, nicht immer so recht mit dem übrigen Blech. Man scheint in der Coda einen ganz kleinen Hauch zu spät dran zu sein. Uns stört das überhaupt nicht. Es unterstreicht doch nur den volkstümlichen Charakter. Der Coda gibt Maazel insgesamt eher einen majestätischen Sieg-Charakter als befreiende Freude mit. Dies ist eine überzeugende Darstellung des noch jungen Dirigenten, der die mitunter gelangweilt wirkende Perfektion seiner späteren Jahre noch völlig abgeht.
Dem Klang ist ein ganz leichtes Analograuschen eigen. Er ist bestechend klar, die Staffelung des Orchesters in die Tiefe stark ausgeprägt, die Präsenz ausgezeichnet. Man hätte einen der besten Erlebnisplätze erwischt, wenn man ein Konzertbesucher wäre. Das Orchesterhalbrund wirkt weit aufgespannt. Der Klang ist sehr lebendig, sinnlich und brillant. Die Bassgrundierung ist gut, die Dynamik knackig, das Klangbild sehr farbenfroh, transparent und sehnig-schlank. Wir hören den nahezu besten Decca-Klang der 60er Jahre.
4-5
Igor Markewitsch
London Symphony Orchestra
Philips, Newton
1966
10:55 10:23 7:39 12:14 41:11
GA Nach nur einem Jahr durfte das LSO bei einer zweiten Gesamteinspielung der Sinfonien Tschaikowskys mitwirken. Die „Winterträume“ klingen nun ebenfalls unroutiniert und hellwach musiziert, erwartungsvoll, pulsierend und gespannt, aber subtiler und weit weniger draufgängerisch und weniger abenteuerlich gestimmt als in der Einspielung mit Antal Dorati. Wir wollen nur kurz darauf hinweisen, dass wir in allen Fällen nicht für die Gesamtaufnahme sprechen, sondern nur für die Sinfonie Nr. 1 g-Moll, genannt „Winterträume“. Obwohl sich während des Jahres im Orchester nicht viel geändert haben dürfte, wirkt das Espressivo bei Markewitsch weniger drängend und nicht ganz so exzessiv gesteigert. Das LSO klingt generell dunkler, was in erster Linie an der Philips-Technik liegen dürfte. Zudem werden im Ausdruck ebenfalls die dunklen Elemente im Gestus betont. Die Durchführung wirkt weniger konvulsivisch wie bei Bernstein, vor allem aber als bei Dorati. Dafür kommt bei Markewitsch mehr das Dunkle, Unheimliche zum Vorschein. Die aufkeimende Angst bei der gefahrvollen Fahrt bleibt unkonkret und unbestimmter lauernd, kommt mehr von innen, als von außen, während es bei Dorati lichterloh brennt. Bernstein steht da mit seiner Schlittenfahrt in etwa in der Mitte zwischen den Beiden. Dass es um Leben und Tod, also um die Existenz gehen könnte, dazu fehlt dem Spiel des LSO nicht die Exzellenz, aber bei Dorati wird der Zuhörer fast schon niedergeknüppelt vor Intensität. Soweit bringt es Markewitsch nicht.
Der langsame Satz ertönt nun etwas langsamer und mit mehr Melancholie als bei Dorati. Die Oboe hat, wenig überraschend den gleichen Klang, spielt aber nun etwas subtiler und generell lässt Markewitsch mit mehr ballettartiger Zartheit spielen, bereits im langsamen Satz. Die Celli erreichen lange nicht die Spannung und Kraft wie bei Dorati, werden weniger exponiert aus dem Streicherchor gelöst herausgestellt, klingen aber trauriger als ein Jahr zuvor. Die beiden Hörner hingegen werden ausgezeichnet exponiert, bei Dorati spielen sie jedoch noch intensiver und brillanter, scheinen noch mehr Herzblut zu investieren. Oder waren es doch nur die letzten Kubikzentimeter mehr Lungeninhalt, die bei Dorati mobilisiert wurden? Oder doch alle vier?
Das Scherzo klingt weniger prägnant und im Ganzen verhaltener, verhangener in der Stimmung, irrlichternd. Vielleicht geht das Scherzo doch eher an Markewitsch, weil es mehr nach Tschaikowsky und weniger nach Mendelssohn klingt? Man ahnt es schon während des ersten Scherzo-Teils: Der Walzer wird kein freudiger, die Scherze springen einen kaum an und sogar die Pauke erklingt abgedämpft.
Das Finale klingt zupackend und dramatisch. Markewitsch vertraut der Komposition und spielt sie voll aus. Der Hymnus wirkt fast noch ungenierter als bei Dorati, das piu animato bei T. 467 noch sogkräftiger und temperamentvoller. Obwohl das Spiel ziemlich ungezügelt vorangeht, wirkt die freudige Exaltiertheit bei Dorati und Bernstein noch etwas elementarer. Markewitsch ist hingegen der, der die ganze Komposition über tiefer schürft. Die Unmittelbarkeit von Dorati und Bernstein (auch Jurowski) erreicht seine Interpretation nicht ganz. Es fehlt nicht viel, aber im Ganzen wirkt Markewitschs Einspielung merklich zurückhaltender. Er lässt mit leichterer Hand spielen, was sowohl als ein Gewinn, als auch ein Verlust angesehen werden kann.
Der Klang der Aufnahme ist ebenfalls transparent, recht voll und rund jedoch nicht so brillant wie die beiden, die wir näher in den Vergleich genommen haben mit Dorati und Bernstein. Das Blech ist nicht so ungarisch gewürzt (also scharf) wie bei Dorati und auch nicht so auf Attacke gebürstet. Klanglich kann die Philips insbesondere der Mercury aber auch der CBS-Sony nicht das Wasser reichen, obwohl sie bereits recht plastisch klingt.
4-5
Samuel Friedman
Nishny Novgorod Philharmonic Orchestra
Arte Nova
P 1995
12:05 9:34 7:38 10:49 40:06
GA Falls man den Namen der russischen Millionenstadt an der Wolga nicht kennen sollte, wäre das kaum verwunderlich, denn von 1932-1991wurde sie noch „Gorki“ genannt (nach dem Schriftsteller Maxim Gorki, ein ähnlicher Fall wie bei Leningrad und Sankt Petersburg oder Karl-Marx-Stadt und Chemnitz). Es handelt sich jedenfalls um kein provinziell klingendes Orchester und „seinen“ Tschaikowsky scheint man dort gut zu kennen und zu lieben. Samuel Friedman ist ein israelischer Dirigent russischer Herkunft, er war Chef des Orchesters in Haifa, bei der Württembergischen Philharmonie in Reutlingen ((1979-1983) und in St. Gallen (1983-1989), bevor er ausschließlich als freischaffender Konzertdirigent tätig wurde.
Der erste Satz erklingt mit vollem Streicherklang, durchsetzungsfähigem, warm klingenden Holz und kräftigem, sonorem Blech. Auffallend sind die für einen üppigen Orchesterklang so wichtigen gut hörbaren Bässe. Es wird mit viel Herzblut musiziert und der Gestus ist dramatisch geschärft. Es kommt keine Sekunde Langeweile auf.
Die Aura des Adagio cantabile ma non tanto profitiert vom warmen Klang der Streicher. Das Tempo wirkt recht zügig. Man möchte nicht, dass der Spannungsbogen überdehnt wird. Das Oboen-Solo klingt sehr gut und lässt kaum noch die Härte früherer russischer Aufnahmen des Instrumentes erkennen. Sie wird dynamisch einigermaßen flexibel gespielt. Obwohl Friedman keine auffallenden Tempowechsel während des Satzes vollzieht, wirkt die Anmutung keinesfalls starr, sondern ziemlich lebendig. Celli und Hörner werden jeweils von den ungeheuer expressiv aufspielenden Streichern bei ihren Unisoni stark bedrängt aber beide Gruppen haben ein so hohes Potential, dass sie sich trotzdem noch durchsetzen können. Die Ausdrucksdichte ist dabei enorm.
Auch das lebendig, straff und besonders tänzerisch gespielte Scherzo offenbart weder bei Streichern noch beim Holz irgendwelche Schwächen, nur beim Walzer fehlt die letzte Homogenität beim gemeinsamen Spiel von Vl. I und Celli. Die Violinen stechen so ein wenig heraus. Der Walzer selbst wirkt langsam gespielt ziemlich melancholisch. Das Horn umspielt klanglich herausragend während das Holz bei dieser Aufgabe weniger gut herauskommt. Die Pauke hingegen erklingt plastisch und kann ihr dynamische Spektrum von f bis ppp sehr gut zeigen.
Sehr gut gelingt der Finalsatz in seiner temperamentvollen, dynamischen Lesart, bei der das Orchester sehr gut seine beträchtliche Virtuosität zeigen kann. Man spürt eine tiefe Vertrautheit mit dem Werk, denn das Spiel wirkt dynamisch, sehr gut ausdifferenziert und spannend. Man ist von der eigenen beherzt und unmittelbar wirkenden Gangart vollends überzeugt. Mit viel Biss und ohne Skrupel wird das folkloristische Idiom voll ausgespielt. Sehr gut gefällt das gut hervorgehobene, klare Blech.
Die damals im Low-Budget-Segment erschienene Aufnahme gefällt mit ihrer transparenten, voll, warm und offen klingenden Art. Die einzelnen Instrumente und Gruppen werden dabei nicht so scharf von einander abgegrenzt, ein Zerfließen in einen undifferenzierten Mischklang erfolgt jedoch nicht. Das Klangbild hat nichts Anämisches an sich, sondern wirkt sogar recht sinnlich und recht dynamisch. Da kann sich manch ein Hochpreisprodukt eine Scheibe abschneiden. Diese Einspielung entpuppte sich als eine echte Überraschung.
4-5
Mikhail Pletnev
Russian National Orchestra
Pentatone
2011
13:17 11:43 7:20 13:11 45:31
GA Mit Mikhail Pletnev liegen zwei Gesamtaufnahmen der Tschaikowsky-Sinfonien vor. Die erste entstand in den 90er Jahren für die DG. Die zweite für Pentatone als Multichannel-SACD. Dieses Mal nahm man in der Großen Halle des Moskauer Rundfunks auf. Nun sind die Tempi, nicht etwa wie man annehmen könnte langsamer geworden, da der Dirigent 16 Jahre älter geworden ist, sondern schneller. Schnell sind sie jedoch im Gesamtvergleich immer noch nicht, denn sie waren bei der ersten Aufnahme besonders langsam. Nun wirken sie noch bewusster oder nachdenklicher, eine gewisse Vorfreude oder Abenteuerlust gibt es hier nicht, Bedenken oder Skepsis angesichts der gefahrvollen Schlittenfahrt scheinen vorzuherrschen. Es wird beredt gespielt. Die Fahrt selbst erfolgt wieder in einem gemäßigten Tempo, eher noch akzentärmer, was sich jedoch noch ändern wird. Die Steigerungsverläufe wirken breiter, als ob der Schlitten viel größer und schwerer wäre als bei anderen Einspielungen und er deshalb kein adäquates Tempo erreichen könnte. Das Klarinettensolo ab T. 137 klingt ganz hervorragend, wie überhaupt das Orchester gegenüber der älteren Einspielung noch klangschöner zu spielen scheint. Bei T. 190 überrascht uns Herr Pletnev mit einem urplötzlich verschärften Tempo (ohne dass es dafür einen entsprechenden Hinweis in der Partitur gäbe). In der Durchführung spielt man dann doch bewegter. Seltsamerweise schleicht sich das Blech immer nur ziemlich unauffällig ins Klangbild hinein, sogar wenn es ff zu spielen hätte. Andererseits werden leise Spielanweisungen gerne ins Laute gewendet. Herr Pletnev sieht sich anscheinend immer auch ein wenig als Bearbeiter. Das fiel uns übrigens in der Einspielung von 1995 noch nicht so gravierend auf. Vielleicht möchte er wie letztens beim Klavierkonzert Chopins, bei dem er eine ganz neue Instrumentierung erstellte, das von Tschaikowsky gewollte noch weiter verbessern, denn der Kopmonist tat sich ja bekanntlich so schwer mit der Erstellung des Werkes? Immer wieder werden zudem langsame Passagen eingefügt, die in der Partitur kein eigenes Tempo haben. Ziel der Unternehmung ist es offensichtlich, die Steigerungswellen noch eindrucksvoller zu gestalten. Vielleicht sieht sich Herr Pletnev als Erbe von Herrn Golowanow? Selbst jetzt ist das zurückhaltende Blech verwunderlich, gerade für ein Orchester russischer Provenienz und von dieser exzellenten Qualität. So stehen fraglos mirakulös gelungene Details neben Missachtungen der Partitur-Anweisungen. Unsere Partitur ist allerdings von 1961, vielleicht gibt es da eine überarbeitete Version, die allerdings dann nur von Herrn Pletnev genutzt worden wäre. Unsere Begeisterung hielt sich während des ersten Satzes durchaus in Grenzen, trotz des großartigen Orchesterklangs, der großzügig vor uns ausgebreitet wird.
Ihre Vorzüge spielt diese Einspielung mehr in den folgenden Sätzen aus, wobei die Tempogestaltung immer noch als ziemlich subjektiv auffiel. Nichtsdestotrotz wirkt der zweite Satz sehr stimmungsvoll, die Abschattierungen im p und pp sind eindrucksvoll. Die Oboe klingt noch ein wenig weicher und runder als 1995 und auch die umspielende Flöte und sogar die „Zweitstimme“ des Fagotts werden klar herausgebracht, ohne dass die Oben-Stimme dadurch gestört werden würde. Ein kleines Kunststück. Das gelingt nicht zuletzt dadurch, dass die Streicher dabei berückend leise spielen. Die Celli spielen ihr Unisono nun mit erheblich mehr Espressivo als 1995, sie werden von den anderen Streichern nie ernsthaft angefochten, ein Überwuchern der Hauptstimme bleibt aus. Die Holzbläser erweisen sich als ganz ausgezeichnet besetzt und die Violinen klingen wunderbar sonor in der tieferen Lage. Zu den Subjektivismen zählt auch, dass Pletnev das Ritenuto der Streicher bereits bei T. 157 beginnen lässt, statt bei T. 160, wie es in der Partitur steht.
Noch besser wird die Einspielung im Scherzo, das nun flotter, transparenter und zugespitzter erklingt als in der älteren DG-Aufnahme. Die plastische und noch akzentuiertere Gestaltung und die exzellenten Übergänge lassen nicht zuletzt auf einen gereiften Umgang mit der Sinfonie schließen. Bei T. 108 spielen die Celli und Bässe nicht p, sondern bereits f. Wieso? Das Trio, das den ersten großen Walzer Tschaikowskys vorstellt, erscheint schwungvoller und spannender als 1995. Insgesamt wird der Satz ausgesprochen gekonnt und virtuos musiziert.
Das Finale wirkt lebendig, wobei Herr Pletnev mitunter recht rhapsodisch wirkende Tempi ins Feld führt. Dabei tendiert er zu vergößerten Gegensätzen von schnell und langsam. Jetzt darf das Blech auch richtig strahlen und die Gran Cassa darf ihr Referenzniveau ehrfurchtsgebietend demonstrieren. Die Coda wird jetzt im Tempo belassen, also nicht als Stretta ausgebildet, was angesichts der sonstigen weidlich ausgenutzten Tempoflexibilität als erneute Überraschung gelten darf.
Generell wirkt das Remake bei Pentatone nicht mehr so kühl wie das Original bei der DG. Es ist mitunter immer noch nicht gerade mit der Partitur konform, hält jedoch für die Hörer/innen die eindeutig eindrucksvollere Darbietung bereit. Gerade das Finale ist energiereicher und plastischer, alle Sätze werken spannender musiziert.
Der Klang der Aufnahme wirkt ebenfalls gegenüber 1995 verbessert, er ist klarer und perspektivenreicher, die Transparenz ist in allen Bereichen sehr gut, auch im Streichersatz incl. der Bässe. Die Dynamik ist sehr gut. Es gibt „mehr Luft“ zwischen den Instrumenten und sie klingt sonorer. Das exzellent besetzte und klanglich hervorragende Orchester wird bestens eingefangen.
4-5
Alexander Sladkovsky
Tatarstan National Symphony Orchestra
Sony
2019
11:38 12:15 8:43 12:14 44:50
GA Diese Einspielung fand innerhalb einer GA in der Saydachev Hall in Kazan, der Hauptstadt der autonomen russischen Republik Tatarstan, statt. Eigentlich wurde sie zur Veröffentlichung anlässlich des 180. Geburtstags Tschaikowskys eingespielt, aber zu einer Veröffentlichung im Westen kam es zuerst wahrscheinlich wegen der Corona-Epidemie und dann wegen des Ukraine-Krieges und den daraus folgenden Embargos bisher nicht. Vielleicht wurde sie in Japan veröffentlicht? Inzwischen gibt es sie auf verschiedenen Streaming-Plattformen zu hören, allerdings von einem unentzifferbaren russischen Herausgeber veröffentlicht.
Das Orchester und sein damaliger Chefdirigent sind uns bereits bei Mahlers 5. Sinfonie begegnet und hinterließ dabei einen sehr guten, sehr kultivierten Eindruck. Nun machte die Einspielung einen noch besseren Eindruck, wobei Tschaikowskys Erste für ein Orchester aus dem Umfeld der russischen Schule sicher nicht dieselbe Herausforderung darstellt wie Mahlers Sinfonie Nr. 5.
Das Orchester spielt herrlich, die Soli von Flöte, Fagott, Klarinette und Oboe klingen in der gleichen Qualität wie beim Russischen Föderationsorchester unter Swetlanow 1993. Das Blech und die Streicher können die Qualität des Holzes halten, die Dynamik fällt nicht ab und geht ohne mit der Wimper zu zucken leicht bis ins pp hinein. Es gibt allerdings ein paar Besonderheiten, so wird Herr Sladkowsky ab T. 49 plötzlich schneller und die sf bei T. 70 verdienen den Namen nicht, so schwach erfolgen sie, man fürchtet, sie wurden übersehen. Der Gestus wirkt tatkräftig und lustvoll. Lust scheint man auch an der Geschwindigkeit zu haben, denn die Temposchwankungen sind ähnlich ausgeprägt wie bei Pletnev. Das Vorbild Golowanow scheint in Russland, trotz der Gegenströmungen von Mrawinsky, Roshdestwenski oder Swetlanow in Russland immer noch präsent zu sein. Die Textur wirkt aufgelichtet, was den Nebenstimmen und den kleinen, unbedeutenderen Motiven sehr gut bekommt. Bei der Durchführung kommt das Vorbild der „Eroica“ Beethovens mindestens ebenso deutlich hervor, wie Mendelssohn oder Schumann. Agitato wechselt sich stimmig mit den entspannteren Passagen ab. Sie wirkt stark energetisch aufgeladen und drängend.
Im zweiten Satz wirken die Streicher trotz der aufgesetzten Sordinen dunkel und etwas mysteriös. Das Oboensolo ist klanglich eines der besten, zudem sehr akkurat von den beiden „Satelliten“ Flöte und Fagott umkreist. Beide pochen auf ein ebenso großes Gewicht wie die Oboe. Das Ganze wird mit Poesie vorgetragen. Die Celli klingen wegen ihrer für den zweiten Satz eher ungünstigen Aufstellung von weit her. Es wird formidabel gespielt und man gibt sich so viel Mühe, als würde man jede einzelne Note liebkosen. Auch die Hörner haben einen schweren Stand gegen die stark aufgetriebenen Streicher, wenn sie ihr ehrfurchtgebietendes ff bringen, kommen sie jedoch noch gut durch.
Das Scherzo wirkt leider etwas zu gemächlich, mit einem gewissen misterioso statt dem gewünschten giocoso versehen. Trotzdem wirkt es noch energetisch und nicht plump. Leider erklingt das Holz nun lange nicht mehr so präsent wie in den beiden Sätzen zuvor, anscheinend musste man an verschieden Tagen aufnehmen oder hielt es für besser, die Mikrophone neu zu positionieren. Die Relationen sind eigentlich im Scherzo etwas realistischer geworden. Der Walzer klingt zart und voller Melancholie, wirkt viel eher ernst als von unverbindlicher Eleganz getragen, trotz der luftigen Umspielungen von Holz und Hörnern. Bestechend: Die Sorgfältigkeit des Spiels. Da hat man anscheinend auch richtig gut geprobt.
Das Allegro maestoso strahlt tatsächlich viel Freude aus, das Spiel der Streicher während der Fugati wirkt sehr geschmeidig. Da sind viel Akribie und Noblesse mit im Spiel. Gran Cassa und Becken werden dezent zum Einsatz gebracht um das Lärmige von der Musik bestmöglich fernzuhalten. Allerdings: Die Stringendi haben wir schon mit mehr Sogwirkung gehört und der Hymnus wirkt nicht so klar, als ob die Konzentration ein wenig nachgelassen hätte. Ein weiteres Manko: Das Blech kommt gerade im Finale nicht wie gewünscht zur Geltung, sodass man in Summe schreiben muss, dass der letzte Satz gegenüber den vorherigen etwas abfällt.
Der Klang der Aufnahme ist offen, weiträumig und luftig. Zu Beginn wird die Präsenz des Holzes übertrieben, denn es erscheint noch weiter zum Hörer gerückt zu sein als die Streicher, die entsprechend vom Hörer weggerückt erscheinen. Das wäre eine seltsame Orchesteraufstellung. Die Transparenz ist hervorragend, der Orchesterklang satt, voll, farbig und recht brillant. Dies ist eine typische A-Produktion, ihr haftet nichts provinzielles mehr an. Klanglich noch etwas großstädtischer als die Produktion aus Nishny Novgorod.
