György Ligeti
Atmosphères
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Werkhintergrund:
Geboren wurde Györgi Sándor Ligeti am 28. Mai 1923 in Târnava-Sânmărtin als Sohn der Augenärztin Ilona Somogyi und des Nationalökonomen und Bankfachmanns Sándor Ligeti. Seine frühe Kindheit verbrachte er unter seinem ursprünglich jüdischem Familiennamen Auer in der Region Siebenbürgen. Nachdem Nationalistische Tendenzen innerhalb Ungarns überhandnahmen, änderte die Familie Ihren Namen. Wie viele andere Juden und „Andersvölkige“ im Königreich Ungarn madjarisierten sie ihn ins Ungarische und nannten sich fortan Ligeti.
Sie lebten im Siebenbürgischen Cluj, zu Deutsch Klausenburg in Rumänien. Dort besuchte er die Volksschule und wechselte anschließend auf ein rumänisches Gymnasium. Die Musik noch näher brachte ihm ab '36 der Klavierunterricht. Bereits nach einem Jahr Musikunterricht begann er mit eigenen Kompositionen. Es folgte der Abschluss des Gymnasiums. Er begeisterte sich gleichermaßen für Musik und für Naturwissenschaften. Das Interesse vor allem für Mathematik und Chemie blieb Ligeti zeitlebens erhalten, und von beiden Disziplinen empfing er Anregungen für musikalische Gestaltungsideen. Als ungarischer Jude erlebte Ligeti in seiner Jugend in traumatischer Weise Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Sein Vater und ein jüngerer Bruder wurden ins KZ deportiert und 1945 Opfer des Holocausts. Ligeti selbst überlebte mit knapper Not. Sein Wunsch Mathematik und Physik als Studienfächer zu wählen, wurde ihm jedoch versagt. Wegen seiner jüdischen Abstammung durfte er sich nicht einschreiben.
So kam es, dass Ligeti zu Sándor Veress, Ferenc Farkas und Lajos Bárdos ans Konservatorium Clujs ging und dort seine musikalische Ausbildung an der Orgel und in theoretischer Musik begann. Er entwickelte die Mikropolyphonie die zuvor bereits in Stücken von Thomas Tallis zu hören war, von Ligeti jedoch maßgebend geprägt wurde. Sie sollte später auch zu einem seiner wichtigsten Stilmerkmale werden. Herauszuhören ist dies bereits z.B. in "Éjszaka - Reggel". In Budapest konnte er sein Studium weiterführen bis er im Jahre 1944 für den Arbeitsdienst der ungarischen Armee einberufen wurde. Ligeti geriet in sowjetische Gefangenschaft, konnte aber im Chaos eines Bombenangriffs fliehen.
Als der Krieg zu Ende ging, konnte György Ligeti seine Studien fortsetzen und machte im Jahre 1949 den Abschluss. Er heiratete noch im gleichen Jahr die junge Brigitte Löw und nahm eine Stelle als Musikethnologe für rumänische Volksmusik an. Darauf folgte eine Anstellung als Musiklehrer im Bereich Musikanalyse und Harmonielehre. 1950 übernahm er dort eine Professur. Seine Werke aus jener Zeit, die auf produktive Weise an Bartók anknüpfen, waren von der offiziellen Doktrin des Sozialistischen Realismus denkbar weit entfernt und hatten im kommunistischen Ungarn keine Chance auf Aufführung.
Als das Ende des ungarischen Volksaufstandes besiegelt schien, floh er mit seiner späteren Frau Veronika Spitz nach Wien. Hier lernte er auch seinen Weggefährten Harald Kaufmann kennen. Gemeinsam mit ihm arbeitete er von 1959 bis 1960 an dem Artikel "Wandlungen der musikalischen Form", die als Kritik der seriellen Musik verstanden werden kann. Kurze Zeit später wurde Ligeti offiziell Österreicher, was ihm neue Möglichkeiten bei der Reisefreiheit gab. Er nahm an den Darmstädter Ferienkursen um Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez teil, wo er hauptsächlich als brillanter Analytiker und Theoretiker, weniger als Komponist wahrgenommen wurde.
In Köln arbeitete Ligeti von 1957 bis hinein ins Jahre 1958 beim Westdeutschen Rundfunk in dessen Studio für elektronische Musik. Ein Schmelztiegel für kreative Musiker die sich mit den neu gewonnenen Möglichkeiten der elektronischen Musik auseinander setzten. Dies inspirierte den jungen Ligeti und hatte Einfluss auf seine weiteren Werke. Inspiriert von der Musik Karlheinz Stockhausens, Mauricio Kagels und Pierre Boulez' spiegelt sich dieser Lebensabschnitt auch musikalisch in seinem Werk "Artikulation" wider. Diese Begegnungen versetzten dem Neuankömmling einen Schock, „vielleicht den schönsten” seines Lebens, wie Ligeti es später beschrieb. Zusammen mit dem 1961 erschienenen Orchesterwerk "Atmosphères", dem Werk um das es in unserem Interpretationsvergleich gehen soll, wurde Ligeti quasi über Nacht bekannt in der westlichen Hemisphäre. Sein Ruhm wuchs schlagartig.
Im Gegensatz zu den im Wesentlichen punktuellen, in Einzelereignisse zersplitterten Kompositionen der Darmstädter Schule arbeitete Ligeti in diesen Werken mit einem kontinuierlichen Klangstrom, in dem die einzelnen Stimmen untergehen. Auf die Gestaltung des Klanges, auf seine Dichte, sein Volumen, sein Ein- und Aussetzen richtete sich Ligetis kompositorisches Interesse auch in vielen späteren Stücken, in denen er allmählich aber auch wieder mit deutlicher hervortretenden melodischen Elementen arbeitete. Obwohl Ligeti seit „Atmosphères“ als ein führender Komponist der neuen Musik galt, musste er sich lange Zeit mit Stipendien, Kompositionsaufträgen und befristeten Dozenturen, unter anderem in Stockholm und an der Stanford University, durchschlagen.
Er zog nach Berlin wo er von 69-72 residierte und Mitglied der Berliner Akademie der Künste wurde. Als wäre er noch nicht genug herumgekommen zog es ihn 1972 in die USA, wo er als Composer in Residence an der Stanford Universität wirkte. Hier schreib er sein berühmtes Stück „San Francisco Polyphony“.
Ab 1973 lehrte er in Hamburg, wo er als Professor für Komposition an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater tätig war. Diesen Lehrstuhl hatte er bis 1989 inne und zog eine ganze Generation von Schülern in seinen Bann.
Die letzten Jahre seines Lebens zog es Ihn wieder nach Wien. Er verstarb am 12.06.2006 und ruht seitdem auf dem Wiener Zentralfriedhof. (Lebenslauf entnommen der offiziellen Website Gyoergy-Ligeti.de ergänzt um Details, die wir dem Programm der Berliner Festspiele 2017 entnommen haben, ohne dass dort ein(e) Autor(in) genannte worden wäre.)
György Ligeti war ein politischer Mensch. Als Überlebender des Holocaust war er ein kompromissloser Gegner von Diktaturen aller Ausprägungen. Vor seiner Emigration erlebte er den Stalinismus in Ungarn, der ihm auch als Künstler die Freiheit raubte. Im Westen angekommen, wurde er über die Jahre eine Art Übervater vieler ungarischer Komponisten. Diese schickten ihm ihre Partituren zu, und schätzten seine Ratschläge und Kommentare als Aussagen eines Weisen.
