Igor Strawinsky
Symphony in three Movements
Sinfonie in drei Sätzen
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Werkhintergrund:
Wenn es um Igor Strawinsky geht, ist meistens von seinen Ballettmusiken die Rede, besonders von "Le Sacre du printemps". Eigentlich wollten wir auch die zahlreich vorliegenden Einspielungen dieses Ballettes miteinander vergleichen, doch die schrecklichen Ereignisse der letzten Zeit (Ukraine-Krieg) bewogen uns dazu, ein anderes Werk des Komponisten auszuwählen, das einen Bezug zum Krieg mitbringt.
Strawinsky, der selbst zwei Mal in einem Leben flüchten musste, das erste Mal aus Russland, das zweite Mal aus Frankreich, schrieb auch Sinfonien, darunter die "Symphony in three Movements" als ein vielschichtiges Zeugnis der 1940er Jahre.
Was ist das Sinfonische an Igor Strawinskys "Symphony in three Movements"? Und darf man von einem Komponisten, der zu jeder Form von "Weltanschauungssinfonik" deutliche Distanz hielt, einen namhaften Beitrag zu dieser Gattung erwarten?
Diese Fragen stehen unter anderen im Raum bei der Beschäftigung mit dem zwischen 1942 und 1945 für die New Yorker Philharmoniker entstandenen Orchesterwerk.
Lange war sich Strawinsky über Form und Gattungstitel der Komposition im Unklaren, und er erwog zunächst die Bezeichnungen "Symphonic Movements" oder "Concerto for Orchestra". Mit der Entscheidung, das Werk schließlich doch als Sinfonie zu bezeichnen, dürfte er vor allem den Wünschen seiner Auftraggeber gefolgt sein.
Sie versprachen sich eine Musik mit emphatischer Gestik, die im Zeichen des Krieges, vor allem des absehbaren Sieges Amerikas und seiner Verbündeten über die deutschen und japanischen Aggressoren stehen würde. Kurz vor Annahme der US-Staatsbürgerschaft bewies Strawinsky – indem er sich diesem Ansinnen öffnete – seine Art von Patriotismus. Strawinsky nahm den Auftrag zum Anlass sowohl über die Tradition der Sinfonie überhaupt als auch seine eigene musikalische Entwicklung zu sinnieren und eine Art Status quo festzuhalten.
Schon geraume Zeit vor ihrer Bestimmung zur "War Symphony" bzw. "Victory Symphony" (so wurde sie vom Komponisten selbst genannt) hatte Strawinsky ein Werk in Angriff genommen, das viel von der Unruhe und den Spannungen der Zeit in sich trug. Nur sollte daraus ein Klavierkonzert oder ein sinfonisches Werk mit konzertantem Klavierpart werden. (Strwinsky/Robert Craft: „Expositions and Developments“, 1962) Dieser Ansatz musste – zumal im ersten Satz – nicht gänzlich verworfen werden, ließen sich doch die solistisch-konzertanten Elemente mit den sinfonisch-kompakten problemlos zusammenfügen. Im Ballett „Petruschka“ verfuhr Strawinsky bzgl. des solistischen Klaviers übrigens auf ähnliche Weise. Dem barbarisch-martialischen Hintergrund ergibt sich musikalisch darüber hinaus eine gewisse Nähe zu „Le Sacre du printemps“. Er war das Vorbild für die rhythmisch-geräuschhafte bis bruitistische Seite der Sinfonie, die uns eher noch verstärkt im 3. Satz der Sinfonie wieder begegnet.
Inspiriert wurde der 1. Satz von einem Kriegsfilm, genauer von einem Dokumentarfilm über die japanische Kampftaktik der „verbrannten Erde“ in China. Den mittleren Abschnitt deutete er als eine „Folge von instrumentalen Unterhaltungen als Begleitung zu einer Filmszene mit schippenden und scharrenden chinesischen Landarbeitern“. Der Mensch als Teil einer unheimlich-menschenverachtenden Maschinerie findet hier musikalischen Ausdruck. Der Gestus ist, je nach Einspielung mehr oder weniger unstet und zerrissen. In einer früheren Äußerung räumte Strawinsky auf die Frage, ob die repetierten Töne der Bassklarnette am Ende des 1. Satzes als „Gelächter“ interpretiert werden könnten, ein: „Nehmen wir an, ich würde zugeben, es als „Gelächter“ gemeint zu haben: Welchen Unterschied machte das für den Interpreten?“ Strawinsky, der wie kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts einen Zusammenhang zwischen dem Kompositionsprozess und Außermusikalischem leugnete („Komponieren bedeutet für mich, eine gewisse Zahl von Tönen nach gewissen Intervallen zu ordnen“), musste wohl bezüglich dieser Sinfonie eine irgendeine Art von Ausnahme gesehen haben. Sehr viele Einspielungen verfahren mit der den Satz abschließenden Klarinette auf lapidare Art und Weise und lassen sie von den eigentlich leiser zu spielenden Streichern überdecken. Das dürfte eigentlich nicht passieren.
Auf Rückgriffen anderer Art gründet der zweite Satz. Das Andante teils elegant tänzerischen, teils meditativen Charakters vereint meisterhaft sowohl Elemente eines Scherzos als auch die klassischen Elemente einen traditionellen langsamen Satzes. In der glasklaren Darstellung aller Elemente und deren Ineins sind Strawinskys eigene Darstellungen nur von wenigen anderen erreicht oder gar übertroffen worden. In subtilen Dialogen mit einzelnen Instrumenten des Orchesters, vor allem den Flöten, tritt hier die Harfe solistisch auf. Ursprünglich war diese zarte Musik für eine Lichtspielszene gedacht: für die Verfilmung von Franz Werfels Roman "Das Lied von Bernadette". Im Roman verarbeitet Werfel die Erlebnisse, die er in Lourdes machte, einem Ort den er auf dem Weg ins amerikanische Exil besuchte.
Das Projekt ist – wie (fast) alle anderen Versuche Hollywoods, mit Strawinsky ins Geschäft zu kommen – weniger aus finanziellen Gründen gescheitert, denn die Bezahlung wäre gut gewesen und der Komponist bedürftig. Die harte künstlerische Fremdbestimmung gab wohl den Ausschlag. In einem späteren Fall sollte Strawinsky am Ende der Verhandlungen schließlich nur seinen Namen als Komponist der betreffenden Filmmusik hergeben (letztlich für dieselbe Summe, wie für die Filmmusik selbst). Auch das war mit ihm nicht zu machen. Nur eine Ausnahme gibt es: In Walt Disneys „Fantasia“ werden Teile des „Sacre“ verwendet. Strawinsky war zwar entsetzt, was daraus gemacht wurde, aber die Bezahlung dafür soll so üppig gewesen sein, dass Disney alles damit hätte machen dürfen.
Als Kontrastfeld zwischen den martialisch-dionysischen Ecksätzen, in denen sich – wie bereits erwähnt - auch die Urkräfte von Strawinskys früher Ballettmusik "Le Sacre du printemps" regen, erfüllt der "apollinische" Mittelsatz indes eine wohlkalkulierte sinfonisch-zyklische Funktion. Besonders in den Eigeninterpretationen Strawinskys kommt auch noch ein verschmitztes Understatement zur Geltung. Er spielt mit den Erwartungen der Hörer und enttäuscht sie auch gerne einmal (mit voller Absicht). Seltsam und überraschend zugleich mutet die Koexistenz von Elementen des langsamen Satzes und eines Scherzos in einem einzigen Satz an.