4-5
Michael Tilson Thomas
Boston Symphony Orchestra
DG
1970
11:19 10:40 8:01 13:46 43:46
Pikanterweise war der junge Tilson Thomas 1970, als er für die DG die Erste Tschaikowskys einspielte, genauso alt wie der Komponist bei der Komposition derselben: 26 Jahre. Ob er als Assistant für seinen damaligen bereits gesundheitlich angeschlagenen Chef William Steinberg eingesprungen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Aus dieser Zeit bekannt geworden ist auch die Einspielung der Images pour Orchestre von Debussy, auf die wir bereits lobend bei unserer Besprechung von “Iberia” eingegangen sind. Beide Werke teilen sich übrigens bei manchen Ausgaben eine CD. Dem Alter des Dirigenten entsprechend jugendlich-frisch und federnd wirkt das Spiel des sich in Topform befindenden Orchesters. Stark zugespitzte Steigerungsverläufe voller Tatendrang mit starken dynamischen Kontrasten erwarten die Hörer/innen.
Der Klang im zweiten Satz begeistert, denn er kommt dem Satzcharakter sehr entgegen. Die klangvolle Oboe wird sehr brillant von der Flöte umspielt. Die Flötistin des BSO hatte damals einen legendären Ruf. Dennoch sind die Streicher die eigentliche Attraktion. Dass MTT bei Pochissimo piu mosso das Tempo deutlicher als üblich vom Vorherigen absetzt, es wirkt deutlich schneller und frischer, lockert den Satz ungemein auf. Einige Dirigenten verfahren ebenso, sie sind jedoch in der Minderheit. Bei den meisten merkt man kaum oder sogar gar keine Tempomodifikation. Die Celli bieten bei ihrem Unisono eine ganz besonders intensive, leuchtende Klanglichkeit auf, die sie gut gegen die sie umspielenden gewaltig aufbrausenden Violinen behaupten können. Die Hörner halten das herausragende Niveau, voller Autorität scheinen sie die komplette Symphony Hall zu fluten. Die Darbietung der Hörner kann mit den allerbesten mithalten, wir haben sie ähnlich begeisternd vom LSO (Dorati), den Wienern (Maazel), vom COA (Haitink) und den Berlinern (Karajan) gehört.
Fein gespielt und duftig erklingt das Scherzo. Auch der Walzer gibt sich keine Blöße, die Violinen I klingen auch ohne die Violinen II mit den Celli gemeinsam sehr schön. Es fehlt nichts, wie bei nicht wenigen anderen Einspielungen, wo die fehlenden Violinen II eine Lücke zu reißen scheinen. Der Klang der Aufnahme ist im zweiten und dritten Satz optimal gelungen. Leider lässt sich gleiches vom ersten und vierten nicht behaupten. Das liegt wohl an der leeren Symphony Hall, die ohne Publikum die lauten Attacken des schweren Blechs nicht so recht verdauen möchte.
Nichtsdestotrotz wirkt die Lesart im Finalsatz aufmerksam, genau und mit viel Temperament versehen. Sie steht der Lesart Bernsteins recht nahe. Nicht von ungefähr, denn MTT war auch eine zeitlang Assistant bei Bernstein. Vielleicht ein Zufall: Beide Aufnahmen entstanden im gleichen Jahr. Bis mf klingt die Aufnahme bestechend klar und voll. Wenn es lauter wird, verschwimmen die Konturen und es klingt dicht und undeutlich. Trotzdem klingt die Gran Cassa in dieser doch nicht gerade taufrischen Einspielung mit am besten von allen. Man erkennt, dass sich die Techniker der DG alle Mühe gemacht haben, die Akustik der Symphony Hall in den Griff zu bekommen, dass sie aber am Nachhall insbesondere wenn das Blech voll aufdreht aber leider letztlich doch gescheitert sind. Eine Ausnahme scheint übrigens Abbados Aufnahme der Trois Nocturnes (Debussy) aus demselben Jahr zu sein, da passen die Anforderungen des Werkes kongenial mit dem gelieferten Klang überein. Erst als sie häufiger in Boston tätig waren, zur Zeit Ozawas, bekamen sie das Phänomen zuverlässiger in den Griff. Ohne ein Referenzniveau zu erreichen. Auf die Aufnahme von Holsts Planeten und des Zarathustra mit Steinberg aus derselben Zeit sind wir schon gespannt. Ansonsten ist an der Interpretation MTTs im vierten Satz nichts auszusetzen. Der Spannungsaufbau gelingt sehr gut mit gut abgestuften, zündenden Tempi und schließlich mündet das Werk in eine sehr feurige Stretta. Musikalisch eine Einspielung für die 5er Kategorie, klanglich leider mit Abstrichen in Satz 1 und 4. Mehr als eine überzeugene Talentprobe des 26jährigen.
Zur genaueren klanglichen Einordnung: Der Klang wirkt großräumig, teilweise auch hallig, super transparent im leisen Bereich der Dynamik. Die Streicher sind bestens auseinanderzu zu halten, ohne dass seziert würde. Der Klang ist dynamisch und lebendig, die Bässe kräftig. Die Violinen und Bratschen erscheinen etwas nach hinten gerutscht und nich ganz so frei wie die anderen Instrumentengruppen. Im f und ff bricht die Transparenz zusammen, da schlägt die leere allzu unbedämpfte Halle zurück. Der Klang verliert dann seine Offenheit. Um es auf den Punkt zu bringen: An die Clarté der Mercury, der Decca, Philips mit Haitink und CBS mit Bernstein kommt sie trotz des fantastischen Klangs im leisen Bereich in Summe nicht heran. Sie hat jedoch immer noch viel Farbe und Glanz. Das sollte man wissen.
4-5
Andrew Litton
Bournemouth Symphony Orchestra
Virgin
1989
11:53 11:42 8:32 12:36 44:43
GA Die Einspielung mit dem jungen Andrew Litton macht einen schlanken und duftigen Eindruck. Im ersten Satz fallen ein paar gut getimte agogische Eingriffe auf, die die Musik lebendig werden lassen. Der Gestus wirkt etwas sensibler als üblich, die Schlittenfahrt wirkt zwar recht turbulent und gefahrvoll, es geht aber nicht um Leben und Tod. Entsprechend wird die Reprise nicht als Erlösung nach Beendigung der Gefahrenmomente wahrgenommen, sondern man fährt einfach wieder in der Spur. Das ließe sich vielleicht auch auf Tschaikowskys nächtliche Kompositionsversuche übertragen. Das Orchester zeigt ein sehr gute Qualität und spielt klangvoll. Bem Blech fehlt die letztmögliche Attacke, sie scheint jedoch auch gar nicht angestrebt worden zu sein. Es spielt zwar sehr gut zusammen, manchmal hat man jedoch den Eindruck es kommt minimal verzögert. Ein marginaler Einwand, denn die subtile und differenzierte Spielweise lässt auf hohe Empathie dem Werk gegenüber schließen.
Sehr atmosphärisch auf eine zarte und sanfte Art beginnt der langsame Satz. Kahl und rau wirkt das so dargestellte Land allerdings nicht. Die Oboe spielt ihr Solo wohlklingend, die Zeit der hart und schmal klingenden britischen Oboen scheint auch im Süden der Insel endgültig vorbei zu sein. Seltsam erscheint nur, dass sie so voll und rund im ersten Satz noch nicht gespielt hat. Ob es daran liegt, dass sie deutlich nach hinten versetzt wurde? Die „lediglich“ umspielende Flöte kommt viel stärker durch. Die Streicher klingen allesamt vorzüglich, gerade mit den Sordinen nochmals verbessert. Sie scheinen damit die im ersten Satz noch leicht zu vernehmende „Digitalitis“ zu unterlaufen. Die Hörner fühlen sich offensichtlich mit dem Legato viel wohler als bei Marcato, das geht, wenn man mal von den ignorierten Marcato-Zeichen absieht noch halbwegs in Ordnung, denn Litton dämpft die Streicher ziemlich weit ab, sodass die Hörner auch ohne Forcieren locker durchkommen. So erhaben wie bei den Kollegen vom LSO unter Dorati, um nur ein Beispiel zu nennen, klingt es bei ihnen aber lange nicht. Keine Gänsehaut-Garantie in Bournemouth.
Das Scherzo kommt wie auf leisen Sohlen, allerdings auch etwas gebremst und fast schon behäbig wirkend. Ein Spuk auf dem Eis bei Sonnenuntergang. Tschaikowsky als russischer Mendelssohn eben. Der Walzer wirkt ebenfalls gebremster als es die technisch gemessene Spielzeit suggerieren möchte. Nicht dass auch da die Kälte drinstecken würde, denn er wird liebevoll, fast möchte man schreiben fantasievoll gespielt. Die Holzbläser umspielen besonders schön und das klar auf sich aufmerksam machende Horn ist nicht zu verachten. Es gibt in diesem Satz kaum Zuspitzung des Rhythmischen. Alles klingt weich und anschmiegsam wie in einer weit von der Realität entfernten Traumwelt.
Im langsam aber beständig sich aufbauenden Crescendo hat man das Gefühl, dass Litton immer auch ein klein wenig schneller wird. Das suggeriert zumindest die sich immer intensiver zuspitzende Spannungskurve. Die Steigerungsverläufe sind sehr gut getimt. Hut ab vor der britischen „Orchesterprovinz“. Die Winterträume waren für Litton und sein Orchester offensichtlich keine Pflichtaufgabe, nur um den Zyklus zu vervollständigen. Das merkt man auch beim sehr lebhaften Allegro vivo. Dem Hymnus ab T. 410 hätten wir hingegen etwas mehr Tempo gewünscht. Aber da gehen die Auffassungen bei den einzelnen Einspielungen auseinander.
Das offene Klangbild wirkt sehr transparent und lichtet die Strukturen gut auf. Die Proportionen innerhalb des gut ausbalanciert aufgenommenen Orchesters sind gewahrt, das präsente Holz und die kräftigen Bässe gefallen besonders. Nur die Violinen klingen ein wenig gepresst. Die Dynamik ist gut.
4-5
Pablo Heras-Casado
Orchestra of Saint Luke´s
Harmonia Mundi
2015
11:17 11:58 7:57 12:31 43:43
Dieser Einspielung haben wir es zu verdanken, dass wir Tschaikowskys Erstling einmal in einer relativ kleinen Kammerorchester-Besetzung hören können. Da wird die Verwandtschaft zu Mendelssohn noch etwas sinnfälliger. Besonders die sehr präsenten Holzbläser profitieren von der kleineren Streicherbesetzung. Gerade im schwungvollen, exakten und quirligen Spiel der Streicher ergeben sich gute Steigerungsverläufe. Und obwohl die Akzentuierung plastisch wirkt bleibt der Gestus in Punkto temperamentvollem Feuer hinter Dorati, Bernstein und Maazel zurück. Die lyrischen Passagen werden gefühlvoll ausgestaltet. Die bisweilen holprige Fahrt geht auch bei Heras-Casado nicht ohne angstvoll erlebte Gefahren zu Ende. Den orchestralen Glanz von LSO (Dorati), den Wienern oder Amsterdamern erreicht das Saint Luke´s nicht ganz, insbesondere weil dem Blech lange nicht die Präsenz von Streichern und Holz mitgegeben wurde und den Streichern fehlt es zwar nicht an Klasse aber an Masse und das vibratoarme Spiel irritiert bei Tschaikowsky (wahrscheinlich zu Unrecht, weil man es einfach nur anders gewöhnt ist) dann doch.
Das Oboensolo im langsamen zweiten Satz wird erstklassig und stimmungsvoll geblasen, ohne „Nachdrücker“ wird sprechend phrasiert. Die Bratschen stehen ihm darin in nichts nach, genau wie die Violinen. Beim Unisono der Celli hört man dieses Mal keine mit espressivo aufgeladene, quasi hocherhitzte Kantilene. Es hört sich etwas grauer und trauriger an, was eigentlich zur Satzbezeichnung sehr gut passt. Die Celli spielen beredt und mit einer minutiös eingehaltenen Dynamik. Auch die Hörner tragen nicht so groß auf wie sonst, da ihnen die Streicher mit ihren dynamischen Vorgaben nicht das Letzte abverlangen um ihr Unisono deutlich vernehmbar herauszubringen. Sie müssen gar nicht die letzten Kraftreserven mobilisieren.
Das lebendig phrasierte Scherzo erklingt leichter, balletthafter und märchenhafter als zumeist, der Walzer etwas flotter. Der Satz wirkt als Ganzes leichter und tänzerischer, stets locker und recht spannend. Die kleinere Besetzung der Streicher kann hier Pluspunkte sammeln. Die Pauke wird schön plastisch eingefangen.
Etwas seltsam mutet es im Finalsatz schon an, dass die Violinen dieses Orchesters über die größte Dynamik (will heißen auch über die größte Maximallautstärke) verfügen. Das liegt in erster Linie daran, dass das eigentlich differenzierte Klangbild die Instrumente, die so richtig laut werden können deutlich in Schach hält. Becken, die Gran Cassa und das Blech werden vornehm ins Gesamtklangbild integriert, nichts fällt da heraus. Noch nicht einmal die wie Becken, Gran Cassa und Posaunen nur für den vierten Satz aufgesparte Piccolo-Flöte. Das Klangbild wirkt so besonders homogen, leisetreterisch und dinstinguiert. Dass dann vice versa die Besonderheiten des Finales auch teilweise versteckt werden sollte man bedenken. Da man jedoch temperamentvoll und rhythmisch prononciert spielt ist dies vielleicht genau die richtige Einspielung für die, die besonders dem Finale wegen seines „Lärms“ bisher etwas verächtlich gegenüberstanden.
Der Klang der Aufnahme ist sehr präsent, offen, recht körperhaft und sehr transparent. Besonders Holz und Streicher klingen sehr differenziert. Jede Gruppe und jedes Solo ist präzise ortbar. Das Blech klingt dem gegenüber ziemlich unscheinbar, sogar im ff-Bereich. In Hinsicht auf hautnahe Präsenz kommt die relativ neue Einspielung der 50 Jahre älteren Mercury mit Dorati noch am nächsten. Nur dass es dem Blech anno 1965 nicht an Präsenz gefehlt hat, ganz im Gegenteil.
4-5
Vasily Sinaisky
BBC Philharmonic, Manchester
BBC Music
2004
11:45 11:13 7:52 12:13 43:03
Vasily Sinaisky ist bei uns längst nicht so bekannt geworden wie sein Vorgänger beim Staatlichen Akademischen Sinfonieorchester Russlands, Jewgeni Swetlanow. Sinaisky stand ihm lange nicht so viele Jahre vor, nämlich von 1997-2002. Zuvor war er bereits Chefdirigent bei den Moskauer Philharmonikern (1991-1996). Dem BBC-Orchester aus Manchester war er von 1996-2012 als erster Gastdirigent verbunden. Die Aufnahme der „Winterträume“ entstand im New Broadcasting House in Manchester.
Das Orchester spielt den ersten Satz sehr geschmeidig, mit sehr gut klingendem Holz (Klarinettensolo!), mit deutlicherem Blech als bei Pletnev und generell durchzugskräftig. Die dynamische Differenzierung ist meist gut, allerdings nicht immer, wie z.B. bei T. 441, wo Bässe und Celli ff spielen sollten jedoch viel zu schwach klingen. Mitunter geht man etwas sorglos im Detail zu Werke und der richtig dramatische Zugriff fehlt, wenn man sich an die diesbezüglich aufsehenerregenden Einspielungen der 5er Kategorie erinnert. Alles wirkt hier ein wenig lockerer, als ob es nicht wirklich auf den rechten Biss ankäme. Gerade in der Durchführung fehlt so das intensive Miterlebnis.
Im langsamen Satz hören wir ein sehr klangschönes Oboen-Solo, voll im Ton, nuanciert phrasiert und in Begleitung von zwei vollwertigen Begleitstimmen (Flöte und Fagott). Bei den etwas weniger exponierten Unisoni von Bratschen und Violinen zeigt das Orchester erneut wieder, dass es zu den besten Großbritanniens zählt. Die Celli halten trotz etwas reduziertem Espressivo die flirrenden Violinen angemessen in Schach. Ein Marcato ist bei den Hörnern überhaupt nicht zu hören, da geht fast alles legato dahin, allerdings ist das ff deutlich vom f zu unterscheiden, weshalb auch sie die aufgebrachten Streicher dynamisch überragen können.
Das Scherzo gewinnt ungemein durch das geschmeidig spielende und voll klingende, homogene Holz. Nicht ohne Leidenschaft. Der Walzer profitiert vom vollen Klang der Violinen I und der Celli, die beide perfekt miteinander verschmelzen.
Die Tempogestaltung im Finale gefällt. Mit den zusätzlichen Instrumenten, die erst in diesem Satz hinzukommen ergibt sich ein schöner voller Tschaikowsky-Klang mit strahlendendem Blech, sinnlichen Streichern, körperhaftem Holz und zupackendem Schlagwerk. Die Tempi wirken bewegt und in sich konstant. Die Stringendi gelingen mitreißend, das Allegro vivo feurig, der Hymnus flott.
Der Klang der Aufnahme wirkt weich, recht voll und präsent. Das Holz ist im solistischen sehr präsent, wenn es im Tutti spielt leider sehr viel weniger. Man vernimmt es bisweilen auf einer Ebene wie die Streicher, die sogar manchmal ihm gegenüber zurückstehen. Die Transparenz wirkt so „schwankend“. Die Brillanz ist eher durchschnittlich. Es gibt etwas Hall, der jedoch unauffällig bleibt.
4-5
Eugene Ormandy
Philadelphia Orchestra
CBS-Sony
1959
11:37 11:36 7:56 13:16 44:25
GA Diese Einspielung der „Winterträume“ ist Eugene Ormandys einzige geblieben. Die letzten drei Sinfonien hat er drei oder sogar vier Mal verewigt. Er geht sie mit seinem auf ihn seit vielen Jahren eingestimmten Orchester, dessen Chef er von 1938 bis 1980 insgesamt 42 Jahre war, gewohnt gekonnt und virtuos an. Allerdings klingt das Orchester dieses Mal und in der neu abgemischten Gesamtausgabe aller seiner Tschaikowsky-Einspielungen erstaunlich schlank mitunter sogar nüchtern. Ungewohnt strukturbetont, sehnig, mit markantem Blech und sehr großem Ernst sind die Musiker bei der Sache, gerade so, als ginge es um die schicksalsschweren letzten drei Sinfonien. Obwohl die Kontraste voll ausgespielt werden, wirken manche wenige Passagen doch leicht runtergespielt. Die Emotionalität wirkt stets beherrscht, es wird nichts übertrieben. Der Gestus wirkt spürbar weniger spannend als beim ebenfalls aus Ungarn emigrierten Antal Dorati. Auf jugendliche Entdeckerfreude und der Darstellung existenzieller Gefahren ist diese Interpretation nicht unbedingt aus.
Der helle Oboen-Ton im Adagio cantabile ma non tanto wirkt wenig moduliert. Wenn man weniger empfindlich ist, kann man den starren Ton aber noch auf seine Art als recht ausdrucksvoll bezeichnen. Die sogleich folgenden Bratschen hätten den Oboisten jedoch lehren können, wie man eine einfache Melodie mit Schmelz und Ausdruck erfüllt. Die Celli des Philadelphia Orchestra legen die Messlatte dann nochmals höher mit ihrem tollen Espressivo. Celli und Violinen sind in dieser Einspielung übrigens räumlich sehr weit voneinander getrennt. Bei mancher Aufnahme aus den 50ern herrschte noch eine gewisse „Ping-Pong-Stereophonie“ vor. Die Techniker waren noch zu sehr von den Möglichkeiten fasziniert und schossen manchmal leicht oder auch mal deutlich am Ziel einer natürlich wirkenden räumlichen Aufzeichnung vorbei. Die überaus deutlich erkennbare amerikanische Orchestersitzordnung hat aber so den großen Vorteil, dass die Hauptstimme der Celli nicht von den ff-Violinen überdeckt wird. Das Holz wirkt manchmal sehr nah, dann wieder ziemlich weit weg mikrofoniert. Das Unisono der Hörner klingt ausgesprochen klar und von den im Espressivo ein wenig gezügelten Streichern ungefährdet. Sie kommen im ff schön ins schmettern, jedoch wirkt ihr Klang nicht so tiefgründig wie bei den Berlinern mit Karajan, den Wienern mit Maazel oder den Londonern mit Dorati. Das LPO mit Jurowski wollen wir dabei keineswegs vergessen.
Das Scherzo wirkt ebenfalls gezügelt, wirkt weniger leicht und geschwind, wie es das so schlank auftretende Orchester sicher hätte hinzaubern können. Wir hören ein sanftes Irrlichtern mit einem sehr guten und sehr deutlichen Fagott. Der Walzer gelingt klangschön, unbeschwert und mit deutlichen Nebenstimmen.
Überraschend für die doch so oft die „Show“ suchenden Musiker aus Philadelphia wirkt das Finale im Temperament gezügelt. Das betont sorgfältige, sehr saubere, klangschön-geschliffene Spiel konterkariert den bei vielen Musikfreunden eher schlechten Ruf von Banalität des Finales ziemlich wirksam. Das wirkt seriöser als es vielleicht von Tschaikowsky gemeint war. Allerdings kann Ormandy auf diese Art das Finale nicht sozusagen über sich hinausführen, wie man es bei Golowanow, Paavo Järvi, Dorati oder Swetlanow hören kann. Dazu fehlt es einfach an Spannung, Tempo, Überschwang und Glut.
Der detailreiche Klang der Aufnahme bietet eine sehr breite Stereo-Basis von erstaunlicher, wie lichtdurchfluteter Transparenz wie bei einer gerade erst erstellten taufrischen Neuaufnahme. Auch und gerade im Streicherchor. Es klingt jedoch nicht so voll und üppig, wie man es vom Orchester und seinem Dirigenten schon häufig gehört hat. Oder wie es die elf Jahre neuere Bernstein-Einspielung desselben Labels bietet. Die Räumlichkeit hat auch Tiefgang. Nur die Violinen klingen trotz des geschmeidigen und homogenen Spiels ein wenig rau, da kam wohl auch das neue Remastering an seine Grenzen. Das Orchester wird auch im ff noch erstaunlich transparent und tiefenscharf abgebildet. Es ist ganz erstaunlich, was die Stereo-Pioniere schon aus der damals noch vergleichsweise bescheidenen Technik herausholen konnten. Dabei hatte man diesbezüglich von den alten CBS-LPs damals nicht gerade den besten Eindruck.