György Ligeti ist 2006 gestorben. In seinem Fall gilt die leidliche Tatsache, dass der Tod eines Schaffenden mit einer vorübergehenden Flaute seines Ansehens einhergeht, nicht: seine Musik wird weiterhin mit jener Selbstverständlichkeit programmiert, die einem Klassiker zusteht. (Entnommen einer kurzen Biografie des Universal Verlages, „seines“ Verlages, von Joyce Shintani)
Doch nun zum Werk der Betrachtung: Es war stark beeinflusst von Ligetis Erfahrungen mit der Elektronik, wie Ligeti selbst bemerkte: „Die ersten Vorstellungen zu den Orchesterstücken Apparitions und Atmosphères bestanden darin, das ganze Orchester aufzufächern, aufzuteilen in Einzelstimmen: nicht nur die Bläser, wie das schon früher der Fall war, sondern auch alle Streicher; es handelt sich also um ein totales Divisi. Die Einzelstimmen haben nicht die Funktion wie in der Klassischen Musik, sondern sie tauchen vollkommen unter in ein globales Gewebe, und die Wandlungen, die internen Veränderung dieses großen Netzwerkes sind wesentlich für die musikalische Form [...]. Die Möglichkeit, so etwas zu komponieren oder auf dieser Weise kompositorisch zu denken, resultiert vor allem aus den Erfahrungen im elektronischen Studio,“ so György Ligeti. Was daraus musikalisch resultierte, umschreibt Ligeti mit dem Ausdruck „Tonhaufen”; dabei bezieht er sich auf Xenakis’ „Metastasis“ und Stockhausens mittels serieller Techniken komponierter „Gruppen“. Die damals entstehende Kompositionsart wird heute „Klangflächenkomposition” genannt. Nochmals dazu Ligeti: „Das musikalische Geschehen manifestiert sich also nicht mehr auf der Ebene der Harmonik und Rhythmik, sondern auf der Ebene der klanglichen Netzstrukturen. Dadurch stieß ich in einen Bereich subtiler Sonoritäten vor, die einen Zwischenbereich zwischen Klängen und Geräuschen bilden. [...] Getragen wird das musikalische Geschehen von Klangfarbentransformationen.“ (Joyce Shintani)
In einem Interview wies der Komponist auf drei Vorbilder hin: das Vorspiel zu Wagners "Rheingold", das Vorspiel zu Bartóks "Der holzgeschnitzte Prinz" sowie ein Werk, das er vor 1956 noch gar nicht kannte: Schönbergs "Farben". Christoph Becher schreibt: "Atmosphères füllt den Konzertraum mit einer Musik, deren Klang sich bewegt, ohne dass in seinen Binnenstrukturen Hierarchien erkennbar wären. Kein Vorder- und Hintergrund, nicht Hauptstimme und Begleitung, nicht Melodie und Akkorde. …Ligeti hatte die Lieblingsmaterialien der seriellen Schule - Tonhöhen und -dauern - im Strom seines Orchesters ertränkt und stattdessen einen Parameter aus der zweiten Reihe inthronisiert: den Klang."
Und Niklas Rudolph schreibt dazu, zitiert von einer Website des SR: "Ein Magma des sich entwickelnden Klanges" nannte der Musikwissenschaftler Harald Kaufmann György Ligetis' bahnbrechendes Orchesterwerk "Atmosphères". 1961 uraufgeführt, hat es Komponisten gezeigt, wie im Zeitalter der elektronischen Musik das Orchester neue Wege gehen kann.
Ligeti selbst beschreibt im Programmheft der Uraufführung seine Vision: „In dieser (…) Form gibt es keine Ereignisse, (…) nur Zustände; keine Konturen, keine Gestalten, sondern nur den unbevölkerten (…) musikalischen Raum. Die Klangfarben, die eigentlichen Träger der Form, werden – von den musikalischen Gestalten gelöst – zu Eigenwerten.“
Wie eine Wolke breiten sie sich im Raum aus. Die Klänge schillern wie Öltropfen im Wasser oder flimmernde Luft über glühendem Asphalt. Die einzelnen Stimmen sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Sie geben sich auf zu Gunsten des Größeren, des Ganzen. In "Atmosphères" spielt das Orchester bis zu 87 unterschiedliche Stimmen, jede einzeln notiert und von einem unhörbaren Viervierteltakt zusammengehalten. Die Stimmen ändern ihre Lautstärke, treten zurück oder in den Vordergrund und verändern damit den Klang des Ganzen.
Es ist der Sommer 1961. Während die Sowjets den ersten Menschen ins All schießen und John F. Kennedy die Rassentrennung überwindet, wird Europa endgültig (?) geteilt. Am 22. Oktober wird "Atmosphères" bei den Donaueschinger Musiktagen zum ersten Mal gespielt. Vom Sinfonieorchester des SWF unter Hans Rosbaud. Das Publikum kann sich nicht halten und fordert sofort, dass es wiederholt wird – mit seinem Einsatz des vollen Orchesters und für das volle Orchester ist Ligeti ein Meilenstein gelungen.
Ligetis "Atmosphères" fällt in eine Zeit des technologischen Fortschritts und der Angst vor einem dritten Weltkrieg. In diesem Spannungsfeld entfernen Komponisten wie Olivier Messiaen, Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen das Pathos aus der Musik. In dem sie auch den leisesten Ton einem logischen System unterwerfen – wie die Parameter einer Programmiersprache. Und genau damit bricht "Atmosphères". Ligeti versucht darin, „das strukturelle kompositorische Denken, das das motivisch-thematisch ablöste, zu überwinden und dadurch eine neue Formvorstellung zu verwirklichen“.
Anfangs will Ligeti ein elektronisches Stück schreiben. Doch die frühen Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung reichen ihm nicht aus. Also erweitert er das klassische Sinfonieorchester nach seinen Vorstellungen.
„Kosmisch“ findet der Film-Regisseur Stanley Kubrick diese neue Formvorstellung und nutzt die Musik in seinem Weltraum-Epos „2001 - Odyssee im Weltraum“. Als Ligeti den Film sieht, ist er, so erzählt er rückblickend der Tageszeitung „Die Welt“, einigermaßen verblüfft: „Die Art, wie meine Musik verwendet wurde, fand ich wunderbar. Weniger wunderbar war, dass ich weder gefragt noch bezahlt wurde. Es sollte damals zum Prozess kommen, der Streitwert betrug 30 000 Dollar. Der Filmverleih hat geantwortet: ‚Sie werden ihren Prozess in Frankfurt, Wien und London gewinnen. In Los Angeles aber können wir ihn zwanzig Jahre dauern lassen. Wollen Sie lieber jetzt 1000 Dollar?‘ – Schließlich haben sie 3000 Dollar bezahlt.“
Und Susanne Benda schreibt zur „Filmmusik“ Ligetis in Fono Forum: „Die Erde ist wüst und leer. Zu hören ist eine Fläche aus Klang: ein zunächst aus 74 Einzeltönen zusammengeballter Cluster, der aus dem Pianissimo entsteht und sich über fast fünf Oktaven spannt, ohne dass sich Einzelnes mit den Ohren fassen ließe. Es beginnt wie eine zeitgenössische Übersetzung jener „Vorstellung des Chaos“, die Joseph Haydn in seinem Oratorium „Die Schöpfung“ dem packendsten C-Dur-Urknall der Musikgeschichte voranstellte. Noch zwei weitere Male hat Kubrick seinem Soundtrack Teile aus Ligetis Orchesterwerk einverleibt; das eine Mal nochmals zu Schwarzfilm, das andere bei einer Sequenz, die den Astronauten Bowman in einem Rausch von Farben ins Universum rasen lässt.“ Durch den Film wurde das Stück zu einem Welthit, wenn man so will. Auch in „2001“ folgt auf das Chaos ein strahlender C-Dur Akkord, nämlich jener aus Richard Strauss´ “Also sprach Zarathustra“. Die Filmmusik ist ein Pasticcio und der Regisseur hat nicht nur präzise erspürt, welche Bilder und Emotionen die Kombination von Ligeti und Strauss bei den Zuschauern evozieren würde, sondern auch, dass es in „Atmosphères“ um weit mehr geht als um bloßen Klang. Nämlich um eine Materie, die erst amorph wirkt und dann (von einem Schöpfer-Komponisten) gestaltet wird. Durchgeknetet und in immer neue Formen gepresst.
Susanne Benda schreibt weiter: „Es gibt vieles, was das Stück besonders macht. Besonders ist zum Beispiel die Art, mit der sich Ligeti damit dezidiert vom seriellen Komponieren abwendet, das seinerzeit noch als Avantgarde galt. In den gesellschaftlichen Umbrüchen geht es ihm um nichts weniger als eine doppelte Demokratisierung: jene der Musik, die keine Hierarchien mehr setzt, und jene der Hörerschaft, der ein leichtes Verstehen möglich sein soll. Anders als etwa John Cage, den die Kritik am Serialismus zu aleatorischer Musik brachte, setzt Ligeti in „Atmosphères“ an die Stelle von streng durchorganisierten Parametern wie Tondauern, Tonhöhe, Tonlagen und Lautstärke einen Klang, der sich mäandernd verändert.