In der sieben Takte währenden Überleitung (Interlude genannt) wird der nun folgende Gewaltmarsch sozusagen „geboren“ oder etwas weniger treffend formuliert: angezettelt. Manche Interpreten gönnen der Überleitung sogar einen separaten Track (Bernstein) oder schlagen sie dem 3. Satz zu (Klemperer (COA), Rattle (CBSO), Salonen), was eigentlich partiturwidrig aber ohne Konsequenzen ist, da die Sätze zwei und drei sowieso attaca ineinander übergehen sollen. Wegen der Vereinheitlichung der Zeitnahme haben wir das Interlude mit seinen 22 bis 25 Sekunden partiturkonform immer dem 2. Satz eingefügt.
Noch ein genialer Einfall: Die vordem getrennt auftretenden Soloinstrumente, das Klavier im 1. Satz und die Harfe im 2. Satz), bilden im Finale ein herausgehobenes Duo, was den zyklischen Zusammenhalt der drei Sätze betont. Speziell diesem Satz hat Strawinsky eine – für ihn höchst ungewöhnliche – verbale "Erklärung" beigefügt. Er ist übrigens der einzige der drei, die eigens für die Sinfonie erdacht wurde, also nichts Wiederverwendetes enthält.
"Das Finale", so der Kommentar des Komponisten, "enthält sogar die Entwicklung eines Kriegsthemas, obwohl ich es als solches erst nach Beendigung der Komposition erkannt habe. Der Beginn des Satzes ist auf unerklärliche Weise zum Teil eine musikalische Reaktion auf die Wochenschaubilder und Dokumentarfilme, die ich von im Stechschritt marschierenden Soldaten gesehen habe. Der zackige Marschrhythmus, die Instrumentierung für Blechbläser, das groteske Crescendo in der Tuba – all das ist mit diesen abstoßenden Bildern verbunden." (Deutschlandradio Kultur: Das besondere Stück.)
Auch persönliche Erlebnisse – etwa die Misshandlung eines befreundeten Fotografen durch Nazitrupps während eines Aufenthalts in München im Jahre 1932 – führt Strawinsky als Einzelmoment an, die für die Gestalt des 3. Satzes von Bedeutung waren. Den dreh- und Angelpunkt dieses Finales, die Fuge beginnend mit dem 5. Takt nach Ziffer 169, betrachtete er dann auch als dreh- und Angelpunkt des Kriegsgeschehens. In der anfänglichen „Ungelenkigheit“ dieser Fuge sah er eine Entsprechung zu der „überzogenen Arroganz der Deutschen beim Zusammenbruch ihrer Kriegsmaschinerie“, in ihrer Entwicklung ein „Erstarken der Alliierten“ und im „vielleicht gar zu kommerziellen letzten Sextakkord auf Des“ schließlich den Ausdruck seiner „außerordentlichen Überschwänglichkeit angesichts des Triumphs der Alliierten“.
Solche Äußerungen bedeuten nicht, dass Strawinsky seine ästhetische Doktrin aufgegeben hätte. Und die besagt eben, dass Musik "nichts als Ordnung zwischen den Dingen" sei – eine Auffassung, für die man auch in der "Symphony" viele Anhaltspunkte findet. (Aus dem Vorwort der Eulenburg –Taschenpartitur von Manfred Karallus.)
Die „sinfonische“ Absicht ging dennoch in seinen Augen nicht völlig auf, weshalb Strawinsky in seinen 1963 verfassten Programmnotizen zum Werk zu bedenken gab, dass „Drei sinfonische Sätze“ möglicher Weise der angemessenere Titel sei. (Strawinsky/Robert Craft in dem Buch „Dialogues and a Diary“, 1968)
Was bei einem symphonischen Werk (bzw. einer Sinfonie) jedoch immer von besonderem Interesse ist, wäre der Aufbau. Dazu nur so viel: Er wirkt recht komplex, vielschichtig und vor allem außerordentlich kontrastreich. Strawinsky verlässt den klassischen Formverlauf, wie er für eine Sinfonie einmal festgeschrieben wurde (daraus hat sich aber bereits Haydn schon einen Spaß gemacht), weitestgehend. Harmonische Grundprinzipien gibt es ebenfalls kaum noch. Dialektische Prinzipien, eine typische Verfahrenweise der Entwicklung, gibt es ebenfalls nicht mehr. Thematisch-Motivische Entwicklung ebenso kaum noch.
Beim „architektonischen“ Aufbau, der gut von Manfred Karallus in der von uns verwendeten Eulenburg Taschen-Partitur Nr. 574 beschrieben wird, wollen wir jedoch hier, um nicht noch mehr zu langweilen, nicht weiter in die Tiefe gehen.
Als Abschlussbemerkung seiner Programmnotiz bekannte sich Strawinsky jedoch noch einmal zu seinem Grundsatz: „Es handelt sich trotz allem bei dieser Sinfonie nicht um Programmmusik. Komponisten kombinieren Töne. Mehr nicht. Es ist nicht an ihnen, festzustellen, wie und in welcher Form sich die Dinge dieser Welt in ihre Musik eingeprägt haben“. (Igor Strawinsy/Robert Craft: Dialogues and a Diary“, 1968, S. 52)
Ob Wiedergaben des Werks von "programmatischen" Fingerzeigen inspiriert sind oder von der formalen Stringenz dieser Musik, lässt sich kaum unterscheiden. Zumal Strawinsky von "Interpretationen" nichts hielt, für sie in seiner Partitur auch eigentlich nur wenige Spielräume ließ.
Strawinskys eigene Einspielung mit dem Columbia Symphony Orchestra von 1961 macht denn auch deutlich, worauf es ihm primär ankam: auf rhythmische Präzision, klangliche Transparenz und dynamische Kontrastschärfe. Unter den Aufnahmen unseres Vergleiches gibt es nur wenige, die diesen Maßgaben nicht zu folgen versuchen. Aber kaum eine kommt an der Eigenaufnahme von 1961 vorbei (wobei auch die ebenfalls noch zugänglichen Eigenaufnahmen von 1946 und 1958 nicht zu unterschätzen sind). Im Gegenteil die allermeisten fallen beträchtlich hinter sie zurück.
Nun sollten wir aber die Ergebnisse des Vergleiches nicht schon an dieser Stelle vorwegnehmen, der schnelle Leser hätte sonst kaum noch eine Motivation mit uns in die Details einzusteigen.
Eines kann man jedoch noch vorwegnehmen: Alle Einspielungen stehen im Spannungsfeld zwischen dem Marcato und der damit einhergehenden Darstellung der Unerbittlichkeit des Krieges und des rein musikalischen Konzertierens. Da die perfekte Balance zu finden ist die eigentliche Schwierigkeit. Ein potentes Orchester mit erstklassigen, eloquenten Solisten hilft dabei jedoch ungemein, ist aber doch nur der halbe Weg.
Die Einspielungen erscheinen durchaus sogar verschiedengradig dissonant. Auch die Dissonanzen können eben sauber oder weniger sauber gespielt werden, mehr oder weniger hervorgehoben werden. Besonders im Fokus steht bei Strawinsky jedoch stets der Rhythmus und ganz besonders auch das Tempo. Es hat bei ihm auch eine die Form gliedernde Funktion. Mit ihm geht übrigens darüber hinaus auch der Ausdruck in ganz besonderer Weise einher. Und tatsächlich: Wählen Dirigenten andere Tempi als Strawinsky selbst, wird der Ausdruck sofort weniger stimmig oder er geht sogar in eine völlig falsche Richtung.