4-5
Mariss Jansons
Oslo Philharmonic Orchestra
Chandos
1984
11:45 11:26 7:33 14:41 43:25
GA Im Klang des norwegischen Orchesters schwingt stets eine warme Kantabilität mit, es spielt sorgfältig und beschwingt. Gerade die Holzblasinstrumente gefallen sehr gut. Musikalisch fällt eine große Ähnlichkeit mit der Amsterdamer Einspielung Haitinks auf. Offensiver und abenteuerlustiger gehen jedoch unter anderen Dorati oder Bernstein an den ersten Satz heran. Obwohl die Höhepunkte voll ausgespielt erscheinen stellt sich das Gefühl von „Lebensgefahr“ nie ein. Wie auch in späteren Jahren vom Dirigenten gehört, hält er nicht viel von Extremen oder gar Übertreibungen. Klanglich gehört die Darbietung zu den besseren, die Spannung erreicht jedoch nicht den Siedepunkt, wie er von Dorati 1965 definiert wurde. Dazu fehlt es an offenherziger Dynamik und an Lebendigkeit, auch des Klangs.
Die Osloer Streicher spielen zu Beginn des langsamen Satzes so schön, als gäbe es von Kälte und Düsternis keine Spur. Viel Wärme im Klang und viel Herz im Spiel bringt auch das Oboensolo mit, von der Berliner Oboe nicht einmal weit weg. Die Celli kommen sehr schön heraus, man meint, dass da jeder Cellist und jede Cellistin alles gibt. Die Hörner zeigen eine fein abgestimmte Dynamik und Jansons lässt die Streicher dazu ganz zurückhaltend spielen, sodass sie unbedrängt bleiben. Die zuvorkommende Art der Streicher hindert sie jedoch nicht, sich zu großer Performance aufzuschwingen. Es beeindruckt, wie gut das Orchester untereinander abgestimmt ist.
Das Scherzo wirkt gut akzentuiert, mit warmem Ton und doch leicht und flexibel gespielt. Beim Walzer hätten wir uns dann doch mal etwas brillantere Violinen gewünscht. Vielleicht ist der etwas matte, leicht verschattet Klang aber auch Absicht.
Das Finale wirkt gut strategisch geplant und sehr gut getimt. Gute Accelerandi, gute Crescendi und Stringendi. Das Orchester wirkt dabei stets sauber und gutgelaunt. Man ist in Geberlaune. Die Pauke kommt leider nur schwach, die Gran Cassa und die Becken werden nur kurz und zurückhaltend angeschlagen, wirken also ebenfalls eher dezent. So kann man dem Satz ebenfalls viel von seiner mitunter als aufdringlich empfundenen Klanglichkeit nehmen.
Für Chandos-Verhältnisse wirkt der Klang recht präsent, warm, voll und sonor, aber auch transparent, vor allem bei leisen Stellen und besonders der Streicherchor. Die Balance von Streichern, Holz, Blech und Schlagwerk muss als geglückt bezeichnet werden. Dynamisch reisst der Chandos-Klang keine Bäume aus und das gesamte Klangbild wirkt etwas verhangen, was im Prinzip gerade zu den ersten beiden Sätzen gut passen sollte. Obwohl in der kritischen Frühzeit der Digitalära entstanden bemerkten wir kaum Befall von „Digitalitis“ (kühle Klangfarben, harte Violinen). Dennoch klingt es aus London, Amsterdam und Wien besser, vor allem brillanter, offener und lebendiger. Auch die DG-Aufnahme aus Boston klingt leuchtkräftiger, dynamischer und weniger stumpf.
4-5
Oleg Caetani
Melbourne Symphony Orchestra
ABC Classic
2008, live
11:09 8:48 7:26 12:26 39:49
GA Der Sohn Igor Markewitschs, der lieber den Namen der Mutter fortführen wollte, studierte wie sein Vater noch bei Nadja Boulanger, zudem bei Franco Ferrara, Kyrill Kondraschin und Ilya Musin. Er war von 2005-2009 Chefdirigent des australischen Orchesters.
Der Gestus im ersten Satz ist zwar temperamentvoll, das Orchester lässt keine echten Schwächen erkennen und es klingt dramatisch und recht zugespitzt, es bleibt jedoch immer eine gewisse Distanz und bei allem Nuancenreichtum eine gewisse Glätte im Vortrag spürbar. So wirkt Caetanis Einspielung der von Maurice Abravanel ähnlicher als der des Vaters. Das Melbourner Orchester ist jedoch das bessere Orchester als jenes aus Salt Lake City. Vom schwereren Tschaikowsky-Klang der späteren Schicksals-Sinfonien setzt sich die Jugendsinfonie in der Melbourner Darbietung spürbar leichtgewichtiger ab.
Die ausgezeichnete dynamische Differenzierung setzt sich im 2. Satz fort. Das Tempo wirkt sehr zügig und ist von einem Adagio, trotz ma non troppo eigentlich weit entfernt. So wird dem Satz jedoch einen zarten, fast schon fragilen Charakter verliehen. Man könnte von einem Intermezzo sprechen. Entsprechend wirken die Soli zwar schön gespielt und recht ausdrucksvoll, es fehlt ihnen jedoch die spezifische Expressivität. Vor allem dem Unisono der Hörner fehlt bei dem geschwinden Tempo die Intensität. Es laufen dem Hörenden keine Schauer über den Rücken, allerdings kommt auch keine Langeweile auf.
Das Scherzo erreicht mit dem flotten Tempo und der leichten Spielweise schon „Sommernachtstraum“-Qualitäten. Gerade auch verbunden mit der nach wie vor ausgezeichneten dynamischen Differenzierung und dem besonders klaren Klang. Taghell, sogar mit Sonnenschein verbunden, möchte man sich den zugefrorenen See und die Schlittschuhe bei Dämmerung gar nicht so recht vorstellen. Der leichte, beschwingte Walzer passt sehr gut dazu, wenngleich er sich nicht unbeschwert anhört. Ohne Melancholie geht es bei Tschaikowsky auch down under nicht ganz.
Im Finale kann das Orchester gut zeigen, was es draufhat, nun vor allem auch das Blech. Zur obersten Spitze fehlt, dieser Einspielung zu urteilen, nur noch etwas an Substanz und Glanz. Es gelingt jedoch dem Satz viel von seiner lärmenden Banalität zu nehmen, die er in weniger sorgsamen Einspielungen schnell erhält. Diese Einspielung macht unserer bescheidenen Einschätzung nach viel richtig und sammelt sich eine Menge Sympathiepunkte. Sie leistet sich einen eigenen Charakter, wobei das belebte Scherzo ganz besonders gefällt und könnte eine schlanke Alternative sein für alle, denen Tschaikowsky sonst zu schwer im Bauch liegt oder zu tragisch anmutet.
Der Klang der Einspielung wirkt präsent und besonders transparent. Besonders die Holzbläser, aber auch Streicher und Blech. Das Orchester erscheint mustergültig aufgefächert, der Raum hingegen wirkt eher kompakt, das Klangbild als Ganzes ziemlich trocken und lässt eher an ein Studio denken als an einen Konzertsaal. Die Dynamik ist gut. Der leichtgewichtige Bass unterstützt die Leichtigkeit der Darstellung ebenfalls. Andere Hörer/innen könnten hingegen die rechte Erdung des Orchesterklangs vermissen.
4-5
Jewgeni Swetlanow
BBC Symphony Orchestra, London
Ica Classics
2002, live
12:12 12:42 8:46 12:10 45:50
Augenzeugen berichteten, dass der bei seinem Londoner Konzertauftritt 74jährige Dirigent unsicher im Gang und zittrig in der Geste gewesen sei und Ohrenzeugen meinten, dass das Orchester dies nicht ganz wettmachen konnte. Nochmals 19 Jahre später als die Exton-Aufnahme und 35 Jahre nach der Melodija-Aufnahme entstand des Dirigenten letzte Aufnahme der Ersten zwei Wochen vor seinem Tod. Gegenüber 67 wirkt die Darstellung wie bereits die 1993er deutlich verfeinert, bei Holz und Blech geschliffener und bei den Streichern voller und runder. Die Darstellung gewinnt an wehmütiger Süße (z.B. Klarinettenthema T. 138 ff), Geschmeidigkeit, Wärme (Streicher) und Kontrolle (Blech). Das Orchester klingt viel ausgewogener und erreicht in etwa die Qualität der 1993er Einspielung. Der Gestus hat dieser gegenüber noch an Wucht gewonnen, jedoch an jugendlichem Schwung und Dynamik verloren, lässt nun in der Durchführung den stürmischen Impuls ein wenig vermissen.
Das Adagio cantabilie ma non tanto wirkt sogar etwas zügiger als 93, die Celli spielen sehr schön (wie könnte man diese herrliche Melodie überhaupt nicht schön spielen?), es klingt jedoch nicht in der gleichen Klarheit und nicht mit demselben Espressivo als 1993. Die Hörner kommen auch ohne näher auf die Marcato-Spielweise einzugehen gut heraus, sehr deutlich hört man dieses Mal, wie sie passagenweise von Oboen und Klarinetten unterstützt werden (ab T. 140). Das fiel in anderen Aufnahmen bei noch dominanteren Hörnern und aufgetriebenem Streicher espressivo gar nicht so auf.
Im recht gemächlich gespielten Scherzo kann die Präzision der 93er nicht erreicht werden. Die Flöte bringt ihre p-Spielanweisung recht unterschiedlich an, manchmal ist sie dann sogar lauter als die Oboe im ff. Auch erscheinen die Bässe gegenüber 93 unterbelichtet.
Das Finale beginnt sehr ruhig. Der Streicherklang hat sich eigentlich ein Sonderlob verdient, sie spielen in allen Sätzen sehr geschmeidig, warm und voll, auch in den schnellen Passagen des Finalsatzes. Hier macht sich die angeblich zittrige Geste jedenfalls nicht nachteilig bemerkbar. Die Stringendi und die „russischen“ Synkopen haben nur wenig an Würze eingebüßt, allenfalls die Steigerungsverläufe wirken nicht mehr so dynamisch wie ehedem. Die Fugati allerdings erklingen nicht mehr so klar und auch die sehr lauten Tutti weisen nicht mehr die Transparenz der 93er Einspielung auf. Das war aber auch ein anderer Raum, ein anderes Orchester und andere Techniker, von den Aufnahmegeräten einmal ganz zu schweigen. Der „Hymnus“ (ab T. 431) wird im Tempo etwas breiter genommen, klingt jedoch immer noch sehr kraftvoll. Beim piu animato weiß Herr Swetlanow immer noch mitzureißen, auch wenn die Kraft bereits nachgelassen haben sollte. Das Orchester wirft sein ganzes Können in die Waagschale, vielleicht um dem angeschlagenen Dirigenten einen letzten Triumph zu ermöglichen.
Der Klang der Aufnahme ist wie zu erwarten war viel voller, üppiger, offener, weicher und transparenter als 1967. An die Tieferschärfe und Körperhaftigkeit der japanischen Aufnahme von 1993 kommt sie nicht heran. Dynamisch erreicht sie nicht ganz die gleiche Spannweite. Aufgefallen ist besonders, wie deutlich sich die Hörner im Unisono des zweiten Satzes klanglich von den Soli unterscheiden. Darauf konnten wir uns keinen Reim machen. Insgesamt hören wir eine sehr gute Live-Aufnahmequalität.
4-5
Christoph Poppen
Deutsche Radio Philharmonie
Oehms
2007, live
11:00 10:59 7:11 12:23 41:33
GA Diese Einspielung fand noch im Jahr der Fusion der beiden Klangkörper aus Saarbrücken (Rundfunk-Sinfonieorchester) und Kaiserslautern (Radioorchester des SWR). Die Fusion konnte man damals als hellseherisch bezeichnen, denn Jahre später wäre die Existenz beider Orchester sicher mehr als gefährdet gewesen. Das SWR-Sinfonieorchester hat seine „Fusion“ mit dem RSO Stuttgart sehr viel „teurer“ bezahlen müssen. Bei der Live-Aufnahme aus der Saarbrücker Kongresshalle könnte man allerdings einwenden, dass sie noch zu früh gekommen sein könnte, da die beiden Orchester noch nicht genug Zeit gehabt hätten richtig „zusammenzuwachsen“. Aber man wächst an seinen Aufgaben und Herr Poppen war genau der richtige Dirigent für alle Belange der Fusion.
Er wählt ein mittleres Zeitmaß verbunden mit einer echt jugendfrischen, kraftvollen Spielweise. Die Soli gelingen eloquent, das Zusammenspiel eigentlich ungefährdet. Die „Schlittenfahrt“ wirkt zwar nicht ungefährlich, aber existenzielle Nöte werden kaum geschildert. Obwohl Herr Poppen die dunklen Schatten nicht übersieht, obsiegt das „Urvertrauen“. Im Vergleich zur Live-Aufnahme 2024 mit Axel Kober bemerkt man kein gravierendes Qualitätsgefälle, allenfalls spielte man 2007 noch nicht ganz so frei und noch nicht so prall erfüllt mit Lebendigkeit wie 2024 und wie die allerbesten.
Das Solo der Oboe gefällt jedoch 2024 wegen der besseren Ausdifferenzierung und des etwas volleren Klanges noch etwas besser. Die Celli verlieren, da sie sozusagen hinter den Violinen versteckt sind bei ihrem großen Unisono einiges an Volumen und Glanz. Die Hörner hingegen können mit erhabenem und glanzvoll-warmem Klang hervortreten und beherrschen den gesamten Orchesterklang. So lässt sich das öde und neblige Land vortrefflich erwärmen.
Das Scherzo wirkt noch ein wenig massiv und sportlich, kann aber mit seinem deutlichen Rhythmus punkten. Der Walzer klingt mit gut vermischtem Klang der Violinen I und der Celli prima, da macht sich die Sitzordnung positiv bemerkbar. Sie saßen beisammen. Poppen holt hier mit dem anschmiegsam-tänzerischen Charakter viel gute Laue heraus.
Das Finale als vermeintlich schwächster Satz wird in dieser Darbietung zum Besten, denn er wird mit viel Hingabe musiziert. Er kommt der optimistischen Herangehensweise des Dirigenten vielleicht auch am weitesten entgegen. Er wirkt emotional erfüllt und belebend zum strahlenden Höhepunkt. Hier kann das Orchester besser als im ersten Satz, als es möglicherweise noch nicht ganz freigespielt war, zeigen, dass es an kultiviertem Zusammenspiel und der Fähigkeit Musik mit viel Empathie darzustellen durch die Fusion nichts verloren hat.
Der Klang der Aufnahme wirkt offen, transparent, warm, weich, farbig und recht natürlich. Von der 2007er CD klingt es dynamisch erheblich besser als bei der dynamisch extrem komprimierten und dadurch ziemlich vermasselten Sendung 2024, als Axel Kober das Orchester dirigierte. Die Staffelung geht sehr gut in die Breite, geht aber weniger in die Tiefe hinein. Warum kann man beim SR diese Klangqualität nicht wenigstens ansatzweise auch den Radiohörern zur Verfügung stellen?
4-5
Václav Smetácek
Prager Sinfonieorchester
Supraphon
1961
10:18 9:43 8:03 12:27 40:31
Das Tempo in dieser tschechischen Einspielung ist sehr flott, der Gestus sehr angetrieben und lebhaft. Bei Smetácek lässt das Spiel keinen Zweifel darüber, dass es sich um „Tagträume“ handelt. Darin ist der Tscheche Vorgänger von Dorati und Swetlanow. Die Klarinette wirkt allerdings klanglich gerade in ihrem Solo (T. 138 ff) ein wenig zu dünn geraten, wie überhaupt der Orchesterklang sehr schlank wirkt. Strahlkräftig und eher silbrig und ebenfalls recht schmal klingen die Trompeten, darin den russischen nicht unähnlich. Die Staccati des Holzes sind stark kontrastierend herausgearbeitet. Das Spiel wirkt virtuos und behände, wie getrieben von einem mächtigen und zugleich feurigen Impetus. Dennoch kommt das Orchesterspiel an die Konkurrenz der zeitlich benachbarten allerdings außerordentlich gelungenen Aufnahmen des LSO (Dorati) oder der Wiener Philharmoniker (Maazel) nicht heran.
Der zweite Satz erhält durch das teils sehr zügige Tempo sehr wenig Adagio-Charakter. Die Oboe klingt bei ihrem eigentlich herzzerreißenden Solo unangenehm und ihr Spieler lässt sich in der Gestaltung überhaupt nichts einfallen. Die Celli füllen den Anspruch an ein Cantabile viel besser aus. Expressiv und sehr deutlich, die „amerikanische Sitzordnung“ (Celli: vorne rechts) fällt erneut positiv auf. Herr Smetácek setzt das Pochissimo piu mosso deutlich ab. Das Tempo wird noch schneller. Während des stark gesteigerten Unisonos der Hörner (man geht bis zum Schmettern) zerreißen sich auch die Streicher gefühlt bei ihrem Crescendo. Das ist dann tolle Ausdrucksmusik. Dafür alleine sollte man diese Einspielung einmal gehört haben!
Im transparent gehaltenen Scherzo spielt das Holz eher rustikal, burschikos, ja ursprünglich auf, während der Walzer erstaunlich vorsichtig, fast tastend und bodenständig gespielt wird. Die Kombination Violinen I und Celli klingen ziemlich rau und inhomogen. Die plastisch herausgearbeiteten Umspielungen von Holz und Hörnern gefällt gut. Hinzuweisen wäre noch auf die allzu unauffällige Pauke. Wo ist ihr f geblieben?
Das Finale wird beherzt, straff und ziemlich stürmisch akzentuiert. In den retardierenden Passagen geht etwas Spannung verloren. Wo ist in dieser Einspielung die Gran Cassa? Reduzierter geht es nicht mehr. Wie die Pauke im Scherzo. Die Becken werden so schnell, kurz und intensiv angeschlagen, dass von ihnen kaum eine auftrumpfende oder störende Wirkung ausgeht. Musikalisch hören wir eine der besten Codas überhaupt.
Klanglich ist die Aufnahme präsent, vor allem das Holz. Räumliche Staffelung ist kaum vorhanden, sodass das Klangbild flach wirkt. Die Violinen klingen noch etwas belegt, wobei man nicht wer da mehr Schuld trägt, die betagte Analogaufnahme oder der frühe Transfer ins Digitale (80er Jahre) der abgespielten CD. Ein neues Remastering soll unterdessen vorliegen, da klingt die Aufnahme wahrscheinlich besser. In Sachen Transparenz könnte es die Aufnahme sogar mit der Mercury Doratis aufnehmen. Insgesamt erreicht sie jedoch „nur“ das klangliche Niveau der Melodija Swetlanows. Sie rauscht immerhin weniger als die Mercury.
4-5
Mstislaw Rostropowitsch
London Philharmonic Orchestra
EMI
1976
12:19 12:07 7:07 13:23 44:56
GA 1976 produzierte EMI gleich zwei Einspielungen von Tschaikowskys „Winterträumen“. Beide sollten später Teile einer Gesamtaufnahme der Sinfonien Tschaikowskys werden. Riccardo Muti nahm ebenfalls in London mit dem damaligen New Philharmonia Orchestra auf. Schon in den ersten Takten nimmt Rostropowitsch, dessen Gesamtaufnahme man sicher als heterogen gelungen bezeichnen kann, für sich ein. Die erste klingt nun nach dunkler, gewichtiger Sinfonik. Der Streicherklang wirkt großzügig, reich und tiefgründig. Manche Klischees erweisen sich einfach als zutreffend, denn Rostropowitsch war damals als Dirigent aufstrebend, als Cellist der Weltstar schlechthin. Die Holzbläser werden jedoch ebenfalls gekonnt in Szene gesetzt (klanglich können sie nicht mit dem neuen Sound des LPO mit Jurowski mithalten) und das Blech klingt prachtvoll, manche werden sagen gebieterisch. Rostropowitsch trifft sehr gut eine Balance zwischen jugendlichem Schwung, Wärme, Erhabenheit und ballettartiger Anmut (vor allem im dritten Satz). Während die Streicher voll, tief und sonor wirken (erheblich sonorer als die Konkurrenz des New Philharmonia bei Muti), sorgt das Holz mit dem damals noch hellen (Oboen)klang für ein gewisse Aufhellung. Der Kopfsatz wirkt in dieser Darstellung mächtig, die Sinfonie wie ein ausgewachsenes Meisterwerk. Der Dirigent bringt spürbar viel Empathie dem Werk gegenüber mit und vermag sie an das Orchester weiterzugeben. Jugendliche Aufbruchstimmung vermittelt sich weniger.
Im Adagio cantabile verweilt der Dirigent sehr gerne, um die schönen Melodien voll auszukosten. Angst, dass die kompositorische Substanz noch nicht tragfähig genug wäre, scheint ihn dabei nicht zu überkommen. Er ist offensichtlich durch und durch von dem Werk überzeugt, woran es anderen Dirigenten anscheinend mitunter mangelt. Das ausladende Tempo ist in jedem Fall eines Adagio cantabile würdig. Gegenüber dem New Philharmonia Orchestra ist auch das Oboen-Solo vorzuziehen und die begleitenden Streicher klingen bei Rostropowitsch einfach voller und schöner als bei Muti. Bei Haitink und auch bei Bernstein klingt es jedoch noch wärmer. Die Celli spielen zwar wunderschön, werden aber durch die Aufstellung im Orchester hinter den Violinen von diesen an der rechten Entfaltung gehindert. Das spezifische Celli-Feeling der besten Einspielungen wird so leider nicht erreicht, obwohl es am hochklassigen empathischen Spiel nicht mangelt. Sie werden von den Violinen bereits bei deren p bereits nahezu überwuchert. Leider wurden auch die Hörner sehr weit nach hinter gesetzt (die Crux so vieler Quadro-Aufnahmen, bei Muti zeigt sich übrigens ähnliches). Bei Rostropowitsch geht das so weit, dass ein ff der Hörner gerade einmal so laut ist wie ein pp der Flöte. Da hätte die Aufnahmetechnik unbedingt gegensteuern müssen. Seltsam ist dies schon, denn an anderer Stelle lässt der Dirigent bei den Streichern ein berückendes pp erklingen.