Dieser Klang wiederum enthält mindestens zwei Paradoxa. Das erste: Der Eindruck des Statischen entsteht durch Bewegung. Das Stück lebt von zahllosen kleinen Aktionen und unterschiedlichen Bewegungsrichtungen, die sich immer wieder kreuzen und überlagern. Dieses kleinteilige Wuseln und Wühlen nimmt man auf der Mikroebene wahr. Zoomt man sich hingegen weg vom Detail, entsteht vor den Ohren eine gigantische Klangplastik. Hochhäuser aus Tönen, eine Skyline aus Klängen. Damit zusammenhängend erlebt man als zweites Paradoxon der „Atmosphères“, dass die hochformatige Partitur mit ihren bis zu 87 Stimmsystemen zwar beim Lesen hoch komplex anmutet, aber ziemlich einfach zu hören ist – obwohl sich weder Rhythmus noch Melodie ausmachen lassen. Man gerät in einen Sog der an- und abschwellenden Cluster-Klangwogen. Diese Tatsache hat wesentlich zur Popularität des Stückes beigetragen.
„Alle Stimmen sollen zu einer Klangwolke verschmelzen“, schreibt György Ligeti, stark beeinflusst auch von ostasiatischer Musik, selbst über seinen Neunminüter, wobei die Bandbreite von knapp sieben für die kürzeste bis über 13 Minuten für die längste Einspielung reicht. Die Gesamtform des Stückes sei „wie ein einziger, weit gespannter Bogen zu realisieren, die einzelnen Abschnitte schmelzen zusammen und werden dem großen Bogen untergeordnet.“. Dieser intendierte schwebende Charakter, der in den Orchestervorspielen zu Wagners „Rheingold“ und „Lohengrin“ Vorbilder hat (und andere, sie oben), stellt sich allerdings nur ein, wenn die Stimmeinsätze unmerklich erfolgen, wie aus dem Nichts. Es gibt in der Partitur ein paar Ausnahmen von der Regel, zum Beispiel bei dem markanten plötzlichen Absturz von höchster Höhe (Violinen und (Piccolo)flöten) bis in tiefste Kontrabass-Tiefen etwa in der Mitte des Stückes. Außerdem hat Ligeti in „Atmosphères“ die Idee eines fließenden Klanges, der vollkommen frei ist von allen Kausalitätszusammenhängen, in der Praxis nicht durchhalten können. Immer wieder entdeckt man Konstruktion und Folgerichtigkeit – nicht nur bei dem 56-stimmigen Kanon, der auf den erwähnten Absturz erfolgt, sondern auch in der Entwicklung vom nebulösen Beginn bis hin zur Skelettierung des Klangs am Ende, der im kaum mehr hörbaren verebbt: erst mit leisesten Berührungen von Jazzbesen und Tüchern auf Klaviersaiten, dann mit der Art Schatten-Nachhall von Tuba und Posaunen in tiefsten Lagen, abschließend dann wieder das Streichen über die Klaviersaiten, nun mit weicheren Tüchern.
Auf dem Weg, den Ligeti mit „Atmosphères“ eingeschlagen hatte, konnte er nicht weitergehen. Jedes weitere Werk in ähnlicher Machart hätte gewirkt wie eine Stilkopie, „Lontano“ vielleicht einmal ausgenommen. So stärkte der Komponist in „Melodien für Orchester“ das Profil und die Bedeutung der Einzellinien, setzte dann in „San Francisco Polyphony“ auf ausgefeilte Polyfonie und Durchhörbarkeit. Die Klangsprache von „Atmosphères“ blieb eine Sackgasse – allerdings eine der schönsten und interessantesten, die unsere Musikgeschichte zu bieten hat.
Die Zeitmessung haben wir übrigens bei den jeweiligen Aufnahmen beendet, wenn der letzte Ton (übrigens erzeugt durch herumreiben mit einem weichen Tuch nachdem zuvor eine weichere Bürste oder ein Bimsstein an einer Klaviersaite herhalten musste) verklungen war. Das war mitunter gar nicht so leicht zu bestimmen, da aus einem pppp noch ein morendo zu erfolgen hat. Da bräuchte man Ohren wie ein Luchs. Ligeti selbst hat dann am Ende seiner Partitur zusätzlich noch vier Takte angehängt, in denen nichts mehr notiert ist. Streng genommen gehört diese Stille noch zum Werk dazu. Sie ist allerdings nicht von der Stille zu unterscheiden, die mitunter verbleibt bis Applaus des Publikums einsetzt oder der nächste Track der CD beginnt. Auf diese Art, dem Anhalten der Uhr nach dem letzten hörbaren Ton, sollten die Dauern der verschiedenen Darbietungen besser vergleichbar sein.
Die Tempoforderungen Ligetis in seiner Partitur sind flexibel, so steht da am Beginn Viertelnote = 40 oder langsamer, wie auch am letzten Zeitabschnitt (langsamer gibt das Metronom gar nicht mehr her, 40 stellt die Grenze dar) oder unterwegs auch mal Viertelnote = 60 oder langsamer. Das lässt Spielräume für die Interpreten, zumindest für die, die es langsamer angehen wollen (Gabriel Feltz), nicht aber für die, die der Hafer sticht (die sind häufiger anzutreffen).
zusammengestellt bis 18.6.2023

György Ligeti 1964 bei einem Besuch in Finnland. Foto von Kari Rydman.
Vergleichende Rezensionen der gesichteten Aufnahmen:
Einspielungen realisiert auf käuflichem Tonträger:
5
Claudio Abbado
Wiener Philharmoniker
DG
1988, live
9:02
Die Neue Musik ist nicht unbedingt die Domäne der Wiener Philharmoniker. Das hindert sie in diesem Fall jedoch nicht daran, ihre herausragende Klangkultur bei dieser, sagen wir einmal von der Mathematik ebenso inspirierten Musik wie von der frühen elektronischen Musik und verschiedener Romantiker (siehe Werkhintergrund), voll mit einzubringen. In der Darbietung Abbados hört man den geschichtlichen Rahmen sozusagen mit. Die „Dolcissimo“-Spielweise zu Beginn (die Anweisung wiederholt sich im weiteren Verlauf noch häufiger) kann man im klangfarblich warm-gesättigten Spiel des Wiener Orchesters am besten wiedererkennen. Das pp zu Beginn ist auch als solches zu hören. Andere lassen das Orchester zum Teil erheblich lauter beginnen, damit ein Diminuendo bis zum pppp deutlicher wird. Das war aber nicht so gemeint, Ligeti meinte zumeist unmerkliche Übergänge. Beispiele dieser Art, die ein genaues und verständnisvolles Eingehen des Dirigenten Abbado belegen, gibt es viele. Der „Insektenschwarm“ (so nennen wie die Stelle ab T. 52) wirkt ungemein plastisch, die „Nebelhörner“ das ffff der Hörner ab T. 62 (ebenfalls ein „Spitzname“ für diese Stelle von uns, übrigens eine Stelle die bei Bernstein besonders bedrohlich wirkt), ebenfalls. Die Stelle, bei der das gesamte Blech Luft durch die Instrumente schickt, ohne dass sich ein typischer Bläserklang ergibt, haben wir mit „Heißer Luft“ bezeichnet. Da ist wiederum ein pppp gefragt, viele lassen es da deutlich und zu auffällig rauschen. Bei einem vierfachen Piano sollte es jedoch keine Diskussionen geben und klar sein, dass es nicht mf oder f zu klingen hat. Abbado geht auf jede Anweisung akribisch ein, ohne einen bestimmten Ausdruck damit zu beabsichtigen, oder eine konkrete Gestalt entstehen zu lassen. Er stellt amorphe Gebilde dar, die ihre Gestalt und Farbe variieren oder mäandern, gestaltlos aber doch farbiger wie gemeinhin. Er umschifft evtl. beim Hörenden aufkommendes Desinteresse mit Eleganz ohne dass dabei ein Wischiwaschi droht. Er bringt durch den schönen, sagen wir einmal „fluoreszierenden“ Klang der Wiener eine hohe Klangsinnlichkeit mit ein, die unserer Einschätzung nach dem Werk guttut. Es ist uns keine Äußerung Ligetis untergekommen, bei der er sich gegen schön klingendes Orchesterspiel verwahrt hätte. Allerdings kommen die Blechbläser bei ihrem ff schon deutlich heraus, durchbrechen somit die Forderung nach unmerklichen Übergängen. Das machen andere aber auch, in hohem Maß Ernest Bour (dessen Interpretation Ligeti seltsamerweise vor allen anderen bevorzugte) und vor allem Bernstein. Seltsamerweise deshalb, weil auch Bour mehr auf Deutlichkeit drängt als Ligeti es eigentlich wollte, wenn man seinen Worten (in Hintergrund zu lesen) glauben schenkt. Theoretische Formulierung und die Wertschätzung plastischen Musizierens sind anscheinend doch verschiedene Dinge. Einzelne Bläser sind jedoch bei Abbado nicht zu hören, es klingt jeweils das Klangkonglomerat der Gruppe und das soll ja auch so sein.