Abschließend wieder eine kleine Zitatsammlung. Bei der Recherche stolpert man immer über sie und warum sollte man sie verschweigen? Lassen sie uns doch schlaglichtartig einen Blick auf einen uns zumeist völlig unbekannten Menschen werfen:
Jean Cocteau:
Das Genie lässt sich nicht besser analysieren als Elektrizität. Entweder hat man es, oder man hat es nicht. Strawinsky hat es: Er kümmert sich nie darum. Niemals macht er sich darüber etwas vor. Niemals berauscht er sich daran. Er setzt sich nicht der Gefahr aus, sich selbst zu rühren, sich selbst zu verschönern oder zu verhässlichen. Er kanalisiert eine Rohkraft und speichert sie, um sie dienstbar zu machen..., 1918 in „Le coq et l´arlequin“
Erik Satie:
Ich liebe und bewundere Strawinsky, weil ich auch spüre, dass er ein Befreier ist. Mehr als irgend jemand sonst hat er das heutige musikalische Denken befreit, das eine Entwicklung bitter nötig hatte(...) Ich weiß nicht, was ich selbst bin, aber was ich mit Gewissheit weiß, ist, dass der Mann, über den ich sprach, einer der größten Musiker ist, die je gelebt haben. (1923)
Ferruccio Busoni:
...Strawinsky, der nicht weiter aufregend ist; nur, dass er dem gedankenlosen Publikum und der urteilslosen Kritik ein falsches Bild gibt von dem, was in der Musik fortschrittlich sein soll. (1919, Brief an seine Frau)
Leonard Bernstein:
Strawinsky ist einer der Grundfaktoren meines musikalischen Lebens, seit dem Tag, an dem ich 15 Jahre alt, zum ersten Mal ein Werk „modernder Musik“ hörte: „Le sacre du printemps“. Von diesem ersten aufwühlenden bis zu meinem jüngsten, ganz anders gearteten Erlebnis (ich meine die Aufnahme, die ich von „L´histoire du soldat“ und dem „Oktett“ machte), ist mir seine Musik unentbehrlich geworden, unentbehrlich geblieben (...) Strawinskys Vielseitigkeit ist ein kostbarer Schatz. Als Zuhörer bin ich Enthusiast, als Komponist ehrfürchtiger Bewunderer, als Schaffender im Theater aufmerksamer Schüler, als Dirigent aber bin ich unendlich dankbar. (1955, Bernstein: Universalität, in: Strawinsky in Amerika, Musik der Zeit, Heft 12, Bonn, 1955 S. 78f)
Dmitri Schostakowitsch:
Bei Strawinsky ist es oft so: Die Konstruktion ragt wie ein Baugerüst heraus. Keine natürlichen, fließenden Übergänge. Das irritiert mich. Aber andererseits erleichtert diese Deutlichkeit dem Hörer das Verständnis. Wahrscheinlich liegt darin auch eines der Geheimnisse von Strawinskys Popularität (...) Strawinsky ist vielleicht der genialste Komponist des 20. Jahrhunderts. Aber er sprach immer nur für sich, ausschließlich für sich. (Zeugenaussage. Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch., aufgezeichnet und hg. von S. Volkov, Hamburg 1979, S. 63, 151)
»Themes and Episodes« heißt ein Buch, das der Komponist Igor Strawinsky, damals 84, und sein langjähriger Assistent Robert Craft, damals 43, schrieben. Es enthält Bonmots des Meisters, Details aus dem Privatleben, kompositorische Exkurse und sehr sarkastische Anmerkungen über Zeitgenossen - so über große Dirigenten, denen Strawinsky begegnete. Es sind auch einige dabei, die wir in unserem Vergleich wieder treffen. Gleichzeitig unternehmen wir dabei eine kurze Reise in die Musikwelt der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts:
„Ebenso wie die Politik zieht das Dirigieren selten einen genialen Geist an, und es ist eher ein Gebiet für das Karrieremachen und die Ausnutzung individueller Eigenarten - auch darin der Politik ähnlich - als ein Beruf, in dem ein genaues, genormtes Fachwissen angewendet wird. Ein Dirigent kann tatsächlich für seine Arbeit weniger befähigt sein als seine Musiker; aber außer den Musikern braucht das niemand zu wissen, und seine Karriere hängt sowieso nicht von ihnen ab, sondern von den Damen der Gesellschaft (und den Kritikern), für die seine musikalischen Fähigkeiten von untergeordneter Bedeutung sind. Der erfolgreiche Dirigent kann ein unvollkommener Musiker sein; aber er muss ein vollendeter Drahtzieher sein. Vor allem muss er die Fähigkeit haben, Machtpolitik zu treiben.
Bei solchen Leuten ist die Krankheit des Egoismus natürlich stark verbreitet, und ich brauche kaum hinzuzufügen, dass diese Krankheit unter der Sonne des sie begünstigenden Publikums wie ein tropisches Unkraut gedeiht. Das Ergebnis ist, dass der Dirigent ermutigt wird, eine selbstgefällige, falsche und willkürliche Autorität auszuüben. So wird ihm eine Stellung eingeräumt, die in keinem Verhältnis zu seinem wahren Wert in der Musikwelt, dem Gegensatz zur Musikgeschäftswelt, steht. Er wird tatsächlich bald ein »großer« Dirigent, oder, wie der Presseagent solch eines Dirigenten mir kürzlich schrieb, ein »Titan des Podiums«, und damit ist er beinahe das schlimmste Hindernis für echtes Musizieren. »Große« Dirigenten sind ebenso wie »große« Schauspieler unfähig, etwas anderes als sich selbst zu spielen; da sie unfähig sind, sich dem Werk anzupassen, passen sie es sich selbst, ihrem »Stil«, ihren Mätzchen an.
Wenn jemand unfähig ist, Musik zu verstehen, wird ihm der Dirigent zeigen, was er empfinden muss. So spielt der Filmschauspielertyp des Dirigenten in »seiner« Eroica Napoleons ganzes Leben vor - mit einem Ausdruck vornehmen Leidens beim Rückzug von Moskau (wobei das Fernsehen die verhältnismäßig gnädige Beschränkung auf die Rückenansicht vermeidet) und dem Ausdruck des Triumphes im letzten Satz, in dem er das Siegesfest sogar tanzt.
In meiner langen Karriere als Musikhörer habe ich viele Dirigenten bei ihrer Arbeit bewundert, bin aber nicht sicher, dass ich sie jetzt noch bewundern würde. Felix Weingartner zum Beispiel war in meiner Jugend ein Abgott für mich. Ich hörte ihn 1900 in Berlin einen Beethovenzyklus dirigieren und war begeistert. Auch in späteren Jahren besuchte ich seine Konzerte bei verschiedenen Gelegenheiten. Aber ich glaube, dass ich von allen Dirigenten, die ich gehört habe, Alexander von Zemlinsky als denjenigen nennen würde, der am beständigsten ein hohes Niveau erreichte. Ich habe »Figaros Hochzeit«, von ihm in Prag dirigiert, als die befriedigendste Opernerfahrung meines Lebens in Erinnerung.