Sehr stark zum langsamen Satz kontrastiert der Dirigent das Scherzo, das sehr flink und geschmeidig irrlichtern darf. Hervorragend! Allerdings geht er dynamisch in die vollen, wenn es bei anderen viel Mendelssohn ähnlicher leicht klingt. Eine gewisse ungewohnte Dramatisierung steht dem Scherzo aber gut an, führt es quasi noch näher zum russischen Nationalkolorit. Die rumspukenden Geister wirken wenig elfenhaft, mehr kann man sie sich wieder als kräftige Trolle vorstellen. Sehr turbulent.
Auch im Finale hat Rostropowitsch keine scheu vor breiten Tempi, im Gegenteil: Er zeigt Mut zur Langsamkeit. Er ist der Meinung, dass die Substanz hält und tatsächlich gelingt es, die Spannung hochzuhalten. Der sehr temperamentvollen Entwicklung mangelt es nicht an Lautstärke. Es gibt auch keine Scheu das vorhandene Instrumentarium im Klang ungeschmälert zu präsentieren. Rostropowitsch nutzt sehr große Gegensätze bei den Tempi. Die Coda wird bei ihm zur Stretta. Brillantes Blech. Im gesamten Auftreten wirkt die Sinfonie besonders russisch (ein Wort, das derzeit leider keinerlei Charme mehr verströmt). In der Romantik mag das vielleicht noch anders gewesen sein.
Die Darbietung wirkt inspiriert, das Orchester wirkt begeistert. Sie klingt kraftvoll und ziemlich breit. Trotzdem steht der gefundene Gestus dem Jugendwerk gut an, wenn auch auf individuelle Weise.
Der Klang der Aufnahme wirkt erheblich präsenter und plastischer als bei Muti, zudem erheblich saftiger und dynamischer. Die Aufnahme Mutis bietet jedoch eine bessere Tiefenstaffelung. Leider lässt im f und ff des Tutti die Transparenz stark nach, was man im Verlauf der Sinfonie als erheblichen Nachteil der Klangtechnik registriert.
4-5
Herbert von Karajan
Berliner Philharmoniker
DG
1979
11:38 12:04 7:54 12:41 44:17
GA Wie bei anderen Star-Dirigenten (Haitink, Bernstein) nahm Karajan die drei frühen Sinfonien Tschaikowskys erst spät auf und erst nach langem Beknien durch die Deutsche Grammophon. Im Fall Tschaikowsky klappte es immerhin noch etwas schneller als im Falle der Bruckner-Sinfonien, bei der die DG Karajan ebenfalls lange um den Abschluss der Gesamtaufnahme bitten musste. Im Konzert wird er die drei frühen Sinfonien kaum je gegeben haben. Auf den ähnlichen Zusammenhang in Sachen Bruckner angesprochen sagte er einmal sinngemäß: „Warum soll ich die zweite oder dritte Sinfonie spielen, wenn ich auch die vierte oder achte nehmen kann?“ So ist es anzunehmen, dass die „Winterträume“ im Wesentlichen nur für die Platte einstudiert wurden. Der besondere Klangästhetizismus Karajans sollte vor allem bei den beiden Mittelsätzen auf fruchtbaren Boden fallen, so könnte man es sich vorstellen.
Im Kopfsatz wird die romantische Stimmungshaftigkeit gut getroffen. Schon der besonders fein gewebte Streicherteppich verrät jedoch schon die vom angesprochenen Klangästhetizismus Karajans geprägte Sichtweise auch auf dieses Werk. Die einzelnen Töne können in der Gesamtstruktur verschmelzen. Schöner (und dichter) ist der Schnee wohl noch nie gefallen. Die Gangart ist recht straff, die sf wirken eher sanft, um nicht verschliffen zu schreiben. Die Entwicklungsverläufe klingen beherzt. Die Violinen extrem homogen aber auch sehr kompakt. Das Holz sogar einmalig homogen. Das Spiel wirkt hochkonzentriert, die Nr. 1 wird also keinesfalls auf die leichte Schulter genommen, dazu wäre Karajan auch viel zu sehr Profi gewesen. Das Niveau des Orchesters ist bestechend, auch das Blech spielt sauber und enorm klangvoll. Die Steigerungen gelingen ihm eher bullig, drückend aber auch durchaus vehement. Ein durchgehendes Spannungsniveau vermisst man jedoch ebenso wie der Biss gegenüber dem innerlich stärker beteiligten LSO bei Dorati und wie die drängende Unerbittlichkeit Bernsteins. Karajan bietet so etwas wie eine Draufsicht auf die Dinge, bleibt am Alb- oder Tagtraum selbst jedoch sozusagen weitgehend unbeteiligt. Dass die Schlittenfahrt eine Gefährdung der Existenz bedeuten könnte, auf diese Idee käme man bei Karajan nicht.
Das Adagio cantabile ist der am besten gelungene Satz in Karajans Einspielung. Der bereits angesprochene Klangästhetizismus kann sich hier am besten entfalten. Nicht nur in den feinen und feinsten Klangabstufungen, die jedoch in diesem Fall nicht geschmäcklerisch wirken. Der Klang der Streicher mit der Sordine kann man sich kaum schöner vorstellen, allerdings wirkt der Klang weniger düster, aber besonders reichhaltig und tiefgründig. Das Oboen-Solo erklingt wundervoll weich, voll und sinnlich. Der Berliner Oboen-Klang war lange Zeit Vorbild unzähliger Musikstudenten zumindest einmal an vielen deutschen Musikhochschulen. Man hat den Eindruck, dass er sich über die Jahre in fast ganz Mittel- und Nordeuropa mehr oder weniger verbreitet hat. Die Flöte erklingt in vollkommener Relation zu ihm, noch besser allerdings das üppig klingende Fagott. Da die Aufnahme nicht übermäßig brillant erscheint, kann die Flöte nicht über die Stränge schlagen. Die Gruppe der Bratschen könnte ebenfalls kaum schöner klingen, genau wie die folgenden Violinen, jeweils von Tschaikowsky mit einem längeren Unisono bedacht. Die Celli überragen jedoch alle, ihr Espressivo-Klang bohrt sich geradezu in die Herzen der Zuhörer/innen. Während ihres Unisonos bleibt ihre Dominanz gegenüber den anderen Streichern unangefochten. Ebenfalls überragend der Vortrag der Hörner, wobei man ebenso wie in London (Dorati) und in Wien (Maazel) den Eindruck hat, dass alle vier (statt nur zwei) für den umwerfenden Klang verantwortlich sein könnten. Karajan hat auch in anderen Werken die Bläser gerne einmal verdoppelt. Die Violinen werden ebenfalls stark bis zum ff gefordert, statt nur zum f, wie es Tschaikowsky notiert, trotzdem steht der Hörnerklang krönend über dem Orchester. Der Satz wird mit besonderem Klangraffinement und ganz besonderer Schönheit gespielt. Andererseits hat er kaum etwas mit einem kahlen, rauen Land zu tun, insofern er die Satzüberschrift eher konterkariert als ihm zu entsprechen. Sehr wahrscheinlich geht es Tschaikowsky sowieso viel eher um sein Innenleben (weshalb er die Überschriften bei den beiden folgenden Sätzen lieber weggelassen hat) und dieses wird bei aller erwärmender Klangsinnlichkeit eindrucksvoll und bildhaft ausgedrückt.
Das Scherzo erklingt zwar ebenfalls mit fein abgestufter Dynamik, jedoch erscheint der soeben noch gelobte Klang nun etwas zu dick oder fett. Es stellt sich kaum Mendelssohn-Feeling ein, auch keine russische Variante davon. Beim Walzer wird schon einmal ein p (bei den Violinen) rigoros überspielt zugunsten der kontinuierlich strömenden Bewegung. Beim Walzer dominieren die tonangebenden Streicher (Violine I und Celli) so sehr, dass dem umspielenden Holz die die Rolle eines Zaungastes bleibt. Das ist definitiv zu wenig, trotz des schönen Espressivo.
Reichlich abgewandelte Dynamikvorschriften gibt es ebenfalls im Finale zu bemerken. Da spielen die Fagotte mindestens mit markigem mf statt des vorgeschriebenen p; kein Wunder, dass der Bläsersatz so schön herausgeputzt erscheint. Die Violinen auf der G-Saite bei T. 17 klingen statt des notierten p ebenfalls reichlich laut, gleiches gilt für die Bässe. Der Klang wird allgemein besonders auf reichhaltige Klangfülle angelegt. Die Gran Cassa wird dagegen komplett verschenkt, denn extrem herausfallende Instrumente werden bei Karajan zugunsten des strömenden Gesamtklangs zurechtgestutzt. Die Entwicklungsteile wirken drängend, mit hoher Virtuosität und ebensolcher Perfektion dargeboten. Die Posaunen erscheinen etwas pünktlicher und besser gestimmt zur Stelle als bei den Wienern (Maazel). Der Hymnus wird vom umwerfend strahlenden und doch nie aufdringlichen, goldenen Glanz der damaligen Trompeten-Gruppe dominiert. Bei aller orchestraler Exzellenz kann Karajan den lärmenden Charakter, den der Satz bei vielen Einspielungen ausstrahlt nicht ganz vermeiden oder gar adeln. Schlanke Rasanz wäre vielleicht das bessere Mittel dazu. Vielleicht sind die Mitwirkenden auch nicht so ganz überzeugt von der Qualität des Satzes, sodass es ihnen ihrerseits an Überzeugungskraft fehlt. Das Highlight dieser Einspielung ist eindeutig der zweite Satz. Das Oboen-Solo, die Celli und die Hörner daraus sollte man einmal gehört haben.
Der Klang der Analog-Aufnahme wirkt warm und eher dicht. Auffallend sind die prominent ins Klangbild aufgenommenen Kontrabässe, die dem Orchesterklang ein kräftiges Fundament verleihen. Transparenz war allerdings nicht das primäre Ziel der Techniker, die sich stets der „Regie“ des Maestros unterzuordnen hatten. Besonders im lauten Tutti ist sie eher enttäuschend. Die Tiefenstaffelung geht noch in Ordnung. Der Gesamtklang wirkt eher gedrungen und kompakt, voll, fast schon fett. Ganz im Gegensatz zum schlanken, lichten und transparenten Klang der Mercury von 1965 mit Antal Dorati und dem LSO oder der Decca mit den Wienern und Lorin Maazel von 1964.
4-5
Riccardo Muti
New Philharmonia Orchestra, London
EMI, Brilliant Classics
1979
11:38 12:04 7:54 12:41 44:17
GA Der damals 38jährige Muti geht den Kopfsatz der Sinfonie zwar recht temperamentvoll, aber doch gelassener und gelöster als die rigoros losstürmenden Kollegen Dorati und Swetlanow (1967). Das Philharmonia spielt (leider) noch mit seiner alten, hell und recht hart klingenden Oboen-Besetzung. In späteren Aufnahmen (etwas ab Mitte der 80er Jahre) erklang es als Ganzes voller. In der Durchführung wird der Gestus gefahrvoll, aber um Leben und Tod geht es nicht. Am Orchester gefällt, dass es auf einem gut geformten Bass aufbaut. Bei so vielen Aufnahmen fehlt den Orchestern das für den Gesamtklang so wichtige Fundament.
Der zweite Satz klingt träumerisch aber auch freundlich, man meint sogar gegenüber dem ersten Satz ein wenig aufgehellt. Die Oboe gibt ihr Bestes, spielt dynamisch differenziert und genau. Klanglich vermag sie uns nicht zu begeistern. Anders als die Violinen, die zwar noch ziemlich hell klingen, aber schon kantabel und eine gewisse Wärme mitbringen. Die Celli klingen zwar schön und sonor, aber wenn man sich die Wiener mit Maazel oder die Kollegen vom LSO mit Dorati vergegenwärtigt fehlt einfach die entsprechende erhabene Beseelung. Es gelingt ihnen einfach nicht entsprechend aus dem Streicherchor herauszuragen. Die Hörner machen es besser mit ihrem kernigen, dunkel getönten Marcato behaupten sie sich gut gegen die aufbrausenden Streicher. Auch dieses Mal könnte man sich fragen, ob es nur zwei Hörner waren, die einen solch imponierenden Eindruck machen können. Um die Relationen aufzuzeigen: Die Wucht und die Strahlkraft der Wiener Hörner erreichen sie nicht.
Das Scherzo wirkt bei Maestro Muti recht wenig abschattiert. Der langsam intonierte Walzer kann, strömend und schwermütig wie er klingt, das Herz nicht wirklich erleichtern. Von einer vielleicht erhofften Italianità ist keine Spur zu finden. Die wäre vielleicht aber auch fehl am Platz. Die gut klingenden Pauken verschwinden schön mit ihrem ppp im Nichts.
Das Finale beginnt angemessen düster (lugubre). Das folgende Allegro maestoso entwickelt sich flott und temperamentvoll. Die Spannung ist zu greifen, das Orchesterspiel wirkt wenig gedrillt. Die Coda erhält einiges an Brio mit auf den Weg.
Wie die Einspielung Rostropowitschs, die übrigens im gleichen Jahr von EMI produziert wurde, entstand die Aufnahme im Quadro-Sound. Sie klingt nicht gerade präsent und es fehlt ihr wie so oft bei diesem Aufnahmeverfahren, wo es anscheinend vor allem auf einen geweiteten Raum ankommt, an Unmittelbarkeit. Sie schwingt zudem nicht ganz frei aus. Das Orchester wirkt etwas entfernt aber noch nicht diffus. Obwohl ein Hang dazu spürbar ist. Es klingt etwas fülliger als das LSO bei Markewitsch aber viel weniger dynamisch, weniger transparent (Streicherchor!) als die älteren Aufnahmen von Dorati (Mercury) und Maazel (Decca). Es klingt nicht sonderlich brillant aber immerhin unverhallt.
4-5
Vasily Petrenko
Royal Liverpool Philharmonic Orchestra
Onyx
2015
10:35 10:32 7:18 12:14 40:39
Der bei der Aufnahme gerade einmal 39jährige (also ein Jahr älter als Riccardo Muti bei seiner Einspielung) war von 2006-2021 Chefdirigent des Liverpooler Orchesters. Den Kopfsatz lässt er jugendlich, frisch und recht zupackend spielen. Das Orchester hat ein sehr gutes Niveau erreicht, nur die Violinen klingen noch ein wenig (grob)faserig, was vielleicht auch der Klangtechnik anzulasten wäre oder der Tatsache, dass wir die Daten aus dem Netz streamen mussten. Das Holz erklingt sehr homogen und klangvoll. Das Tempo wirkt bei Herrn Petrenko ähnlich schnell als bei Antal Dorati, es gelingt ihm aber nicht das Tempo mit einem ähnlich wirkenden Bedrohungspotential aufzuladen. Da geht eine ganze Ausdrucksdimension verloren, besonders in der Durchführung. Dem ganzen Satz fehlt so das besondere Flair, das ihm die Herren Jurowski, Dorati, Golowanow und Bernstein in so hohem Maß verleihen konnten.
Der zweite Satz gelingt stimmungsvoller als der erste. Das Solo der Oboe erklingt in einem breiten, vollen Ton, dem der feste Kern zu fehlen scheint. Die Celli können ihr Unisono unbedrängt von den Violinen vortragen. Auch die Balance beim Unisono der Hörner wird gut getroffen. Sie wissen zu imponieren, aber ein Gänsehautmoment stellt sich nicht ein.
Das Scherzo wirkt dann zwar energisch aber doch ein wenig mechanisch durchgespielt. Den Walzer lässt Petrenko zügig und elegant für sich selbst sprechen, ohne ihn zusätzlich mit Melancholie zu befrachten. Gegenüber anderen Einspielungen erscheint der Satz ein wenig unbelastet oder auch oberflächlich.
In einem vergleichbaren leichten, flotten Gestus geht es im Finale voran, ohne dass man ihn als vorantreibend bezeichnen könnte. Es wirkt erneut ein wenig oberflächlich, aber eben auch unbeschwert. Im Wesentlichen macht man ausschließlich das, was in der Partitur steht, d.h. spielt klar und direkt, ohne persönliche Zutaten setzt sie das Orchester spielfreudig um. Die Liverpooler Streicher sind voll auf der Höhe und bewahren eine auffallende Klarheit und Präzision auch beim schnellen Passagenwerk. Die Dynamik wird ausgereizt, auch im pp. Die Steigerungen wirken zupackend und eine wirklich „heiße“ Stretta beschließt das Werk effektvoll. Geradlinig und unkompliziert lässt diese Darbietung von allen Einspielungen am wenigsten von Tschaikowskys schwierigem Kompositionsprozess erahnen. Sie wirkt so befreit von seelischem Ballast aber damit auch befreit von dem, was die Musik von Tschaikowsky eigentlich ausmacht. Man könnte auch schreiben: unbekümmert, eher wenig Tiefgang.
Der Klang der Aufnahme ist räumlich, offen und präsent. Die Staffelung des Orchesters ist gut, die Brillanz eher durchschnittlich, der Bass eher unterdurchschnittlich. Die beiden letzten Eigenschaften könnten allerdings auch auf den datenreduzierten Streaming-Prozess zurückzuführen sein.
4
Adrian Leaper
Nationales Polnisches Radio-Sinfonieorchester, Kattowitz
Naxos
1991
11:42 10:09 8:09 12:47 42:47
GA Das Polnische Orchester hat seine GA mit zwei verschiedenen Dirigenten eingespielt. Bei den meisten Sinfonien war der damalige Chefdirigent Antoni Wit mit von der Partie. Es macht einen guten Eindruck, die Streicher klingen homogen, das Holz voll, das Blech (incl. Hörner) sauber. Das Spiel wirkt präzise, durchaus geschliffen und engagiert. Der Zugriff auf die Musik erscheint kraftvoll, die Abenteuerlust auf einem mittleren Niveau und mit der Spannung verhält es sich ebenso.
Der ruhevolle zweite Satz erfreut mit einem überraschend schönen Ton der Oboe, voll und recht flexibel gespielt wird er etwas auf Distanz gehalten, womöglich um eine gewisse Weite des „kargen“ Landes anzudeuten. Die Celli spielen nicht sehr expressiv, sind jedoch trotzdem gut hörbar, da Mr. Leaper richtigerweise die Violinen nur recht leise aufspielen lässt. Den Hörnern wird von den solchermaßen zurückgehaltenen Streichern sozusagen eine große Bühne bereitet. Es kommt bei sehr gutem Zusammenspiel zu einem tollen Höhepunkt. Insgesamt wirkt der Klang in diesem Satz schön und sinnlich, es sei erwähnt, weil man diese Qualität den oft als maue Billigproduktionen abgestempelten Naxos-CD gar nicht zutraut.
Das Scherzo klingt unaufgeregt, wenig scherzando, eher wenig giocoso (was die Einspielung mit vielen anderen gemeinsam hat) mit einem breiten Pinsel gemalt. Das garantiert keinen „Sommernachtstraum“-Flair im russischen Winter, es klingt zwar klangschön, aber doch etwas altbacken-gemütlich. Beim Walzer fehlt dem Zusammenspiel von Violinen I und Celli die nötige Aura. Hier vermisst man wirklich mal die Violinen II. Tschaikowsky wird sich jedoch was dabei gedacht haben, sie wegzulassen, es soll nicht üppig klingen und vielleicht soll man ja auch gerade bemerken, dass hier etwas fehlt zum seligmachenden Glück. Obwohl eigentlich laut genug, fehlt es den vom Holz verantworteten Umspielungen der Walzermelodie an Deutlichkeit. Der dritte erreicht so nicht das im Vergleich dazu hervorragende Niveau des vorherigen Satzes.
Im Finale macht sich besonders im ff die hallige Akustik des großen, leeren Konzertsaales bemerkbar. Das nun auch mit den lautesten Instrumenten voll besetzten Orchester bringt die Akustik an ihre Grenzen. Mit Publikum käme die nötige Dämpfung hinzu. Am Spiel des Orchesters gibt es hingegen wenig auszusetzen. Obwohl man den Eindruck hat, dass sich der britische Dirigent um eine gewisse unaufgeregte Dignität des Satzes bemüht, werden Becken und Gran Cassa nicht geschont. Wir hätten uns bisweilen über ein feurigeres Tempo gefreut, dann hätte man die leichten Durchhänger bei der Spannung vielleicht vermeiden können. So lassen sich die Untiefen des Satzes einfach leichter umschiffen. Mit einem langsamen Tempo das Tiefgründige zu verstärken gelingt selten überzeugend. Die sehr temperamentvolle Coda kommt etwas zu spät.
Der Klang der Aufnahme wirkt räumlich und (sogar im ff noch) transparent. Man erhält einen Höreindruck wie im Konzertsaal auf einem Platz ziemlich weit hinten. Das Orchester wirkt somit etwas distanziert. Der Klang wirkt leicht hallig, im letzten Satz wirkt dies störender als in den Sätzen zuvor. Die Dynamik ist nicht sonderlich knackig, wirkt aber auch nicht verschlafen, die Klangfarben würde man am besten als pastellfarben bezeichnen. Das Klangvolumen wirkt noch recht voll und recht warm, nur die Violinen wirken ganz leicht gepresst, was jedoch genauso gut an der Qualität des Downloads liegen könnte. Der Gesamtklang ist schon viel besser als bei den früheren Naxos-Einspielungen aus den frühen 80er Jahren und kann besonders im zweiten Satz überzeugen.
4
Kurt Masur
Gewandhausorchester Leipzig
Teldec
1989
11:48 11:53 8:07 12:49 44:37
GA Auch bei Kurt Masur kamen die frühen Sinfonien bei der Gesamtaufnahme zuletzt an die Reihe. Der Orchesterklang wirkt warm und recht akzentuiert. Bis auf die noch leicht „digitalesken“ Violinen weiß er durchaus zu gefallen, auch wenn gerade die Violinen bei schnellen Rhythmen die letzte Geschmeidigkeit gegenüber den Besten vermissen lassen, das Holz wirkt klangvoll, das Blech durchaus strahlend. Klanglich hat die Einspielung einiges mit der Amsterdamer Haitink-Aufnahme gemein, sie wirkt jedoch etwas nüchterner und weniger spontan. Es ist eine solide Darstellung des Kopfsatzes, bei der die Dramatik nicht lebensgefährlich geschärft wirkt und das Spiel dann doch etwas schwerfälliger und nicht so nuanciert erscheint als beim LPO (Jurowski), LSO (Dorati), dem COA oder den Wienern (Maazel). Das genügt aber schon, um nicht dieselbe letztlich märchenhafte Stimmung entstehen zu lassen. Die Spannung ist nicht durchgängig auf dem höchsten Niveau.