Der „Absturz“, so nennen wir die Stelle bei G, genau bei T. 40, durchbricht am deutlichsten Ligetis eigentlichen Auftrag der unmerklichen Veränderung. Hier prallt ein ffff (Ligeti liebt anscheinend das Vierfache von allem) der vier Flöten direkt auf das ffff der Bässe. Ein stärkerer Kontrast ist kaum vorstellbar. In der Atmosphäre geht es ja auch nicht immer sanft und leicht zu. Was man evtl. bemängeln könnte ist, dass das ff des Blechs lauter ist als das ff der Streicher, obwohl es den Streichern nicht an Stimmen mangelt: 14 erste Geigen, 14 zweite Geigen, 10 Viola, 10 Celli, 8 Bässe. Und jedes Instrument hat eine eigene Stimme. Das ist basisdemokratisch gedacht. Bei Nott gelingt die Äquilibristik in der Lautstärke von Blech und Streichern noch etwas besser. Die Klangfarben sind jedoch blasser.
Bei Abbado gibt es sehr atmosphärisch und klangsinnlich wirkende “Bewegungsfarben“ (ein Begriff von Ligeti selbst). Wunderbar changierend und üppig. Deutlich wärmere Farben als beim nordisch kühleren aber sehr genauen Hannu Lintu.
Der Klang der Aufnahme hat bei diesem Stück keinen geringen Anteil am Erfolg der Wirkung. Er ist bei Abbado sehr transparent, bildet aber dennoch ein Ganzes, bei enormer Farbigkeit, herausragender Staffelung und weiter dynamischer Expansion. Es klingt sehr plastisch und voll. Die Live-Aufnahme ist nicht ganz von Publikumsgeräuschen unbehelligt. Man hat aber den Eindruck, dass sich das Publikum um große Zurückhaltung bemüht (nicht ganz zu unterdrückende leise gemachte Huster). In dieser Aufnahme schwingt deutlich fühlbar viel angeregte Luft aus dem Konzertsaal mit, nicht trocken aber auch nicht hallig sondern füllig, körperhaft und brillant. Damit haben die Techniker ihre Aufgaben mit Auszeichnung erledigt.
5
Jonathan Nott
Berliner Philharmoniker
Teldec
2001, live
8:48
Zu Beginn lässt Nott lauter spielen als Abbado, das ist wahrlich kein pp, was wir da hören. Anscheinend möchte er den Rückgang der Lautstärke bis zum pppp sehr deutlich machen. Warum hat Ligeti dann aber nicht einen Übergang vom f zum pppp geschrieben? Nott arbeitet viel mit weit ausladenden Crescendi, ohne dabei jedoch wie Bernstein ins Dramatisieren zu kommen, denn bei Bernstein kommt noch ein dramatisches Feuer im Tempo hinzu, davor später mehr. Einzelne Violinstimmen kommen mitunter deutlicher hervor als bei Abbado. Der Absturz bei G passiert bei Nott bereits nach 3:43 Minuten. Die Partitur gibt 3:51 vor. Die Bässe rumoren dann sehr stark, aber ob das tatsächlich „Tutta forza“ war, wie Ligeti es fordert, lassen wir einmal dahingestellt. Nott möchte sie nicht über Gebühr herausdonnern lassen, was nicht zuletzt für seinen guten Geschmack spricht und dafür, dass er den „Kontinnum“-Gedanken Ligetis beherzigt.
Besonders gelungen bei der Einspielung ist jedoch das schillernde Gewebe; besonders befördert durch den seidigen Klang der Berliner Musiker. Man spielt noch unmerklicher im Fortgang der Bewegungen, stets exquisit und fast so klangfarbensatt wie die Wiener. Man ist zwar durchaus an Entwicklungsverläufen interessiert und arbeitet sie auch heraus, es gelingt aber nuancierter und unmerklicher als bei älteren Dirigenten wie Rosbaud, Bour oder Bernstein. Völlig untheatralisch jedoch ohne eine gewisse Dringlichkeit völlig außer Acht zu lassen, könnte man auch sagen. Insgesamt besonders atmosphärisch und die Wurzeln der Musik in der Spätromantik und vielleicht auch im Impressionismus (Klangzauber) nicht ignorierend.
Der Klang ist sehr klar, plastisch und sonor, dynamisch jedoch weniger ausgefahren als bei Bernstein und Bour. Dezent und gekonnt.
5
Hannu Lintu
Finnisches Radio-Sinfonieorchester Helsinki
Ondine
2012
9:38
Diese Einspielung besticht durch ihre präzisen Einsätze und das exakte Spiel überhaupt. Eine besondere „kühle Klarheit“ resultiert daraus. Die Dynamik wird genau eingehalten (nicht übersteigert, nicht vermindert); Die Übergänge sind sanft. Ganz hervorragend gelungen ist die allmähliche Verschlankung des Klanges bis zum ffff de Flöten in T. 39 und die sehr gut konturierten Bässe beim „Tutta Forza“ ab T. 40. Da steckt sicher eine intensive akribische Probenarbeit dahinter. Die geäußerten Wünsche des Komponisten werden in dieser Einspielung möglicher Weise am besten eingehalten. In dieser eher nordisch-kühlen jedoch besonders klaren Atmosphäre wird die Konstruktion der Komposition besonders in den Vordergrund gestellt.
Der Klang wirkt so auch erheblich schlanker als bei Abbado, ist jedoch ebenfalls plastisch und sehr offen. Dynamik und Staffelung des Orchesters sind gut. Wir hatten den Eindruck, dass es ein wenig linkslastig klingt. Transparenz und Unmittelbarkeit des Zugriffs erreichen nicht das Niveau der Einspielungen von Abbado und Bour, was im Falle dieser Komposition nicht unbedingt als Nachteil zu werten wäre.
4-5
Ernest Bour
Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden Baden
Wergo-Polydor
1966
8:34
Dass in der Partitur bei jedem Buchstaben auch die Angabe der bisher vergangenen Zeit vermerkt ist, haben wir noch gar nicht angesprochen. Ob die Angaben aus einem theoretischen Wert (mit Metronom ermittelt) resultieren oder nachträglich anhand der Einspielung von Ernest Bour ergänzt wurden, wissen wir nicht. Bours Einspielung könnte der Taktgeber für die Zeitermittlung gewesen sein. Er „erwischt“ die Marken sekundengenau.
Dies ist bereits die zweite Einspielung des inzwischen wegfusionierten Orchesters, das man nicht zu Unrecht die „Perle des Südwestens“ genannt hat. Eine dritte mit Francois Xavier Roth soll auch noch folgen, sie ist jedoch nicht unbedingt für den CD-Markt bestimmt gewesen. Der Verlust dieses Orchesters muss noch heute jeden Musikliebenden schmerzen. Bei zeitgenössischer Musik hatte es einen Nimbus zu verteidigen. Die erste Einspielung fand übrigens mit Hans Rosbaud gleich bei der Uraufführung statt. Bour und Rosbaud sind sekundengenau gleich lang. Gehen aber, wenn man so sagen darf, das Werk über verschiedene Wege, um sich am Ende wieder zu treffen. Exakt zum in der Partitur festgelegten Zeitablauf bei 8:34.