Was die besseren heutigen Dirigenten betrifft, so habe ich, wie man weiß, niemals gute Zensuren gegeben, und im Alter bin ich bestimmt kein Lobredner geworden. Ich will jedoch einige der nach meiner Ansicht besseren Techniker und gewissenhafteren Musiker nennen. Zum Beispiel Szell, der das übliche klassische Repertoire so aufführen kann, dass jedes Unheil vermieden wird. Fritz Reiner ("l'amico Fritz"), der die Chicagoer Symphoniker zum präzisesten und flexibelsten Orchester der Welt machte und, nebenbei bemerkt, ein wirksames Gegenmittel gegen die Windmühlen-Schule und die Effekthascherei war. Rosbaud, der der gewissenhafteste Musiker und einer der wenigen pflichttreuen Dirigenten war. Ormandy, der dem Philadelphia-Orchester ein ganz weiches Echo gab und ein idealer Johann-Strauß-Dirigent und Spezialist für posthum entdeckte Musik wie Tschaikowskys Siebente ist. Lorin Maazel, um den begabtesten der mittleren Dirigenten-Generation zu nennen, ein Mann von vielseitigem Talent, der aber einen »Don Giovanni«, den ich kürzlich in der Met hörte, genauso wie ein Tambourmajor dirigiert. Und Scherchen, der trotz exzentrischer Verfärbungen saubere Kapellmeister-Aufführungen von Haydn und überzeugende von Bach gegeben hat, obgleich er keine Ahnung von einem Bach-Stil hat. (Es ist allerdings unfair, ihn allein in diesem Punkt zu kritisieren, da alle Bach-Aufführungen »großer« Dirigenten grotesk anachronistisch sind aus dem einfachen Grunde, dass es bei Bach keinen Spielraum für großes Dirigieren gibt.)
Als ich mein Klavierkonzert unter Furtwänglers Leitung in Leipzig und Berlin spielte, stand er auf der Höhe seines Ruhmes ("der Letzte der großen Tradition“, sagt man, obgleich ich selbst es besser gefunden hätte, ihn den »Ersten der kleinen Tradition« zu nennen). Trotzdem dirigierte er es schlecht, sogar schlechter als Kussewitzki bei der Premiere. Ich war überrascht, weil andere Musiker seiner Generation und der noch älteren Generation das Orchester mühelos geführt hatten.
Ein paar Jahre nach der Berliner Aufführung erhielt ich in der Villa d' Este in Como, wo ich meine Ferien verlebte, ein Telegramm Furtwänglers, in dem er mich um die Uraufführungsrechte für mein »Capriccio« bat. Ich antwortete, dass das Stück bereits zwanzigmal gespielt worden sei (wir schrieben 1931), dass er es aber gern zum 21. Mal spielen könne. Ich gebe seinem Telegramm und meinem Mangel an Nüchternheit die Schuld an der Untat, die mein Gewissen in den folgenden Jahren, wenn auch nur wenig, belastet hat. Als ich an jenem Abend im Garten der Villa zwischen zwei »griechischen« Statuen spazieren ging, sah ich, dass die Marmorfiguren mit den Namenszügen von Touristen verziert waren, griff selbst zum Stift und kritzelte »Wilhelm von der Furtwängler« auf den gluteus maximus (der größte Gesäßmuskel, Anm. des Verfassers) des offensichtlichsten »Ersatz« -Apollos.
Auch der Gedanke an Mengelberg gehört nicht zu meinen liebsten Erinnerungen. Bei unserer ersten Probe des »Capriccio« fing er mit einem unmöglichen Tempo an. Ich sagte, ich könne in diesem Tempo nicht spielen; aber ich hätte mich deutlicher ausdrücken sollen, denn er wusste nicht, ob ich ihn zu schnell oder zu langsam fand. Er war verwirrt, und statt von vorn anzufangen, hielt er eine Rede zu seiner Rechtfertigung: »Meine Herren, in den fünfzig Jahren meiner Dirigentenzeit habe ich, glaube ich, gelernt, das Tempo eines Musikstücks richtig zu erkennen; aber Herr Strawinsky möchte, dass wir so spielen: Tick, tick, tick, tick!«, und er hob den Zeigefinger, um die nützliche Erfindung des Herrn Mälzel zu imitieren.
Mengelberg hielt allerdings immer Reden, er war ein Demosthenes von imponierender Beredsamkeit bei Festessen. Ich erinnere mich an ein Bankett in Amsterdam zu Ehren von Respighi. Mengelberg hielt die Festrede; und als er ziemlich am Schluss zu mir hinblickte und wohl merkte, dass ich auf die Uhr sah, nannte er im entscheidenden Augenblick nicht Respighis, sondern meinen Namen. Mengelberg war natürlich nicht boshaft oder kleinlich und nicht einmal ohne Talent als Musiker. Er war nur von einer krankhaften Sucht nach Schmeicheleien.
Otto Klemperer lernte ich in den frühen zwanziger Jahren in Leipzig oder Dresden kennen. Er galt als der größte Könner unter den jüngeren deutschen Dirigenten und als derjenige, der sich den zeitgenössischen Komponisten mit der größten Einfühlung widmete, ein Ruf, den er bis zum Ende der zwanziger Jahre und auch in seinen ersten Amerika-Jahren aufrechterhalten konnte. Klemperer ließ sich manchmal falsche Tempi zuschulden kommen - sie rasten in den zwanziger Jahren genauso, wie sie jetzt zum Schleppen neigen-, aber seine musikalischen Ideen waren oft erstaunlich richtig. Er ist der einzige Dirigent, der den Auftakt zum Sechsachtel-Allegro der Uhren-Symphonie richtig aufbauen konnte, indem er sowohl einen zu starken als auch einen zu schwachen Schlag im ersten Takt vermied und die Betonung für den zweiten vollen Takt aufsparte. Klemperer, dieser große hagere Zyklop von Mann, war merkwürdigerweise auch ein sehr witziger Mensch, wenn man auch nie sicher war, dass er wirklich die Absicht hatte, witzig zu sein.
Die Aufführung meines Klavierkonzerts mit Bruno Walter in den späten zwanziger Jahren in Paris war ein unverhofftes Vergnügen. Ich hatte nicht erwartet, dass dieser »Romantiker« einer älteren Generation fähig sein würde, meine unregelmäßigen Rhythmen zu taktieren oder, wenn ich daran dachte, wie er beim zweiten Satz einer Symphonie langsamer zu werden pflegte, meine metronomischen Tempi zu halten; aber er folgte mir flink wie jeder, mit dem ich dieses Stück spielte.
Wir sahen uns 1935 in New York bei einem Konzert des Komponistenverbandes wieder und danach in Hollywood, wo wir zwanzig Jahre lang Nachbarn waren. Obgleich unser Geschmack und unsere Temperamente - seine weiche Wiener Art und meine charakteristische Neigung zu explodieren - kaum verschiedener hätten sein können, fühlten wir uns in gewisser Weise zueinander hingezogen, wenn auch nur, weil Achtzigjährige sich natürlich als Gegenspieler im Finale respektieren.
Bruno Walter besuchte mich ein paar Wochen vor seinem Tod und lud mich im Namen des Wiener Philharmonischen Orchesters ein, in Salzburg zu dirigieren. Ich wusste, dass er leidend war, und erbot mich, stattdessen zu ihm zu kommen; aber er wollte nichts davon wissen. Er war lebhaft, herzlich und wie immer äußerst liebenswürdig. Wir sprachen - über Tschaikowskys Opern, und er erzählte mir von seinen Eindrücken auf einer Reise nach Leningrad, die er in den zwanziger Jahren gemacht hatte, um »Pique Dame« zu dirigieren: Er sprach auch von Rudolf Steiner - nicht kritisch, wie ich über so etwas spreche; aber Steiner gehörte zu Walters Milieu. Beim Abschied äußerte ich mein Bedauern darüber, dass wir schon zu lange auf seine Aufnahme von »Fidelio« gewartet hatten, und er sagte, er hoffe, dass ich sie eines Tages hören würde. Aber dieser Tag wird niemals kommen. Bald darauf lag er im Sarg, der »er« noch inkarniert, wie Steiner sagen würde. An der Wand darüber hing eine gerahmte Einladung zu Beethovens Trauerfeier.