Die Oboe im Adagio cantabile klingt recht voll, kommt jedoch an die Kantabilität der Berliner Oboe bei Karajan oder das Espressivo der Wiener Oboe bei Maazel nicht heran. Die Violen klingen sehr schön, besser als die Violinen, die wie leicht heiser und aufgeraut (durch den frühdigitalen Klang bedingt) wirken. Die Celli hingegen klingen super und kommen auch sehr gut zur Geltung, da Masur die Violinen im korrekten p spielen lässt und nicht wie Karajan verfrüht zu einem mf antreibt. Die Berliner Celli lösen das Problem auf ihre Weise. Die Hörner klingen voll, relativ dunkel strahlend und auch durchdringend und sie halten sich die intensiv aufspielenden Streicher gerade noch so „vom Leib“.
Das Scherzo wirkt etwas grob und es mangelt ihm an dynamischer Nuancierung. Alles erscheint hier gleich laut. Bei einer kontrastreicheren Dynamik würde es sogleich leichter, graziler klingen. Dem Walzer fehlt der elegante Schwung, der diesen Tanz für gewöhnlich auszeichnet. Masur möchte vielleicht eigens auf seine russische Provenienz hinweisen, er wirkt jedenfalls ziemlich nüchtern. Trotz reicher Nebenstimmen geht ihm (absichtlich?) die Emphase ab.
Details fallen auch im Finale etwas ab. Der Holzbläsersatz wirkt nicht immer ausgewogen, ein p bei der Flöte nicht noch lange nicht gleich laut wie ein p beim Fagott oder der Klarinette. Das Spiel der Violinen nicht immer hinreichend espressivo (z.B. T. 17 ff). Das Blech klingt nun tatsächlich ein wenig „russisch“. Es mangelt dem Satz nicht an Temperament, der Gesamtklang kann jedoch eine gewisse Lästigkeit nicht ganz vermeiden, was auf den exzessiven Gebrauch des Beckens bei aufnahmetechnischer Dominanz zurückzuführen ist. Dies ist vielleicht doch eher dem Komponisten als dem Dirigenten anzulasten, jedoch fanden andere mit einem schlankeren Klang einen schlüssigeren Weg.
Der Klang der Aufnahme wirkt offen, transparent, großformatig, ortungsscharf, voll und farbig. Die Violinen klingen manchmal rau und gepresst und es scheint wenig Augenmerk auf den Bassbereich gelegt worden zu sein.
4
Neville Marriner
Academy of Saint Martin in the Fields
Capriccio
1990
10:16 10:27 7:46 12:33 41:02
GA Die Academy stellt sich hier als ausgewachsenes Sinfonieorchester vor, denn dass man die „Winterträume“ in Kammerorchester-Besetzung spielen würde, kann man der Einspielung nicht entnehmen. Sie spielt klangschön und sehr präzise, die Violinen klingen ganz ausgezeichnet (Homogenität!) und die Soli der Bläser sind klangschön ausformuliert. Im Tempo nähert sich Marriner bis auf (vernachlässigbaren zwei Sekunden) dem Tempo von Antal Dorati an. Das wirkt dann auch sehr schnell, aber nicht mit derselben Intensität und dem speziellen Biss, den Dorati aus dem LSO herauszuholen in der Lage ist. Die Fahrt ist rasant und auch gefährlich, aber das Fahrwerk des Schlittens ist so stabil, dass es nie um Leben und Tod geht. Man fühlt sich immer also immer sicher und verlässt nie die gesicherten Lebensumstände. Nicht dass die Steigerungen etüdenhaft wirken würden, der Abstand zu Dorati bleibt jedoch immens. Es fehlt bei Sir Neville auch nicht an echter Energie, sie wird jedoch eher in die haarfeine Ausführung der Partitur bis in die kleinsten Nebenstimmen und wird nicht in den Kampf um die bloße Existenz investiert. Es erscheinen keine Gestalten aus Albträumen und Todesvisionen, wie sie Tschaikowsky bei der Komposition heimgesucht haben sollen. Wie oft bei Neville Marriner, viel zu sehr Brite, versucht er ohne Theatralik auszukommen. In diesem speziellen Fall fehlt so ein Teil der Emotionalität.
Der langsame Satz wird geradlinig gespielt, erscheint aber klanglich wunderbar schwebend. Das Bläsertrio aus Oboe, Flöte und Fagott erweist sich als fast gleichberechtigt, nur ein klein wenig führt die Oboe mit der wunderbar melancholischen Melodie. Vielleicht liegt es daran, dass alle drei gleichermaßen distanziert in den hinteren Raum versetzt werden? Die Innenbalance des Orchesters muss man als überragend bezeichnen, denn keine Gruppe oder Solo hat hier das Nachsehen und die Soli kommen feinst abgeschmeckt zur Geltung. Die autoritäre Hornsektion liegt wunderbar über einem stark aufgetriebenen Streicherteppich.
Das Scherzo besticht durch die weiche, fast zart zu nennende Spielkultur des Orchesters und den nun ganz besonders schwebenden Klang. Das Trio, in diesem Fall ist es ja als Walzer komponiert, überzeugt allein schon durch die erreichte Klangschönheit. Die Violinen I und die Celli mischen sich nur ganz selten so schön wie zu einer einzigen Gruppe wie bei der Academy. Selten hört man den Walzer zudem so klar, sinnlich und verführerisch. Hinzu kommen dann noch die selten einmal so klar hörbaren, gekonnt dargebrachten Umspielungen des Holzes. Das klingt einfach charmant und wirkt so, als dürfe man einmal kurz richtig glücklich sein. Butterweiches Paukensolo, das die volle Dynamik von f bis zum entschwindenden ppp ungeschmälert zeigen darf. Perfekt!
Die Einleitung zu Finale wirkt dann eher verträumt als düster. Die Tempi wirken im Folgenden gut gewählt aber leider wirkt der Klang wie ansatzweise schon im ersten Satz durch störenden Hall und durch die Distanzierung des Orchesters nicht so konturiert, wie es das Orchester verdient hätte. Auch jetzt fehlt so der rechte Biss. Die Attacke verflüchtigt sich sozusagen im Raum. Solchermaßen eingeschränkt kann Sir Neville kaum die Spannung über den gesamten Satz aufrechthalten. Diese Einspielung bietet zwei exzellent gelungene Mittelsätze während die beiden Außensätze ihnen gegenüber merklich abfallen.
Das Klangbild der Einspielung wirkt etwas distanziert. Das weich und recht dynamisch aufgenommene Orchester erhält dennoch eine gute Transparenz und eine ordentliche Staffelung. Der Klang wirkt hallig und es fehlt vor allem der rechte Biss des Bleches im ff, besonders in den Außensätzen. Der Streicherklang verfügt über eine verführerische Süße, wird jedoch evtl. von der Technik geschönt. Schade, mit einer wagemutigeren Präsenz der Aufnahmetechnik hätte diese Einspielung möglicherweise höher platziert werden können. Das hervorragende Orchester hätte viel mehr Präsenz zugelassen, ja geradezu danach verlangt.
4
Maurice Abravanel
Utah Symphony Orchestra
Vox, Vanguard
1973
11:58 10:21 6:58 11:38 40:55
GA Diese Einspielung gibt der Sinfonie ein ungeschminktes Antlitz, das leider wenig vorteilhaft wirkt, weil das Orchester wenig sonor, wenig homogen und wenig geschmeidig spielt. Die Violinen spielen schon zu Beginn seltsam eckig, sodass man kaum auf die Idee käme, die flirrenden Figuren könnten umherfliegende Schneeflocken darstellen. Das Spiel gegenüber den Chicagoern unter Abbado wirkt rhythmisch betonter, aber auch weniger elegant und erheblich robuster. Andererseits wirkt die Musizierhaltung bei Abravanel hellwach währen sie bei Abbado verschlafen (um nicht zu schreiben lustlos) wirkt. Bei Abravanel klingt es rauer und das Holz erscheint uns manches Mal in der Intonation gefährdet. Die Kulminationspunkte in der Durchführung wirken etwas zaghaft und das Blech könnte durchaus mit mehr Glanz und Durchschlagskraft agieren.
Der langsame Satz erhält ein recht flottes Tempo, da kommt nichts „Schnulziges“ auf. Der Stimmensatz wirkt sehr transparent, auch bei den Streichern, viel klarer als bei Abbado. Der Klang des Orchesters allerdings nicht, obwohl es hörbar engagierter zur Sache geht. Das Unisono der Celli, meist zum dahinschmelzen, gelingt nicht so recht, denn die Celli erreichen mit ihrem mf gerade einmal die Lautstärke der Violinen bei deren pp! Das wirkt wirklich schlecht ausbalanciert. Andererseits achtet der Dirigent sehr gewissenhaft auf die Nebenstimmen und bringt sie groß heraus. Die Hörner spielen zwar laut, werden aber trotzdem von den Streichern übertönt. Wie schade!
Das Spiel im Scherzo wirkt wenig duftig und für ein giocoso viel zu erdenschwer, sogar schwerfällig. Beim Walzer hört man von den Celli, die die Violinen I unisono zu unterstützen hätten, sehr wenig und auch die Homogenität lässt zu wünschen übrig. Heutzutage wäre die Spielfähigkeit des Orchesters kaum noch als plattenreif zu bezeichnen. Bei den späten Tschaikowsky-Sinfonien war man, wenn wir uns richtig erinnern klangschöner unterwegs, mit Francesca da Rimini eckte man jedoch ebenfalls schon bei uns an. Der Orchesterklang krankt zuallererst an den Violinen, die sehr harsch und inhomogen wirken. Hat man da nicht genug geübt und geprobt?
Der Beginn des Finales klingt nicht dunkel und sonor genug um die gewünschte Stimmung (lugubre) zu erzeugen. Sehr aufmerksam scheint das Fagott gewesen zu sein, denn selten kann man seine Stimme einmal so leicht und ziemlich durchgängig verfolgen. Und es hat sehr viel zu tun in dieser Sinfonie. Überhaupt gefällt das Holz noch besser als die Violinen. Die Tempi sind zumeist schwungvoll, gar angetrieben. Sehr beachtlich die Stringendi. Und auch längere Steigerungen werden beherzt (beherzter als bei Abbado) durchgezogen. Die Hörner sind ebenfalls viel besser hörbar, besser als bei Abbado und besser als im zweiten Satz. Das Allegro vivo erklingt mit Volldampf, der Hymnus wirkt durch ein flottes Tempo seiner Gravität beraubt. Die Einspielung wirkt bei allen kleinen Mängeln doch insgesamt recht urwüchsig, was entschieden vom rauen Ton des Orchesters begünstigt wirkt.
Der Klang der Aufnahme wirkt körperhafter als der bei Abbado (Sony). Die Ortbarkeit einzelner Instrumente und Orchestergruppen ist sehr gut, auch innerhalb des Streicherchores. Die Dynamik ist eher schwach, die Transparenz aber sehr gut. Die Basslinie wirkt allzu leicht, was dem Orchester das stattliche Fundament raubt, insofern es überhaupt vorhanden war. Die Aufnahmetechnik verleiht der Darbietung jedoch eine gute Lebendigkeit. Es wurde kürzlich eine neue Ausgabe unter dem Namen „Audiophile Edition“ herausgebracht. Das hört sich vielversprechend an und im Falle des 2. Klavierkonzertes Chopins hat sich der Name auch tatsächlich als Klang manifestiert. Ob sich das Etikett im Fall Tschaikowsky ebenfalls bewahrheitet können wir nicht bestätigen, denn wir mussten noch mit einer älteren Ausgabe vorliebnehmen.
4
Neeme Järvi
Göteborger Sinfonieorchester
BIS
2003
11:25 10:00 7:28 10:41 39:34
GA Die Darbietung aus Schweden enttäuscht im Kopfsatz. Das eigentlich gute Orchester, das man zeitweise zu den Besten Europas zählte, bietet nur sauberes, gut kontrolliertes Spiel bei dem die zahlreichen Abfolgen von Wiederholungen nur in maschinenhaft-perfekter Abfolge erklingen, da wird nicht gesteigert oder variiert, sodass der Musik das Lebendige größtenteils abhandenkommt. Tempo und Dynamik müsste da subtil aufeinander abgestimmt werden bis es dann zu den herrlichen Entladungen kommt, wie wir sie in den besten Einspielungen des Werkes hören können. Da fragt man sich, ob der Dirigent überhaupt ein Interesse an der Sinfonie hat, das über die vertragsgemäße Komplettierung des Sinfonien-Zyklus hinausgeht. Es klingt sehr eintönig. Der Klang es Orchesters ist sehr gut, es fehlt ihm jedoch jedes Feuer und Spannung. Man erlebt einen Tagtraum, der bereits in der nächsten Stunde vergessen sein wird. Keine weiteren Vorkommnisse während der Schlittenfahrt.
Die Einspielung bessert sich etwas im langsamen Satz. Der warme und weiche Oboen-Ton nach Berliner Vorbild, wie man ihn mittlerweile oft von skandinavischen Orchestern hören kann, wird durch ein deutliches aber noch angenehmes, nicht übertriebenes Vibrato belebt. Es kommt nicht oft vor, dass die umspielende Flöte sich so vorbildlich zurückhält, während das Fagott zu einem echten Partner der Oboe wird. Die Celli spielen ihr Unisono mit einem vollen, sonoren, singenden Ton, auch die Violinen überzeugen mit ihrem erdigen Sound. Was jedoch ebenfalls auffällt ist der im Ganzen seltsam lasche Gestus. So spielen die Hörner ihr ff viel zu schwach, gerade wenn man das pp der Flöte dagegen hört. Das darf doch nicht gleichlaut sein! Zudem hört sich ihr Marcato eher nach einem Legato an. Zu ihrer Entschuldigung sei erwähnt, dass der BIS-Raumklang sie wieder ganz weit nach hinten im Orchesterhalbrund platziert hat. Räumliche Weite ist ja ganz schön und gut, gerade wenn es um die Beschreibung von „kahlem“ Land geht, die Relationen sollte man jedoch dabei nicht aus den Augen verlieren.
Das ziemlich laute Scherzo erklingt in einem zügigen Tempo, dem der Zauber des Details ein wenig abgeht und dessen Rhythmus etwas schärfer gezeichnet sein könnte. Beim Walzer haben sich die Celli gegenüber den Violinen I einen großen Anteil am Gesamtklang gesichert. Das überrascht, denn sonst dominieren meist die Violinen. So klingt der Walzer recht schwer und weniger „drehfreudig“. Sehr angenehmer, voller Orchesterklang, wohlige Pauken. Da fehlt ein wenig der Pepp!
Im Finale tauen Dirigent und infolge davon auch das Orchester richtig auf. Das Allegro maestoso erklingt nun sehr zielstrebig. Dies ist der gelungenste Satz der Einspielung, wenngleich Neeme immer noch weit von Doratis Hochspannung und dem Flair und der Akkuratesse des Sohnes Paavo entfernt bleibt.
Der Klang der Aufnahme wirkt warm, offen und natürlich. Für BIS-Verhältnisse noch recht präsent erscheint die Raumtiefe übertrieben, denn die Hörner erklingen fast als Nebelhörner von weitem. In der Breite und auch in der Tiefe wirkt der Klang gut differenziert. Während die Pauke sehr schlank klingt, darf man der Gran Cassa „Vollfettstufe“ attestieren. Die Dynamik ist gut aber nicht herausragend.
4
Dmitri Kitajenko
Gürzenich Orchester Köln
Oehms
2009, live
12:07 11:16 8:14 12:36 44:13
GA Die Darstellung des Kölner Orchesters mit seinem russischen Dirigenten weist (nicht nur) im Kopfsatz relativ langsame, konstante Tempi auf, die der Musik das Atmen erlauben ohne bereits träge zu wirken. Den Metronom-Angaben der Partitur kommen sie ziemlich nahe. Immer wieder wird die Musik belebt, aber abenteuerlustig oder gar im Verlauf der Fahrt gefahrvolle Grade erreichend, das gelingt nicht.
Im zweiten Satz scheint sich das Orchester erst so richtig warm gespielt zu haben. Jetzt traut man sich auch richtig p und pp zu intonieren. Die Oboe verfügt über einen vollen, weichen und runden Ton und ist in der Lage ein einfühlsam wirkendes Vibrato einzusetzen. Zweifellos gehört es zu den besten unserer Aufstellung. Bei aller Melancholie strahlt die Einspielung nun viel Wärme aus, die Celli strahlen sie ebenfalls aus und wie sanft sie von den anderen Streichern umspielt werden! Dieser Darbietung des zweiten Satzes geht alles Plakative ab. Auch die Hörner, die in dem im Ganzen abgedämpft wirkenden Orchester nun ein doch wenig matt und wattiert klingen. Das passt noch gut ins Bild, allerdings können sie den aufgewühlten Streichern gerade mal so Paroli bieten.
Den strömenden Charakter verliert die Darbietung auch im Scherzo nicht ganz. Er wirkt eher innig als giocoso oder gar locker-leicht-verspielt. An einen Sommernachtstraum denkt man eher nicht. Eher an ein gemütliches Beisammensein oder einen betulichen nächtlichen Spuk. Dennoch fühlt man sich in die Welt des Balletts versetzt. Der Walzer wird schön ausgespielt, weder gehetzt noch lahm vorgetragen.
Im Finale bremst Herr Kitajenko doch zu sehr. Es wäre doch mehr Schwung nötig, um die Musik über die Lücken und Nahtstellen zu führen. Er lässt aber breit spielen und baut dabei wenig Spannung auf. Das ändert sich erst beim Alla breve des Allegro maestoso. Der Dirigent legt großen Wert auf Kantabilität um dann alsbald wieder in tiefe Langsamkeit zurückzufallen. Der Spannung tut das nicht gut. Der Hymnus wirkt mächtig und ausladend, weniger freudig. Immerhin legt Herr Kitajenko die Coda als Stretta aus und dabei werden alle lärmenden Register gezogen. Eine Einspielung, die nicht in allen Teilen gelungen erscheint. Der Höhepunkt des Kitajenko-Zyklus ist sie jedenfalls nicht.
Der Klang der Einspielung ist voll und weich, räumlich, transparent und gut ausbalanciert. Es gibt eine gute Staffelung in die Tiefe und auch in die Breite hinein ist das Orchester gut aufgefächert. Tiefe, kräftige Gran Cassa.
4
Mikhail Pletnev
Russian National Orchestra
DG
1995
13:27 11:52 8:25 13:31 47:15
GA Herr Pletnev gewann 1978 mit 21 Jahren den Moskauer Tschaikowsky-Klavierwettbewerb. Nach Ergreifen des Dirigentenberufs als zweites Standbein gründete er 1990 (nach der Perestrojka, der Demokratisierung der UdSSR, die auch den Zerfall mit sich brachte) das RNO, das ohne finanzielle Hilfe der wirtschaftlich stark angeschlagenen Russischen Föderation, so nannte sich Russland zu dieser Zeit, auskommen musste. Die erste Einspielung der „Winterträume“ mit Mikhail Pletnev und dem nur fümf Jahre zuvor gegründeten Orchester entstand 1995 in der großen Halle des Moskauer Konservatoriums. Das Orchester war zu dieser Zeit bereits erstklassig (und zwar auf allen Positionen), was angesichts der Umstände verblüffen musste. Als einer der ganz wenigen Dirigenten spielte er den gesamten Zyklus der nummerierten Sinfonien zwei Mal ein incl. der unbeliebteren frühen Drei.
Die Tempi sind eher noch moderater als bei der zweiten Einspielung für Pentatone. Und auch die Eigenwilligkeiten bei der Tempogestaltung fallen noch stärker ins Auge. Pletnevs Herangehensweise an die Musik wirkt oft kühl. Hier durchbricht es diese ebenfalls vorhandene Anmutung bisweilen durch eine starke dynamische Abschattierung und die durchweg langsamen Tempi verbindet er mit feurig-angetriebenen Abschnitten. Das Orchester spielt absolut homogen und mit Hingabe. Den kühlen Charakter können wir bei einer winterlichen Fahrt in einem frostig temperierten Schlitten nicht wirklich als Negativum bewerten. Warm ums Herz wird es den Zuhörenden allerdings nicht. Durch das sehr moderate Tempo wirkt nichts überstürzt und die Fahrt erfolgt im Großen und Ganzen ohne besondere Gefahrenmomente. Das Zuhören wird nie langweilig, gemütlich bisweilen aber schon. Pletnev gibt sich gewiss nicht als Heißsporn.
Der zweite Satz erklingt stimmungsvoll und ebenfalls sehr zurückhaltend im Tempo und sparsam in der Entfaltung von Wärme. Das karge Land bezieht sich ebenso auf das Klima oder besser das vorhandene Wetter (das eher die seelische Befindlichkeit des Komponisten meint). Das nur noch leicht „russisch timbrierte“ Oboen-Solo gefällt sogar noch etwas besser als bei Swetlanow (1967 und sogar 1993). Die Celli spielen vorzüglich, wie in fast allen Einspielungen geben sie ihr Bestes, sie werden aber auch schön von den übrigen Streichern abgesetzt. Die letzte expressive Steigerung enthält uns Pletnev jedoch vor. Die Hörner klingen weich und rund, kaum mit einem ausgeprägten Marcato und zurückhaltend in ihrem Engagement. Im ff entfalten sie dann doch gutes Espressivo und hohe Strahlkraft.