Die besten neueren Einspielungen sind unterdessen noch ein klein wenig präziser und glatter geworden. Bei Bour wirken die „Atmosphären“ jedoch sehr plastisch in Szene gesetzt und energetisch aufgeladen. Ligeti befand mehrmals, wie man lesen kann, dies sei die Beste aller ihm bekannten Einspielungen. Wie bereits bei Abbado erwähnt verblüfft dieses Urteil heute, denn das „unmerkliche Einsetzen“ der Einzelstimmen, von Ligeti als essentiell gefordert, findet kaum statt. In der zum Teil schroffen Akzentsetzung geht nur Leonard Bernstein noch ein kleines Stück weiter. Das Orchester klingt sehr reichhaltig und offen, der Gesamtklang schillernd, ganz anders, wie wir es von zeitgenössischen Rundfunkaufnahmen des SWF (und anderen Anstalten) zu jener Zeit gewohnt sind.
Besonders die Einsätze der Bläser kommen sehr deutlich heraus, auch vor schrillen Grenzübertritten wird nicht zurückgeschreckt. Das gilt analog auch für die donnernden Bässe bei Takt 40 (Zeit 3:51) beim „Absturz“ aus den höchsten Flötenhöhen. Das Orchester spielt sein ganzes Können und Verständnis im Umgang mit zeitgenössischer Musik voll aus, es brachte nicht nur in den von Hans Rosbaud mitbegründeten Tagen Neuer Musik in Donaueschingen ein neues Werk nach dem anderen heraus. Unsere Einspielung befand sich übrigens auf einer CD der Filmmusik des Films von Stanley Kubrick „2001, Odyssee im Weltraum.“ In hervorragender Qualität. Es wurden auf dieser CD bis auf eine Ausnahme die Originaleinspielungen verwendet die auch Kubrick auswählte. Lediglich die Karajan-Aufnahme von „Also sprach Zarathustra“ (Decca mit den Wienern, die Kubrick bevorzugte) wurde durch die Einspielung Böhms mit den Berlinern ausgetauscht.
Bezüglich des Zeitablaufs hielt sich niemand genauer an die Partitur als Bour. Er könnte der Taktgeber gewesen sein. Die Aufnahme ist daher auch zum Mitlesen der schwierigen Partitur bestens geeignet. Der Klang der Einspielung ist enorm plastisch und sehr dynamisch.
4-5
Leonard Bernstein
New York Philharmonic
CBS-Sony
1964
6:48
Leonard Bernstein machte seine Aufnahme bereits, als die Welt noch nichts von Kubricks Film wusste, das Stück also noch zur Avantgarde zählte und man noch nicht „hypemäßig“ von ihm sprach.
Das pp zu Beginn und alle weiteren Lautstärkeangaben sind in Richtung lauter verschoben. Dies allerdings konsequent und proportional. Die Plastizität, Transparenz und Deutlichkeit profitieren deutlich. Ähnlich der Einspielung mit Ernest Bour kommen die Einsätze alles andere als unmerklich, sondern deutlich. Der Ablauf wird durch das straffe Zeitmaß zusätzlich weiter dramatisiert. Alles wirkt nun viel deutlicher gegliedert. Die Partitur wird durchleuchtet und aufgelichtet. Hier könnte sogar ein langsamer Satz Mahlers eine Vorbildfunktion gehabt haben (was unseres Wissens nicht zutrifft). Aber auch eine (sehr gut gemachte) Filmmusik könnte man bereits vor Kubrick mithören. Jedenfalls hat Bernstein die Atmosphäre ganz schön unter Strom gesetzt. Entladungen inklusive. Die Musik ist gegenüber den landläufigen heutigen Darbietungen kaum mehr wiederzuerkennen. Bernstein macht auch vor dem Schrillen, dem dramatisch Grollenden nicht halt. Das wirkt viel aufgeregter als sonst und man spürt auch wie die Musik nun plötzlich einem Ende zustrebt. Veränderungen in der Musik werden auf ihren Ausdruckscharakter hin zugespitzt. Und einen Finalcharakter, der jetzt spürbar ist, wie wir ihn ähnlich im klassischen und romantischen Repertoire kennen, hatte Ligeti wahrscheinlich bei der Komposition ebenfalls nicht im Sinn. Von der kompositorischen Faktur kört man nun viel mehr, sogar mehr als bei den deutlich neueren Aufnahmen Abbados, Lintus oder Afkams. Sie wird offengelegt. Die Musik ist spannend und könnte mit etwas Fantasie nun auch zu einem Horrorstreifen passen. Die Musik solle keine Konturen und Gestalten haben. Kann sie aber sehr wohl, wenn man diese nervig-gespannte Einspielung hört. Es ist die mit Abstand schnellste Gangart, sehr reizvoll, aber sicher erneut weniger im Sinne des Komponisten. Übrigens ist zwar der Spielzeit nach die Wiener Aufnahme vom ORF mit Zubin Mehta noch schneller, der lässt aber eine ordentliche Menge an „Takten“ einfach unter das Dirigentenpult fallen, vielleicht in der Hoffnung, dass es nicht auffällt. In der Dramaturgie kommt er nicht ansatzweise an Bernstein heran.
Der Klang bietet ein bestens gestaffeltes Orchester, fast holografisch abgebildet und sehr deutlich. Dynamisch geht man an die Grenzen des damals unverzerrt Machbaren heran, aber nicht darüber hinaus. Die Aufnahmetechniker haben eine sehr gute Arbeit abgeliefert.
4-5
David Afkam
Gustav-Mahler-Jugendorchester
Orfeo
2010, live
8:48
Diese Einspielung hat der ORF in Salzburg mitgeschnitten. Der damals noch sehr junge Dirigent (27) ist derzeit Chefdirigent des Spanischen Nationalorchesters in Madrid. Sehr gut gelingt dem jungen Team das sehr leise pp und geradezu fantastisch leise das pppp. Da wäre selbst die berühmte fallende Stecknadel eine Eruption gewesen. Darin übertrumpfen (oder treffender unterbieten) sie sogar noch die Wiener unter Abbados Leitung. Der Klang wirkt jedoch weniger farbig und weniger sinnlich, einige Einsätze kommen sehr schroff (ob das nicht schon dem Gebot der unmerklichen Übergänge zuwiderläuft?), das Spiel macht einen ziemlich souveränen Eindruck um nicht zu schreiben „es wird aus dem Ärmel geschüttelt“. Jedenfalls hat man auch sicher intensiver geprobt, als ein Profiorchester mit seinen festgelegten Diensten es zeitlich hinbekommen würde. Man wird den Eindruck nicht los, dass man die Klangerzeugung mit viel Spaß vorangetrieben hat. Teilweise geht man ziemlich konkret zur Sache, was umgekehrt den Schluss zulässt, die Gebote der „Camouflage“ nicht hinreichend beachtet zu haben. Da befindet man sich jedoch mit Bernstein und Bour in einer guten Tradition.
Der Klang der Aufnahme zeigt eine gute „Raumausleuchtung“, gibt das Orchester gut aufgefächert wieder, lässt aber etwas Sinnlichkeit vermissen.