Meine erste Erfahrung mit Kussewitzky als Interpret meiner eigenen Musik war die Exekution meiner Symphonien für Bläser durch ihn in London. Danach besuchte er mich in Biarritz, um die Beziehungen zu verbessern und mich einzuladen, bei einem seiner Pariser Konzerte mein Oktett zu dirigieren. Zwanzig Jahre später beförderte er ein Stück von mir zur Gedenkmusik für seine Frau Natalie (eine ehrbare Frau, die, unglücklicherweise immer so aufgeregt wie ein Huhn aussah, auch wenn sie guter Laune war); aber die Aufführung dieser Ode, wie ich sie nannte, war eine neue Katastrophe. Der Trompeter versah sich in der Tonart seines Instruments und spielte den ganzen Satz einen Ton zu tief. Überdies waren zwei Fassungen der letzten Seite irrtümlich als eine abgeschrieben worden. Sie wurden auch so gespielt, und mein einfaches Dreiklang-Stück endete in einer Kakophonie, die mir jetzt in Darmstadt Ehre machen würde.
Diese plötzliche Änderung der Harmonie erregte jedoch nicht nur keinen Verdacht bei Kussewitzky, sondern er vertraute mir ein paar Jahre später tatsächlich seine Vorliebe für die »ursprüngliche Fassung« an. Aber Kussewitzky spielte in Amerika eine außergewöhnliche Rolle. Er versuchte und erreichte es auch, eine amerikanische Version der Rimski-Schule zu schaffen, eine nationalistische Bewegung, die seine Popularität sicherte, den Aufstieg der neuen Musik aber wahrscheinlich verzögerte. Dabei war er ein außerordentlich großzügiger Mensch, der mehr als jeder andere Dirigent tat, um die Komponisten finanziell zu unterstützen.
Ernest Ansermet stellte sich mir 1911 eines Tages in Clarens auf der Straße vor und lud mich zum Essen ein. Obgleich ich von ihm als Lehrer und Amateurmusiker gehört hatte, erregte sein Äußeres - der Bart - ein unangenehmes Gefühl in mir; im ersten Augenblick hielt ich ihn für jemand, der sich als Scharlatan aus »Petruschka« verkleidet hatte.
Bald darauf wurde Ansermet Dirigent des Kursaal-Orchesters in Montreux, und unsere nächste Begegnung fand im Haus des Chanson-Komponisten Henri Duparc, eines griesgrämigen Herrn, statt, der im Ruhestand in der Nähe von Vevey lebte (nicht weit von einem Hotel, in dem ich als Kind in den neunziger Jahren gewohnt und einmal die Kaiserin Elisabeth von Österreich gesehen hatte). Ungefähr um diese Zeit, ich glaube, zusammen mit Ansermet, lernte ich auch den Genfer Komponisten Ernest Bloch kennen, einen ganz ungewöhnlichen Mann, den ich in meinen ersten Schweizer Jahren ziemlich häufig sah und viele Jahre später in Portland, Oregon, wieder traf.
Als Pierné und Monteux 1914 das Russische Ballett verlassen hatten, empfahl ich Ansermet als Nachfolger. Er konnte das Orchester gut ausbalancieren, und er verstand die neue französisch-russische Musik der Zeit. Ich stand in engen Beziehungen zu Ansermet in den zwanziger und dreißiger Jahren und sogar noch 1937, bis er im »Kartenspiel« eine eigenmächtige Streichung vornahm und ein paar Jahre danach anfing, meine Bearbeitungen früherer Stücke zu kritisieren, obgleich er der erste gewesen war, der die Bearbeitlungen von »Feuervogel« und »Nachtigall« von 1919 aufgeführt hatte. Seitdem hat er meine neue Musik mit »Des Kaisers neue Kleider«-Argumenten schlechtgemacht, und er hatte sogar die Kühnheit, sich in einem schweren, aber nicht sehr gewichtigen Buch darüber zu äußern, wobei er Phrasen wie »Conscience logarithmique« gebraucht, was aber nur beweist, und zwar bedauerlicherweise, dass er diese Musik nicht hören noch ihr folgen kann. Trotz alledem habe ich ihn immer noch gern und kann die vielen schönen Stunden, die wir verlebt haben, nicht vergessen. Ich besinne mich auf einen Abend, an dem wir eine Flasche »Framboise« getrunken hatten und er einen Hund spielen wollte und unter meinem Klavier in der Salle Pleyel zu bellen anfing. Es war eine sehr überzeugende Vorstellung.
Leopold Stokowski besuchte mich 1922 in Biarritz. Ich habe ihn als sympathisch und charmant in Erinnerung. Damals sah er wie ein russischer Windhund aus; erst später, in seiner Filmstarzeit, in der er täglich eine Stunde damit verbracht haben muss, die ideale weibische Frisur herauszubekommen und sie exakt zu zerzausen, wirkte er manchmal ungepflegt. Er machte ein gutes Angebot für die amerikanischen Erstaufführungsrechte meiner kommenden Werke, und er zahlte tatsächlich eine Rate des vorgesehenen Betrages, muss aber dann Bedenken wegen der Vereinbarung gehabt haben, da ich nichts mehr von ihm hörte bis zu der Zeit von »Perséphone«, die er auch in Amerika einführen wollte. 1935 oder 1937 besuchte ich ein Konzert von Stokowski in der Carnegie Hall und begrüßte den Maestro in der Pause. Danach sah ich ihn 1942 in Hollywood wieder, als er zu mir kam, um meine Symphonie in C zu besprechen, ehe er daranging, sie mit dem NBC-Orchester aufzuführen. Nur wenige Dirigenten haben soviel wie er dazu beigetragen, der neuen Musik Gehör zu verschaffen, und jetzt als Achtzigjähriger hat er seine Leistungen gekrönt durch die geduldige Vorbereitung und Aufführung jenes erstaunlichen Werkes, der Vierten Symphonie von Ives*. Auch kann kein Dirigent ein Orchester so gut aufbauen wie er, und zwar aus dem Nichts bis zu höchstem Glanz. Die Kunstgriffe, die er lehrte (ebenso wie die beliebte Vorstellung vom Dirigieren als einer Art Taschenspielerei), sind heute noch üblich, zum Beispiel die Methode der Cellisten, ihren Einsatz im Tristan -Präludium zu staffeln, um ein weiches und dichtes Crescendo zu erzielen.
Über die Stabführung von Sir Thomas Beecham wusste ich nicht viel, und ich hörte ihn nie etwas von meiner Musik spielen; aber ich kannte seine Großzügigkeit. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges sandte er mir 2500 Schweizer Franken für den Fall, dass ich von meinen Geldquellen in Russland abgeschnitten sein sollte. Das Geld kam wie gerufen, da ich die Rückreise meiner Mutter nach Russland mit dem Schiff von Brindisi nach Odessa, der einzigen noch offenen Route, bezahlen musste. Beecham war mein erster Freund unter den englischen Musikern und jedenfalls der geistreichste. Wir trafen uns auch in späteren Jahren und waren, obgleich oder weil wir niemals ein Konzert zusammen machten, immer Freunde. Ich sah ihn oft in den vierziger Jahren, und ich besinne mich sehr genau auf zwei besonders lebhafte Abende in seiner Gesellschaft, einen mit Percy Grainger in New York und einen anderen in Mexiko.