Das Scherzo wirkt etwas distanziert und entfaltet keinen Zauber. Der Walzer wird ohne besondere Finessen gegeben. Am besten gefallen hier die umspielenden Hörner, die die Eleganz durch ihre wie schwerlos wirkenden Einwürfe erheblich fördern. Die Violinen I und die Celli ergeben keinen besonders warmen, vollen Klang der Walzermelodie.
Auch im Finale betätigt sich der Dirigent nicht als der temperamentvolle Antreiber. Wegen des betulichen Grundtempos wirken die eigentlich gut getimten Beschleunigungen und die stimmigen Temporelationen weniger mitreißend. Die Partitur wird nun jedoch genau umgesetzt. Man bemerkt einen weit ausholenden Anlauf bis die Stringendi überhaupt wirksam werden. Der Hymnus bleibt breit, die Gran Cassa klingt tief und „fett“, die Becken beherzt. Piu animato ohne Sogwirkung. Vom Orchester aus gesehen wäre hier viel mehr drin gewesen.
Der Klang der Aufnahme ist sehr plastisch, das Holz wunderbar präsent. Der Gesamtklang wirkt viel besser als bei Gergiev und dem LSO, will heißen: fülliger, brillanter, sonorer, dynamischer und transparenter. Der klare Bass steht ebenfalls auf der Habenseite.
4
Semyon Bychkov
Tschechische Philharmonie, Prag
Decca
2017, 2018 oder 2019, das wird nicht genauer angegeben
14:47 11:32 8:31 11:49 46:39
GA Mit der vorherigen Einspielung hat diese die langsamen Tempi gemeinsam. Semyon Bychkov gestattet sich jedoch weniger Eigenwilligkeiten und die Tschechische Philharmonie verströmt erheblich mehr Wärme. Der reichhaltige, dunkel gefärbte und tiefgründige Klang des Orchesters ist die eigentliche Attraktion dieser Einspielung. Es gesellen sich noch die glanzvollen, nie auch nur ansatzweise lästig klingenden Violinen hinzu, das edle Holz und das mild strahlende Blech. Das Spiel wirkt kantabel über den gesamten Dynamikbereich hinweg. Das Tempo wirkt gesetzt, leicht eingebremst, die Phrasierung sehr bewusst gestaltet, was die Musik am zügig-leichten Fortschreiten behindert. Eine leichtere, flottere Gangart passt nach unserem Dafürhalten besser zum Kopfsatz. Herr Bychkov befindet sich bereits an der Schwelle zur Schwerfälligkeit. Was für ein Kontrast zu den Darstellungen von Dorati oder Jurowski.
Im Adagio cantabile ma non tanto passt das gewählte Tempo besser zum Satzcharakter als im Kopfsatz. Sehr schön wird hier die Dynamik abschattiert, gerade auch zwischen p und pp. Die Oboe zeigt einen sehr schönen, vollen, weichen und recht warmen Klang mit reichlich Vibrato, das jedoch geschmackvoll erscheint. Ein anderer Oboen-Klang würde kaum zum restlichen Orchester passen. Sehr gut abgestimmt auch die Einlassungen der Flöte. Zart und wunderbar leise (nie auch nur ansatzweise glasig) die Violinen. Die Celli können klangvoll singen und werden butterweich von den Violinen I und II umspielt, minutiös angepasst in der Lautstärke. Die guten Hörner lösen sich nicht aus dem Gesamtklang, bestechend die detailreiche Dynamik, gerade im leisen Bereich. Orchestral und dirigentisch erscheint der langsame Satz ausgesprochen gelungen. Aber eigentlich klingt er für das raue, neblige Land viel zu gut und schön. In jedem Fall ist er eine gute Wahl für Klang-Kulinariker/innen.
Die Töne im Scherzo wirken graziler, er fehlt jedoch ein wenig am giocoso. Kantabler kann man den Walzer kaum spielen. Bei aller klanglichen Wärme, die die Tschechen hier investieren ist es jedoch immer noch kein Frühlingswalzer, das Eis ist noch nicht ganz aus den Gliedern geschüttelt. Dazu wäre beim 3/8 Takt doch noch etwas mehr Schwung nötig gewesen. Wir sind ja nicht bei Johann Strauß, sodass letztlich doch alles seine Richtigkeit hat.
Schwermütiger Beginn im Finalsatz. Das war bei Dorati ebenfalls so und er erscheint uns gut getroffen. Aber anders als beim Ungarn hat man bei Bychkov das Gefühl, dass er selbst in den Klang seines Orchesters verliebt sein könnte und dass er deshalb nicht genug davon bekommen kann. So lässt er sich am besten erklären, dass der Satz möglichst in die Länge gezogen wird. Von russischer Folklore ist außer den Synkopen wenig übriggeblieben. Das Allegro maestoso klingt viel mehr nach maestoso als nach Allegro. Die Fugati klingen überdeutlich. Herr Bychkov scheint das Odeur des Oberflächlichen restlos tilgen zu wollen. Das gelingt ihm mit seinem fantastisch klingenden Orchester auch soweit möglich, aber von einem mitreißenden Miterleben wie bei Dorati, Jurowski, Bernstein, Maazel oder sogar Haitink ist man bei Bychkov weit entfernt. Zwischenzeitig kommt Langatmigkeit auf (z.B. die lange Passage vor dem Stringendo ab T. 410). Auch das piu animato erscheint wenig temperamentvoll. Tolles Orchester und sehr guter Klang sind die Aktiva dieser Darstellung, ein wenig jugendlicher Gestus und ein phasenweise „langstieliges“, spannungsarmes Dirigat gehören zu den Passiva.
Der Klang der Aufnahme ist sehr klar, voll, rund und warm. Er ist detailreich, farbig und lässt eine gute Perspektive über das Halbrund des Orchesters zu. Die Basswiedergabe ist in Ordnung. Ein gewisser Nachhall macht sich nur an den Phrasenenden bemerkbar, wenn ihnen eine Pause folgt. Es klingt sehr differenziert und wohllautend.
4
Zubin Mehta
Los Angeles Philharmonic Orchestra
Decca
1977
10:44 9:38 6:32 11:20 38:14
GA Zubin Mehta war von 1962-1978 Musikdirektor in Los Angeles. Dass er bei der Aufnahme noch ein relativ junger Mann war (41) merkt man der Einspielung durchaus an. Schon das Allegro tranquillo erklingt mit rastlosem Gestus. Die Steigerungsverläufe wirken jugendlich, spritzig und meist gut zugespitzt. Die Durchführung wirkt zupackend, fast forsch. Das Orchester präsentiert sich recht schmiegsam und präzise mit einem für ein amerikanisches Orchester recht warmem Gesamtklang, besonders bei den Streichern.
Im zweiten Satz klingt die Oboe recht tonschön aber starr in der Phrasierung, wenig flexibel im Espressivo und etwas fest im Vibrato. Violinen und Celli überzeugen da im Anschluss doch mehr. Sehr gelungen die Gewichtung von Celli und den umspielenden Violinen. Kaum erscheint diese Passage so gut „abgeschmeckt“. Das Holz fällt im Ausdruck deutlich ab. Die Hörner erreichen lange nicht die außergewöhnliche Autorität und das ausdrucksvolle Espressivo, wie man beides vom LSO, den Wienern, Berlinern und den Amsterdamern noch sehr gut im Ohr hat.
Das Scherzo wird nicht sonderlich scharf konturiert. Es wirkt bei den Streichern etwas bemüht, wie man an der leichten Rauigkeit leicht bemerken kann, die sich hier einschleicht. Dass da etwas elfenhaft irrlichtern oder glitzern könnte, auf die Idee kommt man nicht. Auch auf die russische Variante mit den Gnomen nicht. Auf die Wiederholung des Scherzos vor dem Walzer-Trio verzichtet Mehta, was die kurze Spieldauer des Satzes erklären kann. Dem Walzer selbst fehlt größtenteils die Leuchtkraft, die hier von Violinen I und den Celli ausgehen müsste, wenn man die Besten zum Vergleich heranzieht. Die Violinen hat man vom ersten und zweiten Satz noch voller und runder im Ohr. Die ersten können ohne die zweiten gar nicht so gut. Was ist denn da passiert? Die Pauke klingt hingegen schön körperhaft.
Im Finalsatz sind die Tempi zügig. Dennoch wirkt er nicht sonderlich spannend, man vermisst den großen, straff gespannten Bogen. Das Blech wirkt generell sehr zurückhaltend, es fehlt an den entscheidenden Stellen vor allem an Durchsetzungsvermögen und Glanz. Bei der Coda gefällt das straffe Schlagwerk. Eine Stretta gibt es bei Herrn Mehta nicht. Er und sein Orchester nehmen die Erste zwar nicht auf die leichte Schulter, eine Herzensangelegenheit scheint diese Einspielung aber ebenfalls nicht gewesen zu sein.
Der Klang der Aufnahme zeigt gute aber keine überragende Decca-Qualität. Er ist recht transparent, rund, voll, farbig und weich. Gut gefällt die Präsenz des Holzes, beim Blech kann man sich selbige dieses Mal nur wünschen. Die Luftigkeit, Präsenz über das gesamte Orchester und die Offenheit, die die Decca 13 Jahre zuvor in Wien präsentieren konnte, erreicht man ebenfalls nicht.
3-4
Claudio Abbado
Chicago Symphony Orchestra
Sony
1991
11:43 11:49 7:27 12:31 43:30
GA Bei Claudio Abbado und dem CSO beginnt die Sinfonie mit einem atmosphärisch wirkenden Schneefall. Das Orchesterspiel wirkt größtenteils schlank und elegant, die Gruppen spielen homogen, die Solisten wirken aufmerksam, die Streicher gewandt, das Blech einigermaßen strahlend. Das Spannungspotenzial in der Durchführung bleibt jedoch gering, das Spiel fällt mit zunehmender Dauer durch einen allzu vorsichtigen, arg zurückhaltenden Gestus auf, der bisweilen einen flüchtigen Eindruck macht, das Blech ist nur schwach exponiert. Uns schien es so, als ob man das Traumverhangene ein wenig zu wörtlich genommen hat und man versucht hat, der Musik etwas unkonkretes, wenig fassbares mitzugeben oder aber, dass das Orchester noch nicht so recht wach war.
Zu Beginn des zweiten Satzes überzeugt die Äquilibristik zwischen den Violinen und den tiefen Streichern, sodass der Klang recht warm erscheint. Die Oboe wird sehr wenig herausgestellt, spielt zudem wenig expressiv, fast langweilig. Die umspielende Flöte kann nur wenig zur Auflockerung beitragen, sie wirkt wenig brillant und wie die Oboe entfernt. Die Violen, die plötzlich in Dur spielen wirken viel homogener als die nachfolgenden Violinen, denn sie sind sich im Vibrato uneins. Die Celli spielen auffallend sanft. Wenn man dagegen hört, wie sehr sich andere Orchester da reinhängen kommt einem der Verdacht, dass das CSO immer noch nicht so recht hellwach ist. Dem Spiel der Hörner ist weniger ein Marcato als ein Legato eigen, auch sie treten kaum hervor. Der grandiose Höhepunkt wirkt fast verschenkt. Der Satz wird zwar nicht sentimentalisiert, es wird jedoch wenig Gefühl investiert. Es wirkt zwar professionell, könnte aber viel empathischer klingen.
Dem Scherzo geht das Geheimnisvolle genauso ab wie ein leichter, Mendelssohn ähnlicher Klang. Der Walzer wirkt elegant und feinfühliger aber beileibe nicht schwerelos oder gar leidenschaftlich. Im Gegenteil, es klingt auffallend lasch. Ohne Brillanz und ohne Tempo, wenig scherzando, kaum giocoso. Das Orchester lässt sich offenkundig dieses Mal von Herrn Abbado nicht herausfordern.
In ähnlichem Stil geht es im Finalsatz weiter. Ohne Herz scheint man sich des heiklen Satzes angenommen zu haben. Ab T. 370 vermeint man die Hörner zu vermissen, sie sollen zwar nur pp spielen, aber die ebenfalls pp spielenden Streicher decken sie beim Hymnus zu. Nach dem Hymnus sind die Trompeten dann endlich richtig zur Stelle und auch etwas Temperament stellt sich ein. Das Orchester löst sich ein wenig aus seiner gelangweilt wirkenden Grundhaltung. Statt emotionalem Hochgefühl reicht es aber insgesamt nur gerade mal zu aufgetautem Eis. Abbado scheint die klassizistischen Züge der Sinfonie in den Vordergrund stellen zu wollen, der Russe, der Folklorist und der Romantiker Tschaikowsky kommt dabei zu kurz. Ein beherzterer Zugang wäre bereits vor der Coda dringend erforderlich gewesen.
Der Klang präsentiert das Orchester zwar recht luftig aber doch weit entfernt. Der Gesamtklang wirkt etwas verhangen, als ob sich Nebel in die Orchestra Hall verirrt hätte. Das Holz ist gut ortbar, der Orchesterklang wenig prall und wenig voll. Dafür recht warm für eine frühe Digitalaufnahme und weich und sanft. Die Dynamik wirkt ziemlich stark eingeebnet. Insgesamt wirkt der Klang eher klinisch-sauber als lebhaft. Er kann der Interpretation keine zusätzliche Inspiration verleihen.
3-4
Wladimir Fedossejew
Tschaikowsky Symphony Orchestra des Moskauer Rundfunks (seit 1993 mit diesem Namen, in der Vergangenheit mehrmals umbenannt)
Relief
1999
12:55 11:02 7:48 11:27 43:12
GA Wie Mikhail Pletnev konnte auch Herr Fedossejew die sechs nummerierten Sinfonien Tschaikowskys zwei Mal komplett einspielen. Beide Zyklen kranken an einer unvollkommenen Klangtechnik. Musikalisch wäre die ältere Einspielung für Melodija der neueren für Relief vorzuziehen, klangtechnisch verhält es sich jedoch umgekehrt. Wladimir ist der Nachfolger von Gennadi Roshestwenski beim damaligen Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR und ist seit 1974 im Amt. Er soll auch heute noch Chef des Orchesters sein, kaum zu glauben bei einem biblischen Alter von derzeit 92 Jahren.
Gegenüber der älteren Einspielung von 1984 ist die damalige Aufbruchstimmung ganz verschwunden. Der Gestus im ersten Satz geht schon fast in die Richtung des allzu routinierten, trägen. Jedenfalls alles ist er alles andere als aufregend oder quirlig. Eher bleiern und schleppend. Wo ist der jugendlich-kraftvolle Gestus von 1984 hin? Vor uns liegt doch das Werk eines 26jährigen, nicht eines 86jährigen. Vielleicht will der Dirigent auch nur die schwierige Situation des Komponisten betonen, in der er zur Zeit der Komposition gesteckt hat. Der Klang wirkt jedoch erheblich homogener, weicher und voller als in der ersten Einspielung.
Der zweite Satz erscheint gelungener. Es klingt stimmungsvoll, des Gestus geht ins ruhevoll-meditative. Die solistischen Darbietungen klingen verbessert und erheblich klarer. Der Klang erheblich kultivierter und sinnlicher als 1984. Bei un pochissimo piu mosso (ein klein wenig bewegter) wird Wladimir deutlich schneller und er erreicht nun ein richtig zügiges Tempo. Die Unisoni von Bratschen und Celli sind von der Balance her gelungener als zuvor. Die Hörner klingen ebenfalls kultivierter und besser mit dem übrigen Orchester ausbalanciert, sodass sie mühelos ihr ganze Unisono hindurch gut hörbar bleiben. Die Flöten danach betonen ihr Marcato derart frech, wie wir es noch nie gehört haben.
Beim Scherzo spielt das Holz nun kultivierter und klangschöner, es gefällt so deutlich besser als 84. Das ganze Orchester klingt wärmer, ohne das Eis ganz schmelzen zu können. Im Walzer sind die Nebenstimmen erheblich deutlicher zu vernehmen. Der Mischklang dominiert jedoch immer noch. Die körperhaft aufgenommene Pauke sticht dermaßen plastisch und deutlich aus dem orchestralen Umfeld heraus, als sei sie ein Fremdkörper. Nur mit dem Decrescendo bis zu ppp will es nicht so recht klappen.
Erst ab Allegro moderato (T. 27) kommt Leben in die Einspielung und man hört jetzt endlich mal die eigentlich guten Trompeten. Die Coda wirkt im Klang ein wenig „dicklich“.
Der Klang ist nun weicher, ausgewogener und etwas präsenter als bei der Melodija-Einspielung von 1984. Wenn das Orchester ff spielt, geht die Klarheit auch 1999 noch verloren, gerade beim Holz, wenn auch nicht mehr so deutlich. Immerhin ist der Klang frei von digitalen Verfärbungen. Er wirkt jedoch immer noch sehr wenig brillant und sonderlich dynamisch wirkt er ebenfalls nicht.
3-4
Waleri Gergijew (auch: Valery Gergiev)
London Symphony Orchestra
LSO Live
2012
12:03 11:59 7:12 12:05 43:21
Überraschend ist es schon, dass Waleri Gergijew weniger Schwung in den Kopfsatz hineinbringt als der 74jährige Swetlanow. Er nutzt große Temposchwankungen, die jedoch nichts zu einem höheren Spannungsniveau beitragen. Klanglich kann das LSO wohl überzeugen, allerdings wallt die Dramatik nicht auf, geschweige denn dass die Musik einmal „Feuer fangen“ würde. Dazu sind die Momente der Spannung und die der Entspannung einfach zu wenig kontrastierend. Das Spannungsniveau bei den alten Aufnahmen des LSO (vor allem bei Dorati 1965 aber auch 1966 bei Markewitsch) war so deutlich höher, dass man seinen Ohren kaum zu trauen wagt.
Im langsamen Satz ist der Streichersatz kaum differenziert zu hören (was für ein Unterschied zu Swetlanow 1993, aber auch 2002). Das Oboen-Solo gefällt klanglich und wegen des geschmeidigen Vortrags. Die Celli kommen gut heraus, wirken aber wie die Umspielungen durch die Violinen ziemlich glanzlos und kaum ergreifend, nicht zuletzt, weil das Klangbild ziemlich distanziert wirkt. Beim Unisono lässt Gergijew die Hörner seltsam dynamisieren: Da wo sie ff und marcato zu spielen hätten, werden die Streicher im f erheblich lauter. So schlecht war das Klangbild bei dieser „Szene“ selten abgestimmt, auch nicht bei Golowanow 1947. Im Klangbild machen die Hörner nur einen sehr kleinen Teil des Klangbildes aus während die Streicher die ganze Breite einnehmen. Dafür dürfte der Dirigent allerdings nicht verantwortlich sein.
Das Scherzo hat Schwung, sogar Verve, aber eine geringe Transparenz. Der Walzer wirkt geschmeidig und zügig, es fehlt ihm ebenfalls an Glanz und, so wie es bei einigen anderen Einspielungen auch zu beobachten war, an Charme.
Im Finalsatz geht förmlich ein Ruck durch das Orchester, denn es klingt nun deutlich lebendiger als in den drei Sätzen zuvor. Die Gran Cassa und die Becken haben nun ihren großen Auftritt. Ganz im Gegensatz zum Blech, das nie mal brillant hervortreten darf. Wir hören ein gutes Stringendo vor Allegro vivo, einen schnell genommenen Hymnus voller penetranter und harter Schläge der Gran Cassa und nervige Becken. Die Stretta wirkt im Tempo beherzt.
Das Orchester kommt im Klang von 2012 nur ziemlich distanziert und blass zur Geltung. Es klingt weniger transparent, weniger voll und weniger leuchtkräftig als die Londoner Konkurrenz der BBC bei Swetlanow 2002. Der Klang fällt auch weit hinter den Klang des LSO von Mercury von 1965 mit Dorati und immer noch spürbar gegenüber dem 1966er Philips-Klang mit Markewitsch zurück. Den Streicherklang kann man kaum einmal differenziert nach den einzelnen Gruppen hören. Es fällt einzig die kräftige Gran Cassa auf und die will nicht zum Rest passen. Wir haben die Aufnahme nur im Stereo-Format gehört. Vielleich ändert sich das Bild im Multichannel-Format der SACD zum Besseren? Wir waren nicht motiviert, es auszuprobieren.
3-4
Wladimir Fedossejew
Großes Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR (heute: Tschaikowsky Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks)
Melodija
1984
11:33 12:33 7:57 11:37 43:40
Dem Orchester kommt das Werk sehr geläufig vor, das merkt man. Sicher wird man es nicht ohne Grund in ein paar Jahren den Namen „Tschaikowsky“ geben. Es spielt etwas kultivierter als bei Roshdestwenski, inzwischen wird das Werk wohl längst zum Repertoire gehören. An Klarheit und Transparenz hat das Spiel bzw. die Aufnahmequalität jedoch merklich eingebüßt. Und was vielleicht noch schwerer wiegt, das Spiel wirkt längst nicht mehr so inspiriert und überraschend wie beim „alten“ Chef.
Der zweite Satz wird wohl stimmungsvoll und klangschön gespielt, aber den Klang der sordinierten Streicher haben wir schon viel sinnlicher gehört. Die ersten sowjetischen Gehversuche mit der damals noch neuen Digitaltechnik verliefen nicht gerade erfolgreich. Die Oboe wird auf Distanz gehalten (das Holz überhaupt), ihr Ton ist klar aber sehr unbeweglich. Die Celli klingen wenig charakteristisch und es fehlt ihnen an sonorer Ausstrahlung. Der Orchesterklang scheint die geforderte kühle Temperatur allzu wörtlich zu nehmen. Die Hörner werden ebenfalls nur sehr weit entfernt aufgenommen, sie weisen zwar nach wie vor ihren charakteristischen Klang auf, den sie bereits bei Roshdestwenski hatten, aber wie konnte es gelingen sie so viel substanzärmer aufzunehmen? Sie klingen meist zu schwach um sich ordentlich von den Streichern abzuheben. Der Abgesang des Satzes gelingt dann wieder stimmungsvoller.
Das Scherzo wirkt deutlich geheimnisvoller als bei Ovchinnikov, der das Werk ebenfalls mit diesem Orchester aufgenommen hat, jedoch eigentlich immer noch viel zu laut. Das Holz erweist sich nun als unausgewogen, denn wie sollte man sich erklären, dass die Flöte im p lauter wirkt als das f der Oboe. Da war man zu sorglos unterwegs. Der Walzer wirkt langsam und die Nebenstimmen lassen an Transparenz zu wünschen übrig. Es lassen sich gar nicht alle verfolgen.