4-5
Hans Rosbaud
Sinfonieorchester des SWF Baden Baden
Scary Music, Milestones of a Legend, 99 Classical Composers, Modern Classics
1961, live
8:34
MONO Wahrscheinlich wegen des hohen Alters der Einspielung und des damit einhergehenden Verlustes des Copyrights gibt es die Einspielung der Uraufführung mit Hans Rosbaud mittlerweile unter vielen Namen zu streamen. Große klanglichen Unterschiede gibt es dabei nicht. Den bewusst gleichförmigen Duktus beherzigt die „Ureinspielung“ noch ganz besonders ausgeprägt. Auch die Clusterstruktur der Klänge kommt hier in schroffer Ausprägung. Der Dynamikbereich wird, trotz des Alters und der Mono-Technik sehr weit ausgereizt. Dazu gesellt sich ein auffallend heller (also reich an Höhen oder sogar Obertönen) Klang, den das Orchester unter Bour nur noch reduziert aufweist. Vielleicht sind nur andere Mikros für die Veränderung maßgebend. Dieser Klang interstreicht die Herkunft der Komposition aus der Beschäftigung oder dem Experimentieren mit elektronischen Klängen. Der Absturz erfolgt bei Rosbaud übrigens bei 3:34 Minuten, also deutlich früher als bei Bour (bei gleicher Gesamtdauer). Das Blech klingt besonders heftig und ungeschönt (zwischen Takt 62 – 65). Die Komposition wirkt bei Bour bereits verfeinert, bei Rosbaud noch gestalthafter. Die Klänge, die von der Bearbeitung der Klaviersaiten mit diversen Gegenständen herrührt, ist in dieser Einspielung am deutlichsten.
Diese Einspielung wirkt bereits sehr überzeugend realisiert. Kein Wunder, dass die Komposition bei der Uraufführung aufgrund der Publikumsreaktion gleich zweimal gespielt werden musste. Leider ist die Klangsinnlichkeit durch den robusten, trockenen Mono-Klang reduziert, was dem Werk eine für uns trostlos wirkende Aura verleiht. Der trockene und ein wenig blasse Klang verstärkt diesen Eindruck noch weiter.
4
Vladimir Jurowski
London Philharmonic Orchestra
LPO Live
2017, live
8:53
Bei Herrn Jurowski wird das pppp bis zur Unhörbarkeit abgeschwächt, was eigentlich nur konsequent ist. Das ff hingegen wirkt bereits sehr stark. Vor dem ffff das da noch folgen soll, sollte man die Ohren in Sicherheit bringen. Oder man muss nachregulieren. Und das am besten ständig. Jurowski und sein Orchester versuchen vieles hörbar zu machen. Das gelingt jedoch nur schlecht, weil man ständig zum Regler rennen muss, wenn man keine Fernbedienung hat. Aber egal die Absicht zählt. Das ffff der Flöten bei T. 39 ist jedenfalls sagenhaft schrill. Der „Absturz“ erfolgt bei T. 40 und die gemessene Zeit läuft dann gerade bei 3:50 vorbei. 3:51 wäre der Wert der Partitur (und von Ernest Bour). Das vom LPO angerührte Klang-Amalgam wirkt schillernd. „Bienenschwarm“ und „Nebelhörner“ wirken plastisch und werden hellhörig als solche herausgearbeitet. Jurowski scheint vom von Ligeti beabsichtigten Sfumato nicht überzeugt. Im Gegenteil, er bringt viele Details zu Gehör, die dann in unserer Fantasie „Gestalt“ annehmen. Im Gegensatz zu Bernstein spitzt er sie jedoch nicht noch zusätzlich dramatisch zu.
Unser Ratschlag: Lieber auf das pppp des LPO verzichten (man hört dann gar nichts), als sich das Gehör im ffff zu verderben. Dann geht es auch ohne Gymnastik beim Hören und man bekommt das Meiste der Komposition sozusagen auf dem Tablett serviert.
4
Leon Botstein
American Symphony Orchestra, New York
ASO (Eigenlabel des Orchesters), nur im Internet
2010, live
7:39
Das pppp klingt in dieser Einspielung im Gegensatz zur vorherigen schon recht laut, zudem schlägt der Dirigent ein flottes Tempo an. Die Einsätze der Gruppen sind meist gut zu verfolgen. Das würde man sonst begrüßen, in dieser Komposition sollten sie jedoch eigentlich unmerklich erfolgen. Die hohe Dynamik der Live-Aufnahme gefällt. Dies ist übrigens ein Charakteristikum dieses Labels. Das Zusammenspiel ist dieses Mal weniger präzise. Es sind daher mitunter einzelne der zahllosen Stimmen herauszuhören. Der „Absturz“ erfolgt bei Botstein bereits bei 3:17. Der Gestus der Musik wirkt unruhig, fast schon impulsiv. Es klingt schon mehr nach einem Actionfilm als nach „2001“. Die Aufnahme lässt an die Einspielung Bernsteins zurückdenken, die Botstein wahrscheinlich nicht unbekannt sein dürfte. Das Blasen in die Blechblasinstrumente ohne Tonerzeugung, von uns als „Heiße Luft“ bezeichnet, ist bei Botstein viel zu laut geraten, es sollte nur pppp gespielt sein. Die Einspielung wirkt ziemlich spannend. Für uns wäre das nicht unangemessen.
Der Klang ist (wieder einmal bei diesem Label) sehr präsent und offen und wie immer sehr präsent und plastisch. Klanglich klingt die Komposition sehr ansprechend. Die Geräusche des Umblätterns des Notenmaterials (jeder Musiker hat anderes vor sich liegen) ist ausgesprochen häufig und es kommt aus allen Richtungen. Es ist sehr laut mitzuverfolgen. Man ist hautnah dran. Nur ganz wenige Huster.
4
Thomas Kalb
Philharmonisches Orchester Heidelberg
Antès
1999
7:30
Thonas Kalbs Zugriff auf die Komposition ist weniger auf ein atmosphärisches Sich-wirken-lassen aus. Es geht bereits mit einem wenig sensiblen mf zu Beginn los (sollte pp sein). Das Wabern und Weben in den Strukturen der Streicher wirkt teilweise weniger filigran. Der „Absturz“ erfolgt bei Kalb bereits nach 3:03 Minuten. Die “Nebelhornstelle“ wirkt besonders bedrohlich, man wartet förmlich schon auf einen Crash von Ozeanriesen. Das changierende, schillernde, teilweise auch sehr zarte Wabern kommt bei dem handfesten Zugriff etwas zu kurz.
Der Klang ist ziemlich ortungsscharf, plastisch und die Staffelung des Orchesters geht ganz gut in die Tiefe des Raums.
4
Gabriel Feltz
Stuttgarter Philharmoniker
Dreyer-Gaido
2005
12:54
Diese Einspielung ist in Stuttgart, jedoch mit Unterstützung von Radio Bremen (!) entstanden. Herr Feltz macht von der Freiheit im Gebrauch der Tempoangaben weidlich Gebrauch (z.B. Viertel Note = 40 oder langsamer). Auch er lässt das pp gleich zu Beginn schon recht laut klingen, um es dann bei pppp angekommen deutlich zurücknehmen zu können. Das Orchester und er setzen den gebotenen Mischklang sehr gut um. Der dynamische Umfang ist ordentlich, der Vortrag erscheint gefühlvoller als der Bours. Der langsame Anstieg bis zu den höchsten Flötentönen will erkämpft werden und dauert bei Feltz sehr lange. Der Absturz erfolgt erst bei 5:06 Minuten. Da ist Bernstein schon fast am Ende seiner Atmosphären-Erkundung angekommen. Gut gespielt ist das auch in Stuttgart. Den Flöten mangelt es nicht an schriller Entäußerung. Das Grollen der Bässe hat es in sich (beides ffff).
Insgesamt wirkt für unsere Ohren die Diktion des Orchesters etwas breit und in den leiseren Passagen nicht so fein wie bei Abbado, Bernstein oder Bour und weniger anschaulich (obgleich letzteres im Fall „Atmosphères“ kein Manko sein sollte). Auch im Fall der „heißen Luft“. Da denkt man keinesfalls an Ozeandampfer, sondern an gar nichts, was Ligeti eher vorgeschwebt haben mag, Wobei Luft ja eigentlich nicht Nichts ist. Oder sagen wir besser: es stellen sich keine unmittelbaren Assoziationen ein. Insgesamt ist das Werk gegenüber den „Klassikern“ Rosbaud, Bernstein oder Bour nicht nur wegen der Dehnung im Zeitmaß kaum wiederzuerkennen.
Wir hören eine weites Orchesterhalbrund. Der Klang ist dynamisch, jedoch weit weniger farbig als bei Abbado, Bernstein oder Bour. Es lag der CD noch eine weitere Scheibe der Aufnahme bei, im DTS-Mehrkanalformat, wie wir es aus dem Kino kennen.