Mitropoulos hatte »Petruschka« und die »Geschichte vom Soldaten« aufgeführt; aber als Prophet Mahlers und als Spezialist für die Alpensymphonie** (in der er sich so sicher wie eine Gemse bewegte), konnte er an meiner Musik im Allgemeinen nicht interessiert sein. Ich war daher überrascht, als er mich 1945 an einem Sommerabend in Hollywood aufsuchte. Seine Sprache, Französisch mit ein paar slawonischen Brocken, und seine unsicheren Bewegungen machten ihn mir gleich sympathisch. Wir sprachen über die orthodoxe Kirche, und er besichtigte meine Ikonen. Am nächsten Tag hörte ich ihn in Hollywood Prokofjews Drittes Klavierkonzert dirigieren und spielen, eine erstaunliche Entfaltung von Virtuosität.
Leonard Bernstein besuchte mich 1945 eines Tages in New York. Sein Besuch sollte nur ein paar Minuten dauern, nahm aber den ganzen Tag in Anspruch; der junge Bernstein war gesprächig und liebenswert (was er noch ist), und offensichtlich betete er die Musik an (was er noch tut). Er war auch äußerlich attraktiv, sah noch nicht wie ein Löwe aus, sondern trug einen sehr kleidsamen Haarschnitt. Seitdem ist Mr. Bernstein sehr bekannt geworden - es besteht sogar der Verdacht, dass die Technik seiner Karriere von Raketenspezialisten studiert wird. Ich wäre nicht überrascht, wenn ich demnächst hören würde, dass er mehrere Konzerte zugleich dirigiert, indem er in der Carnegie Hall den Auftakt gibt, dann wegrast, um die ersten Takte eines anderen Konzerts im Lincoln Center zu dirigieren, und immer weiterreist, während seine Untergebenen - denn er ist jetzt eine Firma - einspringen und die verschiedenen Musikstücke zu Ende führen.
Aber wie trostlos wäre New York ohne Leonard Bernstein. Ein paar Tage nach unserem ersten Treffen hörte ich seine Aufführung meiner Psalmen -Symphonie. Uff!“
* Amerikanischer Komponist (1874 bis 1954).
** Von Richard Strauss.
Wir wollten diesen herrlichen Artikel nicht kürzen, auch wenn ein paar Dirigenten namentlich erscheinen, die keinen für unseren Vergleich relevanten Beitrag zur Diskographie der „Sinfonie in drei Sätzen“ geleistet haben.
Zusammenstellung beendet am 6.4.2022

Igor Strawinsky ungefähr zur Zeit der Komposition der "Sinfonie in drei Sätzen".
Vergleich der gehörten Einspielungen:
5
Sir Eugene Goossens
London Symphony Orchestra
Everest
1958
10:22 6:24 6:36 23:22
Download Sir Eugene und das LSO nehmen den für Strawinsky-Verhältnisse ausnahmsweise auch verbal dargelegte martialische Bezug der Sinfonie besonders deutlich ins Visier. Der Orchesterklang wird auf ganz besondere Art und Weise dynamisch ausgereizt bis zum letzten. Wenn fff in der Partitur steht wird auch tatsächlich fff geliefert, schonungslos und nicht nur alibiweise. Man merkt es auch den spezifisch angereicherten Obertönen an, dass das Orchester an seine Grenzen geht, nicht nur an der tatsächlich erzeugten Lautstärke, die im Falle einer Aufzeichnung immer auch technisch mehr oder weniger stark beeinflusst wird. Hier kommt beides zusammen das Orchester liefert und die Technik, obwohl bereits erstaunlich betagt, begünstigt bzw. nimmt nicht zu viel vom tatsächlichen Klang weg. Die Pauke klingt fast schon wie eine Kanone und die Gran Cassa, sonst zur Frühzeit der Stereophonie oft ein diskret in die Ecke gestelltes Instrument der diskreten Fülle, mit deren Dynamik die Technik regelmäßig überfordert war, klingt hier nach realer Explosion. So einen Klang muss man explizit beabsichtigen, um ihn so hinzubekommen. Die anderen bringen davon jeweils nur mehr oder weniger kleine oder auch größere Bruchteile. Das Spiel auch des übrigen Orchesters wirkt noch intensiver und scharfkantiger als bei Strawinskys Maßstab setzender Darbietung von 1961. Und das will was heißen. Es kommt so ein illustrativer, naturalistischer Zug noch zusätzlich hinzu, der sich anderen Versionen nicht in dieser Form erschließt. Man hört vom ersten Takt an, der Dirigent weiß genau worum es geht. Vor Zf. 7 beachtet er auch die kleine Pause, hebt sie sogar hervor. Ein Beispiel wie genau man in die Partitur geschaut hat um solche Kleinigkeiten plastisch werden zu lassen. In anderen Einspielungen merkt man davon wenig bis nichts. Goossens fördert die Spannung durch diese kleine Maßnahme noch zusätzlich. Das Blech klingt ganz hervorragend derb und ungeschönt. Der Klang neuerer Aufnahmen, gerade des Blechs, wirkt dagegen zu glatt und glänzend und damit der Aufgabe weniger gerecht werdend. Der Gestus wirkt ungemein dynamisch, die sf und sff werden teilweise geradezu herausgeknallt. Die dialogisierenden Partien nimmt Goossens etwas langsamer als Strawinsky (ab Zf. 38). Die Wirkung von vorbeihuschenden Lichtern, wie sie Strawinsky bei einer Autofahrt (durch New York?) erlebt haben will und sozusagen „vertont“ hat, bleibt jedoch erhalten. Die Akkorde aus Beethovens „Eroica“ aus der Durchführung des ersten Satzes, als „der Held“ vor Verzweiflung nicht mehr weiter weiß, die Strawinsky hier zitiert, gibt Goossens explizit als solche zu erkennen. Man erkennt übrigens genau, ob ein Dirigent die Akkorde als Zitate erkennt, dann klingen sie auch genau so. Ansonsten wirken sie mitunter deutlich unspezifischer, undeutlich oder verwischt. Übrigens schaut nicht nur Beethoven sondern auch Herr Brahms mal kurz in diesem Satz vorbei. Strawinsky portraitiert ja oft in seinen neoklassizistischen Stücken Werke der Vergangenheit und Zitate sind da keineswegs selten (z.B. Pergolesi in Pulcinella). Das Klavier wird als konzertierendes Instrument verstanden und verbleibt selten als nur farbgebend im Kontext. Dieses Mal hören wir es von rechts, was für ein explizid-konzertierendes Element eine ungewöhnliche Position ist. In den übrigen Einspielungen kommt es immer von links. Wie das Orchester langt auch der Pianist richtig zu, sodass der Klavierklang bereits ein wenig zu scheppern beginnt. Trotzdem verdient er sich ein gesondertes Bravo, denn er versucht manchmal einfach großartig gegen das Orchester anzuspielen.
Im 2. Satz erleben wir in dieser Aufnahme eine vollendete Balance zwischen den beiden konzertierenden „Soloinstrumenten“ Flöte und Harfe sowohl untereinander als auch mit dem Orchester. In den weitaus meisten Darbietungen erhält die Flöte ein nicht durch die Partitur zu rechtfertigendes Übergewicht über die Harfe, wird zumeist auch klangtechnisch noch ein wenig nach vorne geholt. Das klingt zwar gut, widerspricht aber der kompositorischen Absicht. Die Holzbläser (Blechbläser und Schlagzeug müssen in diesem „apollinischen“ Satz ohnehin schweigen) hingegen setzen die vielfältigen Anweisungen wie dolce, dolcissimo oder espressivo nicht so gut um wie z.B. die Kollegen vom IPO (Bernstein), von den Berlinern (Rattle, Boulez) oder vom OSR (Dutoit) oder anderen später entstandenen Spitzeneinspielungen. Gespielt wird jedoch in bestechender Klarheit und der Mittelteil wird geradezu expressionistisch übersteigert, sodass man sich an die orchestralen Zwischenspiele aus Bergs „Wozzeck“ erinnert fühlen kann. Das „Lied der Bernadette“ wird hier fast zum Lied der Marie. Insgesamt bringt diese Einspielung ein sehr gelungenes Ineins der tänzerischen Elemente eines Scherzos und eines herkömmlichen klassischen langsamen Satzes.