Im Finale wirkt der gebotene Klang gegenüber Ovchinnikov wie eine Erholung. Das Blech agiert immer noch von weitem. Die Gran Cassa straft ihren Namen Lügen, denn man hört sie nur als kleiner Klecks in der Klanglandschaft. Die Becken wirken einigermaßen dezent. Der Gestus bekommt gegen Schluss noch einen etwas deutlicher angetriebenen Impetus, aber feurig wirkt er nicht. Insgesamt eine enttäuschende Produktion aus dem Heimatland des Komponisten.
Der Klang der Aufnahme wirkt etwas offener, klarer und plastischer als bei Ovchinnikov, ein kleines Quantum besser sogar als die 67er Swetlanow, jedoch immer noch metallisch verfärbt, ohne jeden Schmelz und wenig dynamisch. Gegenüber der elf Jahre älteren Melodija Roshestwenskis zieht sie deutlich den Kürzeren. Insgesamt klingt sie so kalt wie der russische Winter.
3
Bystrik Rezucha
Slowakische Philharmonie Kosice
Mediaphon
P 1993
10:57 11:57 11:24 12:19 46:37
Die Sätze in der slowakischen Produktion sind unterschiedlich gelungen. Im ersten Satz wundert man sich wie homogen und glanzvoll die Streicher aufspielen. Das Holz erreicht nicht die beste Qualität, wie man auch dem Klarinettensolo (ab T. 137 ff) entnehmen kann. Straff und drängend bis zum Schroffen gehend lassen die zugespitzten, akzentreichen Verläufe nur wenig zu wünschen übrig. Leider wird immer zu sehr an der Stimme der Violinen entlang musiziert.
Im langsamen Satz kommt die Oboe plastisch heraus. Sie spielt leicht und unangestrengt, allerdings im Ton etwas dünn und ihr quäkendes Timbre lässt uns unwillkürlich an die Ente aus „Peter und der Wolf“ denken. Sie schattiert ihr Solo wenig ab. Die Celli und die Hörner präsentieren ihre Unisoni nahezu perfekt. Chapeau!
Leider enttäuscht das Scherzo, denn es wirkt geradezu „flügellahm“. Sollte es sich hier um einen trägen Schattentanz bei 30°C handeln oder ist man schon am Eis halb festgefroren? Das ist wohl kaum ein Allegro und scherzando und gar giocoso schon gar nicht. Es schließt sich der langsamste Walzer unserer Liste an. Er erklingt ohne jeden Schwung, als ob wir im Anfänger-Tanzkurs gelandet wären bei dem man gerade erst mal die Schrittfolge erlernt. Innerhalb der durchaus straffen Gesamtanlage wirkt der dritte Satz wie ein Fremdkörper. Vorteil: Man kann die wie durchleuchtet wirkende Instrumentierung haarfein verfolgen.
Im Finalsatz hören wir zunächst intensives Spiel bei getragenem Tempo. Einige Eigentümlichkeiten der Phrasierung stören nicht sonderlich. Eher schon, dass der Satz im Verlauf doch ziemlich steif und getragen durchgespielt wird und er repräsentativer wirkt als er sein will. Diese Darstellung kehrt seine Schwächen deutlicher hervor als seine Stärken.
Der Klang der früher einmal (als es noch CDs zu kaufen gab) überaus günstigen Scheibe bot eine gute Preis/Qualitäts-Relation. Die Streicher sind anscheinend das Glanzstück des Orchesters, sie klingen voll und weich und werden sehr gut aufgefächert. Das Holz ist zwar kaum von der gleichen Homogenität und wird wie das Blech deutlich zurückgesetzt, aber beides klingt dennoch insgesamt transparent und dynamisch. Der Gesamtklang ist für die Preisklasse überraschend gut.
3
Gerard Schwarz
Seattle Symphony Orchestra
Naxos, ehemals Delos
1992
12:02 12:11 7:25 12:12 43:50
GA Gerard Schwarz bevorzugt in seiner Darstellung des Kopfsatzes große Tempo-Gegensätze. Er beginnt langsam, dann geht es immer schneller voran um dann wieder schwer auf die Bremse zu treten. Das wirkt längst nicht so geschickt und spontan wie bei Herrn Golowanov sondern willkürlich und unorganisch. Und vor allem: Aus der Maßnahme die Agogik auszureizen wird kein Spannungsgewinn gezogen, denn auf die Dauer fühlt man sich davon sogar ermüdet. Das Orchester überzeugt unter diesen „verschärften“ Bedingungen mit gutem Spiel, wobei die Violinen auffallend hell und silbrig wirken. Ihnen haftet aber nichts Raues an.
Im Adagio cantabile könnte das langsame Tempo noch überzeugen, wenn damit keine übertrieben dynamisierte Phrasierung Kitschverdacht aufkommen ließe. Die Oboe kommt gut mit dem Tempo zurecht, im Ton typisch amerikanisch wirkt sie wenig charakteristisch aber doch recht subtil. Die Celli müssen hinter den Violinen sitzen, was sich für den zweiten Satz als eher suboptimal erwiesen hat. (Im Walzer ist diese Sitzordnung hingegen eher günstig.) In diesem Fall kommen sie trotzdem noch gut durch, denn Schwarz hält die Violinen entsprechend zurück. Sie bohren sich allerdings auch nicht gerade ins Herz der Zuhörenden. Die Hörner unterscheiden überhaupt nicht zwischen f und ff und können mit den geballten Streichern nicht mithalten. Da hätte die Aufnahmetechnik gefühlvoll gegensteuern können. So ist der Satzhöhepunkt fast völlig verschenkt.
Das Scherzo gefällt etwas besser, es wirkt eher energisch und ein bisschen aufgeregt als leicht und locker. Von der Transparenz her wirkt es etwas eingedickt. Der Walzer wirkt leichter, schön kantabel und flüssig hingelegt. Er bleibt von dirigentischen Eigenwilligkeiten frei und darf einfach mal dahinströmen. Gut hörbare Pizzicato-Bässe.
Der Gestus im Finalsatz könnte noch zupackender erscheinen, wenn die weiche Aufnahme nicht einen großen Teil der spieltechnischen Prägnanz zunichtemachen würde. Das ansprechende Temperament wird von einer fabelhaft klingenden Gran Cassa mächtig unterstützt. Im Gegensatz zum Kopfsatz werden im Finale keine agogischen Spielereien eingebaut, zumindest einmal nichts, was über das übliche Maß hinausgehen würde. Es gibt viel Tschingderassabum von Gran Cassa und Becken, während das Blech zurückbleibt. Diese Art von Effektbetonung bleibt wohl Geschmacksache.
Der Klang der Aufnahme erscheint weich und etwas glatt, wenig präsent und wenig körperhaft, gerade wenn man den selbst gesetzten audiophilen Anspruch von Delos in Betracht zieht. Der Klang ist transparent, wobei der Streicherchor weit auseinandergezogen erscheint. Es gibt relativ wenig Bass zu hören, die Dynamik ist passabel. Beides gilt jedoch nicht, wenn sich im vierten Satz die fulminante Grans Cassa hinzugesellt, da wird man dem audiophilen Anspruch immerhin gerecht.
3
Vyatcheslav Ovchinikov
Sinfonieorchester des Moskauer Rundfunks und Fernsehens (früher auch Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR genannt)
Warner, Olympia
AD ?
13:03 11:03 7:46 12:38 44:30
Der bei uns weniger bekannt gewordene Dirigent (1936-2019) der Aufnahme studierte bei Tichon Chrennikov (Komposition) und Leo Ginsburg (Dirigieren). Er ist in seinem Land eher als Komponist von ca. 40 Film-Musiken (darunter der auch im Westen etwas bekannter gewordene Streifen „Krieg und Frieden“ nach Tolstoi). Er komponierte auch Sinfonien und Sinfonische Dichtungen. Wikipedia schreibt, er wäre auch als „Tourneedirigent“ bekannt geworden, was implizieren könnte, dass er keine feste Stelle annahm.
Der Gestus im ersten Satz wirkt schwer und wuchtig. Das Orchester spielt unter Herrn Ovchinikov weniger präzise und weniger differenziert, recht gleichförmig und viel blasser als z.B. unter Roshdestwenski oder gar Golowanow.
Mit der Sordinie klingen die Streicher im langsamen Satz plötzlich viel besser als im Kopfsatz. Sobald sie wieder entfernt sind, ist alles wieder beim Alten. Der Klang der Oboe wirkt nun nochmals etwas härter. Zeitlich können wie die Einspielung leider nicht einordnen, aber wir würden sie dem Klang nach um die erste Einspielung von Herrn Fedossejew einordnen, vielleicht auch etwas früher, denn die Hörner klingen ganz ähnlich wie bei Roshdestwenski, sie haben immer die Oberhand über die sich auftürmenden Streicher.
Das Scherzo wirkt drängend und wenig atmosphärisch. Der Walzer wenig transparent und ziemlich einförmig. Und das obwohl er expressiv und sogar recht tänzerisch erscheint. Die Musik wird ein wenig Opfer der lieblosen Aufnahmetechnik. Ein Tschaikowsky zum abgewöhnen.
Das Klangbild im Finalsatz wirkt besonders im f und ff kaum noch differenziert und es hat in der Dynamik merklich nachgelassen. Das Orchester spielt zwar professionell-kultiviert, könnte aber viel klarer sein. Im ff wirkt das Klangbild enorm vom Becken dominiert. Eine einzelne Klarinette klingt mf und marcato genauso laut wie das ganze Orchester im ff. Solche Aufnahmen leisten dem Vorurteil Vorschub, die Musik der „Winterträume“ sei minderwertig komponiert und lärmend. Den Ausführenden ist da kaum die Hauptschuld zuzuweisen, schuldlos erscheinen sie indes auch nicht.
Der Klang der Aufnahme wirkt etwas nebulös und mulmig. Großräumig und recht transparent klingt sie allerdings nur in leisen Passagen. Ansonsten ist der Hall eine Crux für die Einspielung. Der Klang wirkt flächig, wenig körperhaft, wenig natürlich und wenig fein. Er verfügt kaum über einen zureichenden Bass. Allenfalls mit der Dynamik könnte man leben, was alleine jedoch überhaupt nichts nützt. Die Violinen klingen wenig weich und rund. Sie wirken noch härter und gepresster als bei Roshdestwenski. Wir haben uns ernsthaft gefragt, was sich derjenige, der bei Warner eine solche Einspielung für den Vertrieb eingekauft hat, wohl dabei gedacht haben könnte. Hört man da vorher nicht mal wenigstens testweise ein kurzes Stückchen rein?
Unveröffentlichte Live-Aufnahmen, gehört bei Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Radio:
5
Dima Slobodeniouk
Wiener Symphoniker
ORF
2022, live
11:20 10:33 7:23 11:14 40:30
Herr Slobodeniouk erhielt seine Ausbildung in Russland und Finnland. Er war Schüler bei Ilya Musin, Leif Segerstam, Jorma Panula und Esa Pekka Salonen. Von 2016 bis 2021 war Slobodeniouk Chefdirigent der Sinfonia Lahti in Helsinki. 2013 wurde er zudem Chefdirigent des Orquesta Sinfónica de Galicia in La Coruña bis 2023 (laut Wikipedia).
Die dieses Mal ungewöhnlich homogen und sensibel aufspielenden Wiener Symphoniker machen einen sehr motivierten Eindruck und legen sich mächtig ins Zeug. Der Kopfsatz wird mit großem Impetus gesteigert und erreicht fast die Dimensionen des Furors der besten Interpretationen der Beethovenschen „Eroica“ an der entsprechenden Stelle. Langeweile kommt nie auf denn auch den lyrischen Passagen wird Hochspannung „eingeimpft“. Sehr schade, dass der ORF bei seinen Übertragungen so rabiat die Dynamik kappt, wenn es mal richtig zur Sache geht. Ähnlich wenig subtil verhält sich bei den von uns gehörten Sendern nur noch der SR. Sendet man denn nur für Autofahrer/innen? Denn nur bei recht lauten Fahrgeräuschen bemerkt man von dem unmusikalischen Treiben nichts.
Die Wiener Oboe klingt bei ihrem herrlichen Solo im Adagio cantabile auffallend weich und recht füllig. Man hat sie von älteren Aufnahmen der Symphoniker noch anders im Ohr. Fagott und Flöte tragen gleichberechtigt ihre Stimmen vor, sodass man sich der Oboe gar nicht so sehr alleine widmen kann. Das Trio bezaubert jedoch genauso. Das Tempo, das Herr Slobodeniouk anschlägt, wirkt recht zügig, fast schon tänzerisch. Uns gefällt es, wenn man das „ma non tanto“ bei der Tempoangabe nicht übersieht. Die Celli spielen sehr homogen und gefühlvoll und – gutes Kennzeichen für ein aufmerksames Dirigat und eine hellsichtige Klangtechnik – die vom Komponisten gewünschte Balance der Celli zu den Violinen wird genauestens respektiert. Das wiederholt sich bei den Hörnern, die übrigens ein heftiges Marcato vermissen lassen, aber dennoch die aufgebrachten, Espressivo-Streicher in Schach halten können. Der Dirigent erweist sich nun bereits wiederholt als kluger Stratege.
Das Scherzo pulsiert. Aber der tänzerische, frisch angetriebene Walzer gefällt noch mehr, was nicht wenig an den verlebendigenden Umspielungen des präsenten Holzes liegt, die die melodieseligen Violinen I und die Celli (übrigens sehr homogen!) umschmeicheln. Sollte Herr Slobodeniouk Urahnen in Wien gehabt haben?
Die Einleitung des Finalsatzes wirkt besonders stimmungsvoll. Durch die Hervorhebung der Stimmen des Holzes wirkt er nicht ganz so bewegungsarm wie sonst. Das Fagott setzt sich (nun schon zum wiederholten Mal) sehr gut in Szene. Man merkt auch in dieser ersten Sinfonie bereits, dass das Fagott noch eine große Rolle in der Sinfonik des Komponisten spielen wird, Tschaikowsky muss seine spezifische Klangfarbe sehr gemocht haben. Die Stringendi erklingen mitreißend und die Accelerandi beherzt. Das Alla breve rasant. Sehr gute Hörner überzeugen auch in den Passagen der Sammlung oder Rückbesinnung. Spannung gehalten! Bei den Violinen geht jetzt allerdings Intensität vor Homogenität. Den Fugati geben Dirigent und Orchester ordentlich Feuer, bei vielen anderen wirken sie nur wie eine unbeholfene Lehrstunde. Die super lebendige Coda geht in eine hoch erhitzte Stretta über. Selten hört man den letzten Satz so begeisternd. Völlig zurecht gibt es großen Jubel in Wien.
Präsent sind bei dieser Übertragung vor allem die Holzbläser aber auch die Hörner. Das ist besonders schön, denn allzu oft werden gerade letztere ganz nach hinten (wie in die Strafecke) verbannt. Dieses Mal dürfen wir dem Holz fast genau und unmittelbar Auge in Auge gegenübersitzen. Die Aufnahme ist leider nur bis zum mf sehr transparent und bis dahin klingt das Orchester auch schön voll, farbig und iwe gesagt super präsent. Ab mf setzt dann ein völlig unsensibler Dynamik-Kompressor ein, wie man ihn aus seligen Zeiten der Musikkassette einmal kannte. Das ff klingt dann objektiv fast genauso laut wie ein p. Darin ist man sich beim ORF besonders mit dem zweitkleinsten Sender der ARD, dem SR, einig. Bei HR, SWR und besonders beim BR klingt es deutlich dynamischer. Man kann es sich aber kaum vorstellen, dass man sich nur als „wohlhabender“ Sender eine ansprechende Dynamik für seine Orchester-Aufnahmen leisten kann.
5
Paavo Järvi
HR-Sinfonieorchester
HR
2012, live
11:25 10:50 7:39 12:01 41:55
Von den in unserer Liste „live und unveröffentlicht“ hat es bisher einzig Paavo Järvi zu CD-Ehren gebracht. Es gibt gegenüber der CD-Aufnahme aus Zürich, die neun Jahre nach dem Frankfurter Mittschnitt entstanden ist, durchaus markante Unterschiede, ohne dass man irgendein Qualitätsgefälle daraus ableiten könnte. Die Frankfurter Aufnahme aus der Alten Oper hat mehr natürlichen Fluss, bietet aber nicht ganz die gleiche Nuancierungskunst wie die aus Zürich. Das Orchesterspiel würden wir als gleichwertig bezeichnen. Die Aufnahme wird übrigens immer wieder gerne gesendet, am Morgen, im Nachmittagsprogramm und sogar im ARD-Nachtprogramm, besonders wenn sich der Winter nähert und/oder draußen der erste Schnee liegt. Wenn man sie auch noch in anderen Jahreszeiten so gerne senden würde, wäre sie der „Evergreen“ des HR schlechthin. Der Name der Sinfonie macht anscheinend Programm. Auch der SR, BR und SWR haben die Konzerte, die den Aufnahmen zugrunde liegen, alle im November, Dezember oder Januar veranstaltet. Die wiederholenden Sendetermine liegen alle immer in denselben Monaten. Beim HR klingen die Hörner (und auch das übrige Blech) nicht so hintergründig als in Zürich. Wir haben jedoch die Frankfurter Einspielung im ersten Satz als nicht ganz so spannend in den Entwicklungsverläufen und in der Durchführung erlebt. Herr Järvi scheint in jüngeren Jahren noch etwas gelassener vorgegangen zu sein. In Frankfurt war er übrigens 50, in Zürich 59. Dennoch ein klares Patt zwischen Zürich und Frankfurt.
Im zweiten Satz überzeugt der ganz besonders weich und duftig klingende Streicherchor des HR SO. In der Aufnahme mit Frau Yashima 2025 wirkt er sogar nochmals verfeinert. Er schafft vortrefflich Stimmung. Das Oboen-Solo wird sehr schön und differenziert geblasen, genauso vortrefflich von der Flöte umspielt und vom Fagott begleitet. Der Gestus bei Järvi wirkt in den „Zwischenspielen“ (wenn es kein großes Unisono einer Instrumentengruppe gibt) sehr lebendig, was durch ein plastisch machen der Stimmen ebenso gelingt wie durch ein Anziehen des Tempos. Die Celli klingen ausgezeichnet und kommen auch in Frankfurt bereits besonders gut zur Geltung, denn sie werden sehr sorgfältig mit den Violinen ausbalanciert. Und auch 2021 in Zürich lässt Järvi die Hörner zurückhaltend spielen, sie sollen ihre „Körner“ nicht zu früh ganz verschießen, damit sie gegen Ende ihres Unisono, wenn das ff am wichtigsten ist, noch genügend Luft und Kraft vorhanden ist. Das gelingt, jedoch wirkt die Szene nicht so überragend wie bei LSO (Dorati) COA (Haitink), BP (Karajan) oder bei den Wiener (Maazel), Reihenfolge bedeutet keine Rangfolge.
Das Scherzo wirkt sehr lebendig. Dem Walzer gibt Järvi noch nicht denselben Schwung wie in Zürich, tänzerischer Elan hat der Frankfurter Walzer aber auch und bereits in Frankfurt wirkt der Einsatz der Nebenstimmen reichhaltig und bereichernd. Es wird in Bezug auf die Dynamik sehr genau in die Partitur geschaut. Die Pauke lässt ihr ganzes dynamisches Spektrum von f bis ppp hören.
Der Finalsatz erhält temperamentvolle Frische, wird jedoch leider von der Übertragungstechnik gegenüber der CD aus Zürich merklich eingebremst. Paavo lässt aber dem HR SO mehr freien Lauf als dem Tonhalle Orchester und immer wieder begeistern die super klingenden Streicher des Frankfurter Orchesters (oder aber der HR hat die allerbesten Mikrophone um Violinen aufzunehmen), denn mit Erina Yashima zeigt sich das gleiche Phänomen 2025, auch wenn bei den Fugati jede Streichergruppe in schneller Abfolge alleine spielt. In Frankfurt wirkt das Finale weniger ziseliert und etwas spannender.
Die Aufnahme klingt sehr transparent. Es ist viel natürlicher Raumklang mit auf die Aufnahme gelangt, was bei den Live-Aufnahmen des HR aus Frankfurt eigentlich immer so ist. Die Streicher werden besonders gut aufgefächert. Das Klangbild wirkt etwas fülliger als in Zürich. Obwohl die Dynamik rundfunktypisch etwas eingebremst wird, ist die Übertragung als besonders klangschön in Erinnerung geblieben.
5
Andrey Boreyko
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
SWR
2009, live
11:30 10:33 7:59 12:38 42:40
Dieser Mitschnitt entstand im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle. Herr Boreyko war damals Erster Gastdirigent des Stuttgarter Orchesters. Das Orchester darf im ersten Satz ordentlich auftrumpfen, was man zu allererst am sehr gut akzentuierenden Blech vernimmt. Aber auch die Violinen (wie die Streicher allgemein) dürfen für die Verhältnisse die während der Zeit als Roger Norrington Chefdirigent war herrschten geradezu in Vibrato schwelgen (aber nur in der Relation zum Spiel mit dem Chef). Das Tempo ist zügig, der Gestus jugendlich und temperamentvoll, sodass man die Freude zu Beginn der Schlittenfahrt gut nachvollziehen kann. Auch in die gefahrvollen Augenblicke stürzt man sich regelrecht hinein. Der Kopfsatz wirkt so etwas wilder als bei Welser-Möst und Ozawa. Die besonders ausgeprägte Transparenz, die sich das Orchester während der Ägide Norrington aneignete, ist auch mit dem Ersten Gastdirigenten hörbar.