Radio-Mittschnitte, unseres Wissens bisher unveröffentlicht:
5
Francois-Xavier Roth
Berliner Philharmoniker
RBB, bisher unveröffentlicht
2018, live
8:15
FXR, wie der Dirigent mittlerweile vielerorts genannt wird, gerade im „abkürzungswütigen“ Frankreich, ist der einzige Dirigent, von dem uns zwei Aufnahmen vorliegen. Diesem Berliner Mitschnitt aus der Philharmonie ging 2016 ein Live-Mitschnitt mit dem Sinfonieorchester des SWR Baden Baden und Freiburg aus Freiburg voraus. In Berlin wurde das Werk zusammen mit Ligetis „Lontano“ zwischen den Sätzen von Debussys „Images“ eingebettet. In dieser Darbietungsform konnte man den Bezügen des Werkes zu Debussys Impressionismus prima nachspüren.
Die 2018er Aufnahme Roths klingt noch etwas weicher, runder und fülliger als die 2012 entstandene mit dem damaligen Chef des Orchesters, Simon Rattle. Rattle lies übrigens ebenfalls attacca das Vorspiel zum 1. Akt aus „Lohengrin“ folgen. Dem Vorbild, das Ligeti expressis verbis nannte. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der RBB mittlerweile das Komprimierungsverfahren gewechselt hat. Nun sendet man in AAC, zuvor im MPEG 2-Format, was ohnehin schon eine kleine Verbesserung in Richtung weicheren, fülligeren Klang bedeutet. Dem Rundfunk geht es dabei aber zuerst darum, die Datenrate möglichst klein zu halten, damit weniger Kosten zum Beispiel bei der Nutzung des Satelliten anfallen. So bleibt mehr für den Intendanten übrig. Es ist selbstverständlich begrüßenswert, wenn damit eine klangliche Verbesserung einhergeht und das ist beim RBB gelungen, da die Komprimierung zuvor hörbar sehr dürftig war.
In diesem Fall klingt das Orchester also noch schillernder, sagen wir auch hier fluoreszierender dazu, um das innere Leuchten das nach außen zu dringen scheint noch besser auszudrücken. Der „Absturz“ klingt noch etwas dramatischer, die Bässe danach noch etwas plastischer. Überhaupt hat man sich anscheinend gründlich mit der Tonsprache Ligetis auseinandergesetzt (bei einem insgesamt sehr komplexen Konzertprogramm). Der gesamte Klang ist noch plastischer und geschmeidiger, was auch auf eine erfolgreiche Probenarbeit hindeutet. In diesem Fall folgte im Konzert auf die „Atmosphères“ Debussys „Iberia“.
5
Sir Simon Rattle
Berliner Philharmoniker
RBB, bisher unveröffentlicht
2012, live
8:45
Wie bereits erwähnt lassen die Philharmoniker 2012 auf „Atmosphères“ direkt das Lohengrin-Vorspiel folgen, eine naheliegende Kombination, die 2018 auch Christoph von Dohnanyi bei der Wiener Philharmonikern spielen ließ. Eine Aufnahme davon ist im Netz (gegen Entgeltzahlung nach vorheriger Registrierung) abrufbar. Wir verzichteten auf dieses Angebot.
Rattle bietet mit dem Orchester beste Übergänge, ein pppp so leise wie sonst nie (außer bei Jurowski, bei dem man es aber gar nicht mehr hört), aber trotzdem mit klanglicher Substanz versehen. Das Orchester hat es in der Disziplin „zartestes Wabern“ zur Meisterschaft gebracht. Der „Absturz“ erfolgt bei Rattle bei 3:35. Irritierend ist jedoch, dass Rattle die vier Flöten zu leise spielen lässt, an das geforderte ffff kommen sie bei weitem nicht heran. Ob da Rücksicht auf die maximal erlaubte Lärmemission am Arbeitsplatz bei schrillen Tönen genommen wurde? Auch das ffff der nachfolgenden Bässe wirkt nicht zerreißend. Das klangliche Kontinuum wird so jedoch besser gewahrt. Die Berliner setzen hier jedenfalls neue Maßstäbe beim substanzreichen „Leisespielen“ an die sie selbst auch im Jahr 2000 mit Jonathan Nott nicht herangekommen sind. Die Aufnahmetechnik spricht dabei natürlich auch ein entscheidendes Wörtchen mit. Auch die staunenswerte Transparenz stellt dem Orchester ein sehr gutes Zeugnis aus. Wenn man dann attacca das Lohengrin-Vorspiel hört, bei der alle Geigen in gespannter Harmonie erklingen, wünscht man sich bei allem schillernden Wabern doch die Tonalität wieder herbei.
Das Publikum war übrigens während der Aufführung mucksmäuschenstill.
5
Matthias Pintscher
Gürzenich Orchester Köln
WDR, bisher unveröffentlicht
2023, live
9:09
2023 wäre das Jahr des 100. Geburtstages des Komponisten gewesen. Der WDR veranstaltete, das hätte Ligeti, dessen wichtige Anlaufstation ja der Experimentier-Keller des WDR (Elektronisches Studio) war, sicher gefreut, eine ganze Woche mit Konzerten, die teilweise sogar ausschließlich seinen Werken gewidmet waren.
Der dirigierende Komponist Matthias Pintscher lässt das Gürzenich-Orchester sehr leise und atmosphärisch spielen mit wunderbaren Übergängen bei den Streichern. Bei den Holzbläsern gelingen sie nicht so glatt, denn trotz pppp setzen sie auch mal etwas robust ein. Er hält sich bis ca. zur Hälfte ganz exakt an die Zeitangaben in der Partitur (fast sekundengenau). Bei ihm erfolgt der „Absturz“ bei 3:40 (ideal wäre 3:51 gewesen, was aber nicht viel bedeutet). Bei 4:05 wird ein „legierissmo“ gefordert, auch das ist (übrigens bei nur ganz wenigen anderen überhaupt) hörbar. Vor N setzt ein grandioses „Hupkonzert von Ozeanriesen“ ein. Dann geht es deutlich langsamer aber mit effektvollem und plastischem „Wetterleuchten“ weiter. „Nordlichter“ sind ja auch Erscheinungen der Atmosphäre. Während dieser Aufführung scheint die Zeit fast stillzustehen. Das Konzert fand in der Kölner Philharmonie statt. Während Christian Macelaru und dem WDR- Sinfonieorchester noch ein 5.1. Surround-Klang (vom WDR) spendiert wurde, musste das Gürzenich mit normalem Stereoklang vorliebnehmen. Große Nachteile hat es in diesem Fall jedoch nicht mitgebracht.
4-5
Francois-Xavier Roth
Sinfonieorchester des SWR Baden Baden und Freiburg
SWR, bisher unveröffentlicht
2016, live
9:00
Die Aufnahme des SWR klingt etwas präsenter und auch minimal transparenter als die des RBB in Berlin beim zweiten Dirigat Roths. Das Orchester beginnt in Freiburg bereits viel lauter, unsensibel könnte man meinen, wenn man das Berliner Konzert noch in den Ohren hätte. Der „Absturz“ kommt in Freiburg bei 3:56 (statt 3:51 wie in der Partitur). Die Aufführung wirkt aufgeregter und nervöser als 2018. Das Orchester der Uraufführung bleib dem Werk jedenfalls treu und lässt ihm erneut eine hervorragende Aufführung zuteilwerden. Deutlich geschliffener, aber auch weniger abenteuerlustig als 1961 und 1966. Das waren andere Zeiten, das war das Stück noch reinste Avantgarde. 2016 hingegen schon fast ein Klassiker.
Der Klang ist sehr transparent und voll. Besonders die Weiträumigkeit passt gut zu dem Werk. Das Publikum ist so leise, dass man bis fast zum Schlussapplaus meint, einer Studioproduktion zu lauschen.