Auch im 3. Satz lässt Sir Eugene wieder die Kanonen sprechen. Dabei geht die Gran Cassa durch Mark und Bein. Sie wirkt in ihrer Intensität keineswegs übertrieben oder vordergründig, sondern in hohem Maß sinnstiftend. Die rohe Marschgestik wird generell hervorragend umgesetzt, auch der Fortgang der Ereignisse hören wir mit unmittelbar fesselnder Brisanz. Ab Zf. 148 spielen die Fagotte tatsächlich in einem expressiven Marcato, wie es nur selten gelingt. Das Horntremolo zwischen Zf. 167 und 168, das bei Salonen so ungemein furchteinflößend wirkt, ist hingegen bei Goossens gar nicht zu hören. Es wird leider von sehr vielen Dirigenten nicht hinreichend als Chance zum Ausdruck verstanden, mitunter gar gänzlich ignoriert. Aber dafür ist die Harfe beim Fugato in völliger Äquilibristik zum Klavier zu hören. In fast allen anderen Einspielungen muss sie dem Klavier gegenüber oft überdeutlich zurückstehen. Die Aufnahmesituation böte hier gegenüber dem Konzerteindruck durch geschickte Platzierung oder Mikrofonierung die Gelegenheit, es nicht so weit kommen zu lassen. Hier wurde sie einmal vortrefflich genutzt. Ab Agitato bietet diese Einspielung auch einen herausragend spannungsvollen Steigerungsverlauf mit einer heftig „detonierenden“ Gran Cassa. Der Gestus wirkt enorm expressiv und angeschärft (wie in den entsprechenden Episoden im 1. Satz). Das Finale, wie bei Bernstein auch als Stretta genommen, bietet zwei bärenstarke Schlussakkorde, der erste vorbildlich als Lunga-Fermate lange ausgehalten, der zweite als fetziger Akzent noch hinterher gedonnert. Das LSO urplötzlich im perfekten Super-Big-Band-Sound eines Glenn-Miller-Orchestra.
Der Gesamtklang wirkt ein klein wenig scheppernd, wenn es richtig laut wird. Daran gewöhnt man sich sehr schnell, denn ein Teil des undomestizierten Auftritts geht auch auf diesen Klang zurück. Er ist aber auch sehr transparent, sehr gut gestaffelt und ungemein dynamisch. Der 1. und der 3. Satz wirken leicht angeraut. Alle drei Sätze klingen sehr präsent, der mittlere zudem auch noch weich, rund und sehr plastisch. Der Hochtonbereich hat gefühlt im Laufe der Jahre etwas Patina angesetzt. Wir hörten einen Download in CD-Qualität. Mittlerweile wird aber ein neuerer in High-Res-Auflösung ebenfalls (für viel Geld) angeboten, der dieses kleine Manko wahrscheinlich auch noch „auflöst“. Als LP oder CD ist diese Meisterleistung kaum noch zu bekommen.
5
Dimitri Kitajenko
Grosses Rundfunk- und Fernsehsinfonieorchester Moskau
Ursprünglich Melodija, derzeit als Download bei EMG Classical, Blaricum oder Best Buy Classical erhältlich
AD ?
9:12 5:47 6:12 21:11
Download Bei dieser Aufnahme, deren Aufnahmedatum wie vom Geheimdienst geflissentlich bei allen Downloads verheimlicht wird, kann der heutige Interessent auf mindestens drei verschiedene Downloads zurückgreifen, wobei vor der Best-Buy-Classical-Version eindrücklich gewarnt werden muss. An editorischer Schlamperei ist sie kaum noch zu überbieten. Es fiel den Verantwortlichen nicht auf, dass der 3. Satz nicht der originale ist, sondern ein „echtes“ Jazz-Stück gespielt von einer natürlich ungenannten Big Band (sonst fiele es ja auf). Nur einem Kenner könnte das vor dem Kauf bereits auffallen, denn die Spieldauer ist mit über acht Minuten verdächtig lange. Wir sind auch in die Falle „reingefallen“.Der langen Rede kurzer Sinn: Der richtige Name des Labels müsste Bad Buy Classical oder Wicked Buy Classical lauten. Die Häme erscheint angebracht.
Der Wert der Einspielung ist indes immens und wir würden meinen keineswegs geringer als der der Goossens-Einspielung. Wobei das Werk nun einen ganz anderen Klang erhält. Das Moskauer Orchester spielt wieselflink als gelte es Mendelssohns „Sommernachtstraum“. Staccato und Marcato wirken kurz und prägnant, Ersteres gestochen scharf wie Nadelstiche, letzteres eher wie eherne Faustschläge. Die Akzentuierungen wirken sehr klar und heftig. Die Phrasierung und der Klang noch schärfer umrissen (fast schon ätzend scharf) als bei Strawinsky selbst. Da mag es auch eine Rolle spielen, dass das Moskauer Orchester ein eingespieltes Team, während das Columbia Symphony Orchestra bei Strawinsky doch mehr ein „Muckenensemble“ ist. Allerdings ein hochkarätiges. Das Klavier wird sehr plastisch in Szene gesetzt. Vor allem die Beiträge der (Blech)Bläser erklingen mit äußerster Prägnanz. Wenn verlangt auch mit schneidender Schärfe und fast einschüchternder Präzision. Aber auch das Holz spielt enorm ausdrucksvoll. Aber wir sollten keine Gruppe herausnehmen, denn das ganze Orchester bietet einen enorm drängenden, druckvollen, brisanten Gestus und wirkt hoch konzentriert. Bei keiner anderen Version hatten wir den Eindruck, dass das Orchester das Werk dermaßen verinnerlicht hat.
Auch im 2. Satz präsentiert sich das Orchester von seiner besten Seite. Wenn man den speziellen russischen Instrumentenklang jener Zeit (wir nehmen an, die Einspielung könnte von 1965 bis 85 entstanden sein) einmal ein wenig abstrahiert, werden die Anweisungen cantabile, espressivo, dolce und gar dolcissimo auf bestechende Weise umgesetzt. Auch das konzertierende Miteinander gelingt hervorragend plastisch und wunderbar transparent. Der Gestus passt besonders gut zu der (unwirklichen) Szenerie der Marienerscheinung in Lourdes, wovon die Musik für den Film eigentlich handeln sollte. Uns erschien dieser Satz von allen zweiten Sätzen des Vergleiches als besonderes Glanzstück.
Im 3. Satz beeindruckt die messerscharfe Marschrhythmik. Das Fagottduo erklingt leider nicht im vorgesehenen p. Das Fagott hatte der Dirigent (und die Technik) auch im weiteren Verlauf besonders im Fokus. Aber auch die hier so wichtigen Teile des „Concerto grosso“, wie es in der Barockzeit hieß, Harfe und Klavier werden hervorragend in Szene gesetzt. Auch das hat sich Strawinsky „abgeguckt“ dieses Mal aus der Barockzeit, zu denken wäre an Händel, Corelli oder auch Bach. Besonders beeindruckend auch im 3. Satz die bestechend scharf schneidenden Akzente des Blechs (Vorsicht: „Bissiges Blech“ wäre auf die Hülle der LP bzw. CD zu schreiben, wenn es eine gäbe.)