Der Stuttgarter Oboist ist erneut mit einem hervorragenden Solo zu hören. Mit feinem Vibrato und seinem herrlich vollen und leicht gedeckten aber farbigen Ton gehört es genau wie das in der nächsten Einspielung folgende vom Oboisten des BRSO mit zu den besten. Das Unisono der Bratschen wirkt tatsächlich mal ein wenig bewegter (pochissimo piu mosso). Die Celli spielen dieses Mal nicht mit einem hocherhitzten Espressivo, sondern einfach nur kantabel und zart. Durch die präzise Einhaltung der Vortragsbezeichnungen auch bei den Violinen geraten beide kaum in Konkurrenz. Die exakte Ausführung der Tempobezeichnungen bedingt, dass der Satz bewegter und lebendiger klingt als zumeist. Die Hörner „ziehen voll durch“ und werden nie von den aufgebrachten, aber schlanken Streichern verdeckt. Diese Darstellung des zweiten Satzes, die überhaupt nicht in die Breite geht, hat überhaupt nichts Nebulöses, sondern wirkt ganz klar und ausdrucksvoll.
Das Scherzo gelingt. Durch die starke Präsenz des Holzes (Flöte und Oboe) wirkt es licht. Man spielt prononciert, geschwind und in der richtigen Lautstärke (p und pp), was leider längst keine Selbstverständlichkeit ist. Der Rhythmus wirkt markant, was den tänzerischen Charakter trefflich unterstreicht, die Pizzicati kommen sehr gut zur Geltung. Das Walzer-Thema erklingt ebenso vorschriftsmäßig im p. Sehr apart, wie dann die Violinen I und Celli eine grazile Einheit bilden. Beide sind exakt im Gleichklang. Die Präzision im Spiel ist staunenswert (live!). Manch ein Musikfreund wird indes die schwelgerische Note gerade beim Walzer vermissen. Er wirkt auf seine Art sehr bewegt.
Der Finalsatz wird mitreißend gestaltet, licht nicht nur in den Fugati, auch im sonst schon ziemlich dicken Tutti. Der schlanke, sehnige Orchesterklang (Norrington bleibt spürbar) hilft dabei ungemein. Das flotte Tempo verhindert das Abgleiten ins Pompöse und der temperamentvolle, ziemlich direkt wirkende Zugriff, wenn es um die Stringendi und die zugespitzte Stretta geht ebenfalls. Anscheinend liegt dem Dirigenten die Musik Tschaikowskys mehr als die Schostakowitschs.
Das Klangbild ist sehr sauber, farbig und transparent. Die Tiefenstaffelung überzeugt genau wie die gut ins Bild kommenden Bässe.
4-5
Franz Welser-Möst
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO)
BR
2017, live
11:24 11:03 8:16 12:00 42:43
Diese Aufnahme entstand im Herkulessaal der Münchner Residenz. Dirigent und Orchester kennen sich gut, denn Herr Welser-Möst ist nahezu jedes Jahr beim BRSO zu Gast. Schon während der ersten Takte (des Schneefalls) stellt sich ein sachlich orientierter Eindruck von hoher Partitur-Nähe und absoluter Präzision ein. So exakt fallen die Schnellflöckchen selten zu Boden. Die Tempi sind klar gewählt und werden weitgehend durchgehalten, d.h. wenig modifiziert. Das Spiel des wie gewohnt engagierten und erstklassigen Orchesters gefällt. Die Steigerungen werden zwar voll ausgespielt wirken aber immer wie mit einem kühlen Kopf geplant und genauso ausgeführt. Die Musik erscheint wenig emotional aufgeladen, ohne dass man sich einem puren strömen lassen übergeben würde. Alles wirkt zwar ziemlich unauffällig aber doch gestaltet und zwar mit Hand und Fuß. Albtraumhafte Züge erhält die Musik nicht, ohne dass sie unbeschwert wirken würde. Die Spannung verliert man nicht aus den Augen. In den langen Passagen der Wiederholungen kann ein Durchhängen der Spannung gerade noch vermieden werden.
Das Oboen-Solo im Adagio cantabile man non tanto wird fantastisch geblasen und gehört auch klanglich zu den besten. Besonders gefällt das flexible, ausdrucksvolle Vibrato und der farbige, geschmeidige Ton, der sich einer ganz besonderen Lebendigkeit erfreut. Das starre Reinblasen ist mit das schlimmste, was man der Musik antun kann. Sie wird exzellent von der Flöte umspielt. Die Bratschen können mit ihrem klangvollen piangendo mit den Berliner Kollegen unter Ozawa nicht ganz mithalten, was analog auch für die zurückhaltenden Celli gelten kann, denen es so an Volumen fehlt. Die Hörner wirken ebenfalls ein wenig zu reserviert gegenüber den besten Espressivo-Darbietungen unseres kleinen Vergleichs. Die Transparenz hingegen besticht, auch wenn die Streicher in die Vollen gehen. Sehr schön gespielt wird durchweg, nicht dass ein schiefes Bild entsteht. Und gerade wenn es um die Beschreibung eines kahlen, nebligen Landes geht, sollten die Emotionen vielleicht gar nicht so hoch kochen.
Das Scherzo enttäuscht ein bisschen. Es wirkt in einem langsamen Zeitmaß gespielt fast träge. Soll doch niemand auf die Idee kommen, dass es im winterlich-kalten Russland so flink und geschmeidig zugeht wie im sonnendurchfluteten, warmen Italien (Mendelssohns IV. war Gegenstand der Studien Tschaikowskys als er die „Winterträume“ komponierte). Das BRSO spielt trotz des Tempos so hell und luzide wie es geht. Dem Walzer fehlt es hingegen nicht an Lebendigkeit, nicht zuletzt durch die sehr transparenten, erstklassig gespielten Umspielungen der Holzbläser.
Das Andante lugubre des Finalsatzes wirkt stimmungsvoll. Bei der Gelegenheit müssten eigentlich die wunderbar sonoren Fagotte des BRSO mal extra gelobt werden. Wie oft übergeht man diese Instrumente, weil sie meist wenig auffallen. In dieser Sinfonie wird dies jedoch schwer möglich sein. Herr Welser-Möst entdeckt seine temperamentvolle Ader, denn jetzt sind sie Stringendi mitreißend, sein Allegro maestoso im Alla breve gut angetrieben. Dabei wirkt alles bestechend klar, genau wie die Fugati, bei denen der junge Komponist seine Kenntnisse der westlichen Kompositionstechniken demonstrieren wollte. Es gibt kaum Spannungsabfall bei den langen Passagen der Besinnung und des Schwungaufbauens (langes Accelerando zw. T. 370 und T. 410). Souveräne Gestaltung, hervorragendes Spiel, sehr guter Klang, kaum jemals lästiges Tschingderassabum.
Der Klang wirkt angenehm präsent, vor allem das Holz wird dem Hörer sehr deutlich vor Ohren geführt. Insgesamt wirkt das Klangbild klar und deutlich, auch noch im ff des Tutti. Darin ist sie der 25 Jahre älteren Aufnahmen des RBB mit den Berliner Philharmonikern deutlich überlegen. Ebenso in der Dynamik.
4-5
Seiji Ozawa
Berliner Philharmoniker
RBB
1992, live
11:24 10:43 7:55 12:27 42:29
Diese Aufnahme stammt aus der Berliner Philharmonie. Sie beginnt in zauberhafter Stimmung. Die Entwicklungsteile klingen ziemlich wuchtig, im vollen, glänzenden Klang des auch im dritten Jahr der Ägide Abbado immer noch mehr nach Karajan klingenden Orchesters. Die solistischen Darbietungen und die einzelnen Orchestergruppen erfreuen zwar mit bestechendem Klang, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Spannungsniveau nur auf mittlerer Flamme köchelt. Wir hören eher ein Fest an Klangfarben und Musikalität. Und keine existenzielle Gefährdung in der Durchführung.
Das Oboen-Solo im langsamen Satz wird hervorragend geblasen, mit leichtem Vibrato und dynamisch flexibler als es eigentlich notiert ist. Obwohl schön erzählt gefällt uns der besonders beherzte Vortrag 1979 noch ein bisschen besser. Er war auch klanglich noch profunder, um nicht zu schreiben fülliger, aber auf die sinnliche Art. Die Bratschen erklingen mit wunderbarer Phrasierung und heraussagendem Klang, genau wie die Celli wunderbar singen, das auch noch ungemein sonor und vibrierend. Die Hörner hingegen differenzieren kaum zwischen f und ff kommen aber doch klangvoll und mit dem nötigen Durchsetzungsvermögen ans Ziel.
Das Scherzo gerät weitgehend zu laut, das p des Holzes hört sich eher nach einem satten f an. Der Walzer hat eher wenig Schwung und wirkt auch nicht ganz präzise.
Das zu laute p setzt sich zu Beginn des Finalsatzes fort. Es wäre zu vermuten, dass die Techniker des RBB da nachgeholfen haben, denn man kann es sich kaum vorstellen, dass die Herren Philharmoniker sich so bei p und f vergreifen. Dennoch sollte das Thema in den Violinen p sein. Es hört sich nach einem gesunden f, na ja mit viel Wohlwollen nach mf an. Und die Nebenstimmen des Holzes sind noch lauter. Gute Stringendi, das Allegro moderato mehr Allegro als moderato, rasante Fugati. Das knackige Blech ist jetzt voll in seinem Element, ungemein strahlend und sonor, was ebenso für die Streicher gelten kann. Die Stretta kommt leider etwas gezügelt im Tempo; sie hätte das Werk stürmisch bewegter mit noch mehr Lebensfreude beenden können.
Der Klang der Aufnahme ist weich und voll, generell recht farbig, transparent und dynamisch. Die Tutti gelingen dem RBB in späteren Übertragungen jedoch transparenter. Hier wirken sie noch etwas diffus.
4-5
Erina Yashima
HR-Sinfonieorchester
HR
2025, live
12:07 11:09 7:33 12:16 43:05
Nach Assistenz-Zeiten bei Riccardo Muti in Chicago und bei Yannik Nézet-Seguin in Philadelphia war die gebürtige Heilbronnerin 1. Kapellmeisterin an der Komischen Oper Berlin (Lebenslauf stark verkürzt). Bei diesem Konzert im Sendesaal des HR hatte sie ihr Debut beim HR-Sinfonieorchester. Die Wiedergabe des Kopfsatzes wirkt bei moderaten Tempi hell, freundlich, locker und kantabel. Das Orchester lässt wieder die hervorragend feingeschliffenen Violinen hören, die sich für den Gesamtklang immer als besonders wertbestimmend erweisen. Das ganze Orchester spielt engagiert und präzise. Der Gestus wirkt etwas sorgsamer und behutsamer (fast möchte man „achtsamer“ schreiben) als bei Paavo Järvi, dessen Mitschnitt nun schon 13 Jahre zurückliegt. Gegenüber der Aufnahme mit dem ehemaligen Chefdirigenten wirkt diese neue erheblich weniger spannend und die dramatischen Höhepunkte weit weniger ausgereizt. Es ist ganz erstaunlich, wie unterschiedlich sich ein eigentlich fast gleich klingendes Orchester anhören kann.
Im langsamen Satz lässt sich Frau Yashima viel Zeit für die besondere Emotionalität der Musik. Die Streicher spielen sehr weich und ausdrucksvoll mit der Sordine, die Oboe klingt erneut vorzüglich, hält auch im p ein ordentliches espressivo, was wirklich schwer ist und wird perfekt von der Flöte umspielt und sehr gut vom Fagott ergänzt. Ein fein ausgewogenes Kabinettstückchen. Die Celli bleiben sanft und bringen uns mit ihrem blühenden Klang fast zum Weinen, dabei sollten das doch bereits die Bratschen versucht haben mit ihrem piangendo. Obwohl die Celli links hinter den Violinen sitzen, kommen sie ausgezeichnet zu Gehör. Die Hörner werden wieder weit von den Hörern abgerückt, die Streicher spielen jedoch erneut so sorgsam und empfindsam, dass die Balance mit den Hörnern trotzdem stimmt. Obwohl die Darbietung gegenüber den besten nicht zur „Gänsehaut“ führt, muss man doch erwähnen, dass sie gegenüber den von Männern dirigierten ziemlich verschieden klingt. Da dies die für uns bis heute einzige von einer Frau dirigierte Aufnahme der „Winterträume“ ist, ist das jedoch (bis jetzt noch) nur ein individueller Unterschied.
Das Scherzo dürfte dem Ideal wohl ziemlich nahekommen. Es klingt rhythmisch pulsierend, leicht, lebendig, spielerisch und elegant. Es bleibt trotzdem griffig. Der Walzer wirkt „reichblühend“, zur warm-homogenen Streichermelodie, mal sanft-dramatisch, mal strömend-optimistisch. Da kann man sich fast schon im sanft-schimmernden Glanz ein wenig sonnen.
Der Finalsatz, insgesamt sehr klar und deutlich, wirkt durchaus energisch aber doch sehr unaufgeregt, locker und ohne besonderen Drang nach vorne. Ein etwas vehementerer Drang ergibt sich erst ab Allegro moderato. Das Orchester bleibt aber selbst dann immer noch erstaunlich locker. Die Darbietung erzielt keine Hochspannung im eigentlichen Sinn, wirkt aber doch hochkonzentriert. Souverän scheint die Dirigentin das Orchester zusammenzuhalten, denn es gibt keinerlei Nachlässigkeiten (auch bei den Hörnern nicht) und sie hält es zu besonders schönem Spiel an. Ob das die Folge einer besonderen Art der Motivation sein könnte? Die Folge ist jedenfalls eine strahlende Transparenz, wie man sie auch vom HRSO nicht alle Tage zu hören bekommt. Tolle Stretta.
In den beiden Pausencafés (wir verfolgten auch schon ein Konzert der Dirigentin mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester) konnte man die Dirigentin sehr gut gelaunt und lachend erleben. Und bekanntlich öffnet auch das Lächeln ja so manche Tür, die einem sonst verschlossen bliebe.
Der Klang der Aufnahme erscheint sehr räumlich, transparent und übersichtlich gestaffelt. Die Dynamik ist wie immer bei Sendungen im Rundfunk ein wenig nivelliert.
4-5
Axel Kober
Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern
SR
2024, live
11:58 11:44 7:57 12:23 44:02
Diese Aufnahme entstand im Großen Sendesaal auf dem Halberg in Saarbrücken. Groß muss man in diesem Zusammenhang jedoch relativieren, denn der Saal fasst nur 400 Besucher. Bei der Besetzungsstärke, wie sie die Erste Tschaikowskys im vierten Satz aufweist, kommt der Saal akustisch schon an seine Grenze.
Das Orchester fällt uns jedoch immer als eine besonders empathisch spielende Musiker-Vereinigung auf. So auch zu Beginn des Kopfsatzes. Es spielt auch mit dem Gastdirigenten des Abends von der Deutschen Oper am Rhein kristallklar und mit weit gespannten Bögen, sehr präzise und mit einigem frisch wirkenden Drive. Die Gruppen erweisen sich als ausgewogen, die Streicher als geschmeidig, das Holz wieder einmal als beherzt.
Der langsame Satz wirkt zunächst besonders präsent aufgenommen. Selbst bei Live-Aufnahmen lassen sich anscheinend zuvor gespeicherte unterschiedliche Settings bei der Aufnahme nutzen. Die mit vollem Ton, feinem Vibrato und ordentlicher Lautstärke agierende, geschmeidig phrasierende und ganz besonders präsent eingefangene Oboe wird schön umspielt. Der Klang wirkt sehr transparent solange der Dynamik-Begrenzer nicht eingreift und das macht er leider schon sehr früh. Die Celli, die mit einem herrlichen Espressivo spielen, werden wunderbar hervorgehoben. Die Hörner kommen bei ihrem ff leider nicht mächtig genug heraus, denn der Begrenzer greift auch da schon wieder hart ein. Diese Passage kann man so fast als misslungen bezeichnen. Hört beim SR eigentlich niemand die eigenen Sendungen kritisch mit? Nach dem Einsatz des Begrenzers nicht vorher, also so wie man das Signal an die Zuhörer und Gebührenzahler weitergibt?
Sas Scherzo wirkt zu laut. Beim Holz ist das p des Holzes nun lauter als das ff der Hörner im zweiten Satz. Das Musizieren erfolgt indes entspannt und gefühlvoll in einem angemessenen Tempo. Der Walzer sollte ab T. 150 crescendo kommen, davon ist allerdings nichts zu hören, die umspielenden Nebenstimmen leuchten schön auf, wenngleich der Begrenzer die Musik schon wieder unbotmäßig in Schach hält. Man hört es auch immer gut daran, wenn die Transparenz geradezu einschrumpft.
Herr Kober lässt das Andante lugubre in der Einleitung zum Finalsatz schon recht zügig spielen, weshalb sich die Düsternis in Grenzen hält. Wunderbar transparente Passagen (die leisen) wechseln sich mit verklumpten, wie eingedampft klingenden (ursprünglich lauten, jetzt nur noch gleichlauten) Passagen ab. Die Musiker spielen indes beherzt bis fulminant auf, so wie man sie bereits in vielen anderen Übertragungen kennengelernt hat. Die Musiker haben sich unsere gute Bewertung redlich verdient und auch dem Dirigenten scheint die Sinfonie offenkundig eher eine Herzensangelegenheit denn ein Pflichtaufgabe gewesen zu sein. Die SR-Technik schafft allenfalls eine 2-3. Die Punktzahl geht nicht in die Wertung ein. Wenn wir den Vergleich nicht hätten, kämen wir womöglich auf die Idee, diese Leistung könnte der Normalfall bei Übertragungen von Konzerten mit klassischer Musik sein. Klassische Musik ist keine Pop-Musik, sie übersteht die Dynamikverzerrung nicht unbeschadet.
Dabei beginnt die Übertragung so gut: Räumlich, klar und präsent, das Orchester gut gestaffelt, plastisch und mit warmem Klang. Dieses Klangpanorama hält sich jedoch nur im p. Dann wird die Dynamik bereits zusammengedrückt und mit ihr die Präsenz und Räumlichkeit. Der SR geht dabei noch über den ORF hinaus, der ähnliches praktiziert. Im f und ff kann man kaum noch von einem transparenten Klangbild reden. Das Klangbild „verklumpt“ dann. Die Techniker sollten sich mal anhören, was von ihrer Arbeit tatsächlich beim Hörer ankommt. Dass es auch anders geht, kann man beim BR, HR oder auch beim Deutschlandfunk Kultur hören.
3
Allessandro Bonato
Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
RAI, vom SWR gesendet
2023, live
12:26 11:49 8:38 13:04 45:57
Das Orchester des italienischen Rundfunks ist 1993 aus der Fusion von vier Orchestern der RAI aus Turin selbst, Mailand. Neapel und Rom entstanden. Seitdem ist es nur noch in Turin beheimatet. Das Konzert wurde im Arturo-Toscanini-RAI-Auditorium in Turin aufgenommen, nunmehr 30 Jahre nach der Fusion.
Der Beginn des Kopfsatzes lässt die große Abenteuerlust vermissen und wirkt ziemlich betulich. Die einzelnen Soli wirken isoliert, da fehlt irgendwie die Bindung zum restlichen Orchester. Das Orchester scheint in diesem Konzert (bzw. in dieser Aufnahme) nicht seine normale Form zu erreichen, jedenfalls ist es von internationaler Top-Klasse weit entfernt. Die Violinen spielen nicht ganz homogen, dem Holz fehlt es an solistischer Eloquenz, man fremdelt dem Werk gegenüber. Es gibt keinen kontinuierlichen Spannungsbogen, einen völligen Abbruch desselben gibt es bei der Generalpause bei T. 383. Danach vermisst man den Aufbau eines neuen Spannungsbogens. Der Wiedereintritt des Themas wirkt ohne Aha-Effekt ziemlich „schnöde“. Es wird durchweg altbacken musiziert, vom Dirigenten scheint wenig Inspiration zu kommen, wiewohl er natürlich mehr vom Orchester abhängig ist, wie umgekehrt. Ein episodenhafter Kopfsatz.
Der Klang der Streicher wirkt trotz aufgesteckter Sordine zu Beginn des langsamen Satzes nicht sonderlich weich. Die Oboe klingt nicht über das gesamte für ihr Solo zu nutzende Register gleichmäßig, diverse Töne fallen heraus. Die Intonation erscheint nicht ganz sattelfest, das Vibrato etwas unbeholfen. Die Celli spielen ihr Unisono ziemlich kühl und unbeteiligt. Zu wenig espressivo um einen weinenden Gestus zu verströmen bereits zuvor die Bratschen. Die Hörner spielen dieses Mal wie auf einem Präsentierteller. Sie brauchen sich nicht anzustrengen um von den Streichern unbedrängt bis zum Ende durchzuhalten. Der Gestus in diesem Satz wirkt insgesamt langsam-schleppend.
Das Scherzo erklingt wenig zauberhaft und elegant, ziemlich uninspiriert und in einem Stück durchgespielt. Die ziemlich erbarmungslos trockene Akustik hilft nicht gerade dabei, das Spiel des Orchesters finessenreicher erscheinen zu lassen. Der Walzer ist wohl der mit Abstand langsamste unserer kompletten Liste. Violinen I und Celli wollen nicht so recht zusammenfinden und die umspielenden Holzbläser verhungern geradezu wegen des langsamen Tempos. Der Bewegungsablauf während des Walzers wirkt wie eingeeist, es ergibt sich keinerlei Schwung. Bei der Wiederholung des Scherzos kann man jedes Umblättern akustisch mit verfolgen, so dicht waren die Mikrophone dran.
Im Finalsatz wird alles so gespielt als sei es gleich wichtig. Zunächst wird das Andante lugubre erst mal stark gedehnt. Die Stringendi wirken gezogen, die Accelerandi lahm. Immerhin hat das Alla breve einigen drängenden Schwung. In den ruhigeren Passagen fällt die Spannung ab. Da nützt auch das gegen Ende engagiertere, schöne Spiel nichts.
Das Studio bietet leider tatsächlich nur sehr trockene Studio-Akustik. Auf den Eindruck eines natürlichen Raumes müssen wir verzichten. In ruhigeren Passagen, aber auch im lauten Tutti wirkt die Aufnahme sehr transparent. Das Holz ist besonders präsent. Die Hörer sind überhaupt dicht zum Orchester aufgerückt. Immerhin: Gute Gran Cassa.
25.1.2025