4-5
Franz Welser-Möst
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks
BR, bisher unveröffentlicht
2010, live
9:15
Der Konzertmitschnitt beginnt mit einem passgenauen pp. Die Streicher bieten völlig unmerkliche Einsätze. Die Einsätze beim Blech gelingen auch mal nicht ganz so synchron, wenn wie es sein sollten. Der „Absturz“ erfolgt bei Welser-Möst bei exakt 4:00 Minuten. Die die Flöten im Plenum des Orchesters bringen ihr ffff vor dem „Absturz“ nicht so durchdringend, wie es meist von CD klingt. Die Bässe hingegen lassen es mächtig grollen, was nicht zuletzt an der 5.1 Technik des BR bei Konzertübertragungen des eigenen Orchesters liegt. Ein Kanal (für den oder die Subwoofer) dient alleine zur Bassunterstützung. Bei Herrn Welser-Möst ist insgesamt nur wenig Einflussnahme oder bewusste Gestaltung spürbar, was Ligeti sehr gefallen haben dürfte. Da wird nichts aufgebauscht, man lässt es fließen. Das Werk klingt im besten Sinn normal (im Sinne von vertraut). Das Orchester spielt den „Klassiker der Moderne“ nahezu perfekt.
4-5
Christian Macelaru
WDR Sinfonieorchester Köln
WDR, bisher unveröffentlicht
2023
9:15
Diese Einspielung fand einen Monat vor der Geburtstagswoche, also bereits im April 2023 in Köln statt. Gleich der erste Einsatz wirkt ein wenig wackelig. Auch gesellen sich einzelne Stimmen überdeutlich zu den anderen, vor allem bei den Holzbläsern. Es ist immer ein Risiko, ein spieltechnisch so anspruchsvolles Werk gleich als Ouvertüre des Konzertabends an die erste Stelle zu setzen. Da spricht das Instrument vielleicht noch nicht ganz so geschmeidig an. Den Streichern gelingen die Einsätze und das Wabern allgemein viel besser. Bei ihnen sind ja auch viel mehr Stimmen beteiligt, allein 14 bei den ersten und 14 bei den 2. Violinen, das überlagert sich dann viel eher. Der „Absturz“ erfolgt bei 3:55. Beim leisen Durchblasen der Blechblasinstrumente (Stichwort: „Heiße Luft“) hat Macelaru dann bereits eine halbe Minute „Verspätung“. Insgesamt wirkt die Darbietung gleichförmiger als bei Pintscher, ob man das nun besser oder schlechter bewerten mag, liegt in den Ohren des oder der Hörenden. Der Orchesterklang wirkt etwas tiefgründiger als beim Gürzenich Orchester, was auch der 5.1-Wiedergabe geschuldet sein könnte. Sie klingt auch etwas weiträumiger. Ansonsten sind keine Vorzüge gegenüber dem normalen Stereo-Format bei Pintscher auszumachen.
4-5
Lahav Shani
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB)
Deutschlandfunk, bisher unveröffentlicht
2023
8:56
„Die Stimmen für sich selbst genommen machen keinen Sinn, auch die langen Töne und der komplexe Rhythmus. Es entsteht nichts daraus. Zusammengenommen ergibt es nachher Luft, wie Wolken“, meint der Dirigent im Interview. Was sich dann daraus entwickelt findet er wunderbar, nämlich ein „Aufheben der Zeit“. Wie Luft oder Wellengebilde in Szene gesetzt. Die Idee zu Beginn alle Noten geleichzeitig spielen zu lassen findet er „einfach und genial zugleich“, und es wäre „immer ein besonderes Erlebnis das Stück live hören zu können“, besonders aus seiner Perspektive, möchte man ergänzen. Es klingt dann in der Übertragung zu Beginn nicht so leise wie bei den Philharmonikern unter Rattle und Roth. Das RSB geht aber dann bis zum pppp ganz weit bis zur Hörschwelle. Die Wellenbewegung des An- und Abschwellens ist tatsächlich nun auch deutlicher vernehmbar als sonst. Der „Absturz“ erfolgt bei 3:43. Erstaunlich, wie nah die Dirigenten an das Idealmaß der Partitur herankommen. Im Ganzen wirkt der Klang etwas weniger changierend. Die Einzelstimmen sind nicht immer bruchlos ins Gewebe integriert. Die Aufführung steht im Gefolge von Bernstein und Bour, denn verschiedene Einzelereignisse werden immer wieder besonders hervorgehoben. Das Blasen ohne Ton („Heiße Luft“) brachte bisher noch keine Blechblasgruppe so leise heraus wie die des RSB, das klingt dann wie ein leichter, sanfter Windzug und nicht wie auch schon gehört eine steife Brise. Ligeti wollte es sanft, da wieder einmal die Vier bemüht wurde: pppp. Das Orchester, übrigens ein ebenfalls voll, farbig, butterweich und sonor klingendes Orchester der höchsten Güte, wird besonders klar wiedergegeben da der Deutschlandfunk eine 5.0 Wiedergabekonfiguration eingerichtet hat. Das Orchester klingt plastisch und gut gestaffelt.
4
Philippe Jordan
Wiener Philharmoniker
ORF, noch unveröffentlicht
2023
9:08
Auch in Wien gab man dem Komponisten aus dem Nachbarland die Ehre und führt exakt zum Hundertsten die „Atmosphères“ auf.
„Alles steht ja völlig still, während der zu einer Ewigkeit zerdehnten neun Minuten passiert nichts“, so eine Kritik zur Uraufführung, die eigentlich als Komplettverriss gemeint war. Ligeti bemerkte dazu, dass dies eigentlich die schönste Kritik seines Lebens war.
Bei Jordan ertönt der Absturz bei 4:00 Minuten. Seine Wiedergabe erscheint mehr an den Effekten interessiert zu sein. Besonders gut kommt bei ihm die Klavierstimme zur Geltung. Figuren werden hier besonders deutlich gemacht, was Ligeti expressis verbis nicht wollte. Er wollte „Musik ohne Anfang und Ende. Musik, die schon immer da war und immer da sein wird“, so die Zitate des Moderators der Sendung. Das Orchester hat man irgendwie schon interessierter gehört, seine ureigenste Welt scheinen die „Atmosphères“ nicht zu sein. Und dem schmalen Stereoklang aus Wien fehlt mittlerweile leider die gute Staffelung und Weiträumigkeit früherer 5.1 Übertragungen (die gibt es nur noch via Internet).
3
Zubin Mehta
Wiener Philharmoniker
ORF, bisher unveröffentlicht
2015
6:19
Da wir die Erstsendung 2015 verpasst habe, konnten wir nur der erneuten Sendung 2020 während der Corona-Pause beiwohnen, die der ORF nutzte, um ausgewählte Konzerte zu wiederholen. Leider schrumpfte unterdessen der übertragene Sound von 5.1 auf 2 Kanäle zusammen. Weniger transparent und auch weniger dynamisch als die deutschen Rundfunkanstalten klingen nun mittlerweile die Konzerte eines der weltbesten Orchester. Das muss man bedauern.
Die gut abschattierten Klangflächen mit den „hypnotischen Klangfarbenhaufen“ klingen und wirken nun weniger deutlich, bleiben aber immerhin noch erhalten. Mehta lässt den „Absturz“ schon bei 2:28 über die Bühne gehen, was keineswegs auf ein „hinreißendes“ Tempo zurückzuführen ist, sondern auf einen Strich, der sozusagen mitten durch die Rechnung geht. Entweder es ist 2015 ein grobes Missgeschick passiert und man schnitt das misslungene Stück für die erneute Sendung einfach raus oder man wollte das Werk noch „griffiger“ machen, in der Hoffnung, dass das bei keinem Hörenden auffällt. Ohne mit einer Partitur bewaffnet zu sein, fällt das nur einem intimen Kenner des Stückes überhaupt auf. Und wer bringt schon eine einen Meter hohe Partitur mit zur Konzertveranstaltung? Außer dem Dirigenten vielleicht, wenn es das Stück nicht auswendig gelernt hat. Vielleicht gibt es ja auch eine Kurzfassung der Partitur, von der noch niemand wusste? Darüber sind wir bei unseren kurzen Recherchen jedenfalls nicht gestolpert. Jedenfalls ist Zubin Mehta nicht der Tempo-Rekordhalter, das ist und bleibt Leonard Bernstein.
Zubin Mehta zu „Atmosphères“: „Als ob Sie ein Gemälde ohne Figuren sehen, ein Gemälde nur mit Farben. Keine Figuren im Gemälde, keine Melodien in der Musik, nur Klangfarben.“
18.6.2023