Die ganze Wiedergabe wirkt hoch spannend, es gibt keine Sekunde Leerlauf. Es wird durch die spontane und aus heutiger Sicht vielleicht auch ein wenig frech und unkultiviert wirkende Spielweise „Gänshaut pur“ erzeugt. Dies ist eine Farbe, die bei Bernsteins, Tilson Thomas´ oder Dutoits orchestral enorm geschliffenen Einspielungen fehlt.
Der Klang lässt eine optimale (äußerste) Transparenz hören. Das Orchester wirkt sehr gut aufgefächert. Klanglich wirken besonders die Violinen ein wenig scharf. Der Aufnahmeraum schwingt kaum mit. Der Klang wirkt also ziemlich trocken, aber keinesfalls „tot“. Bei der moderaten Dynamik des zweiten Satzes mischen sich sogar (wie bei der Goossens-Aufnahme) noch etwas weiche Sonorität und etwas Wärme mit in den Gesamtklang hinein. Durch die dichte Präsenz wirkt das Orchester enorm plastisch und hautnah erlebbar. Die Gran Cassa klingt “nachhaltig“, aber nicht gerade besonders tief und trocken, hat zwar einiges Volumen, bekommt aber bei weitem nicht ein so starkes ausdrucksvolles „Eigenleben“ wie bei Goossens.
5
Igor Strawinsky
Columbia Symphony Orchestra
CBS – Sony
1961
9:23 5:58 5:54 21:15
Der Komponist dirigierte seine eigenen Werke (von der Einnahmequelle einmal ganz abgesehen) vor allem, um den anderen Dirigenten und natürlich dem Publikum zu zeigen, wie er sich die Wiedergabe seiner Werke selbst vorstellte und wie sie als richtig zu gelten habe. Sie stellen also nichts anderes dar als „Musterinterpretationen“. Wiewohl mitunter hartnäckig behauptet wird, Strawinsky sei, wie viele andere Komponisten auch, kein besonders guter Dirigent gewesen, können wir diesem Verdikt nicht folgen. Vielmehr ist es Strawinsky sehr wohl gelungen, zumindest in diesem Fall, eine Musterinterpretation vorzulegen, an der noch heute kaum jemand vorbei kommt. Mag sein, dass es die schwierigen Taktwechsel geschmeidiger dirigierende „Pultgrößen“ gibt, aber niemand kann das Werk besser kennen als der Komponist selbst und dieser tiefe „Background“ hört man auch mit. Laut Strawinsky darf es eigentlich keine Interpretation geben, denn wie er meinte, drücke die Musik nichts aus, als sich selbst und darf möglichst nichts oder nur sehr wenig vom „Interpreten“ enthalten. Kontrastschärfe und Präzision sind ihm besonders wichtig; das Nebeneinandersetzen von homogenen oder auch inhomogenen Abschnitten erfolgt beim Komponisten Strawinsky übergangslos, der „Interpret“ folgt ihm darin hautnah und starke Kontraste setzend. Die kämpferischen Elemente (der Mensch als Teil der Kriegsmaschinerie) werden ungeschönt transportiert. Die große Nähe (barbarische Handlungen in beiden Fällen) zum „Sacre“ (explosive Rhythmik, Montage von kurzen musikalischen Partikeln) erscheint passagenweise noch ganz frisch. Der Duktus erscheint passender Weise besonders wuchtig und kraftvoll. Das Blech klingt besonders exponiert mit vehementer, fast aggressiver Diktion, das Staccato (nicht so nadelstichig wie bei Kitajenko) und auch das Marcato wirken besonders intensiv. Die „Rumba“ (ab Zf. 13) erklingt bei Strawinsky soweit möglich als solche. (Bei einem Probenmitschnitt mit dem Sinfonieorchester SWF empfahl er dem Orchester, dieser Abschnitt sei so zu spielen „wie eine Rumba“) Das Tanzbein möchte man jedoch in diesem Umfeld nicht unbedingt schwingen. Auch der „Walking Bass“ kommt gut zur Geltung. Jedoch seien zwei Kritikpunkte erlaubt: das Klavier könnte präsenter klingen, um seinen Aufgaben als Partner, wie fast in einem Klavierkonzert überzeugender realisieren zu können (wie bei Goossens geschehen) und dem sehr präzisen und sehr genau phrasierenden Orchester geht etwas der Charme ab, was aber erst im 2. Satz gravierender auffällt. Das Orchester ist übrigens nicht das der amerikanischen Stadt Columbia, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern ein extra zu Aufnahmezwecken von der sich damals „Columbia“ nennenden Plattenfirma zusammengezogenes Ensemble, das auch Bruno Walter bei seinen finalen Aufnahmen zur Seite gestellt wurde. In diesem Fall, wie auch bei Strawinsky wurde in Hollywood, also wohnortnah aufgenommen. Die meisten Musiker dürften also aus Los Angeles gekommen sein, ergänzt um ausgewählte Solisten und Stimmführer aus New York und/oder anderen amerikanischen Spitzenorchestern, die vornehmlich sowieso schon bei CBS unter Vertrag standen.
Der 2. Satz gewinnt unter Strawinsky eine besonders gelöste und entspannt wirkende Note. Die vertrackt schwierigen Melodien (wer wollte sie nachpfeifen?) wirken unangestrengt, leicht und locker. Ja durchaus auch heiter. An Klangfülle müssen sich die Solisten jedoch ihren Kollegen in moderneren Einspielungen geschlagen geben. Z.B. bei Boulez, Rattle oder besonders bei Bernstein werden noch zusätzliche Dimensionen der solistischen Eloquenz erschlossen. Mit den in diesem Satz verschwenderisch vergebenen Zusätzen wie dolce, dolcissimo, cantabile oder espressivo können die Solobläser in den Spitzenorchestern der heutigen Zeit erheblich mehr Individualität herbeizaubern. Strawinsky lässt die Holzbläser-Exkursionen geradezu witzelnd und ironisch klingen. Der im Satz angelegte Scherzocharakter (ganz ungewöhnlich bei einem langsamen Satz) wird von Strawinsky stark betont. Wäre es ihm zuzutrauen, dass er sich mit der „Zusammenlegung“ von zwei Satzcharakteren in einem Satz die Komposition eines vierten Satzes sparen wollte? Die Gewichtung der verschiedenen Stimmen gelingt Strawinsky hervorragend. Zu erwähnen wäre hier auch noch die besondere Beachtung der tiefen Stimmen, was übrigens für alle drei Sätze gilt.
Der 3. Satz wirkt bei Strawinsky enorm straff aber auch con moto. Die Blechbläser setzen fast schon beängstigende Akzente. Der Gestus wirkt rau, ungeschliffen, martialisch. Das ganze Orchester wird perkussiv genutzt. Die teilweise klaustophobische Stimmung (wie in einem Hitchcock-Reißer) wirkt ebenfalls nicht unbeabsichtigt. Das Spiel des Orchesters erscheint fantastisch rhythmisiert. Da wurde sicher auch fleißig geprobt. Die Intensität scheint den ganzen Satz über nicht nachzulassen. Das Horntremolo, das bei Salonen so ins Ohr fällt, ist bei Strawinsky übrigens gar nicht zu hören (Zf. 167-168), obwohl es in den Noten erkennbar ist, aber nicht expressis verbis darauf hingewiesen wird. Strawinsky selbst scheint es nicht so wichtig gewesen zu sein, oder sollten es die Hörner nicht hingekommen haben? Insgesamt hören wir einen extrem expressiven Impetus und eine enorm dynamische Kraftentfaltung. Dies alles wirkt tatsächlich maßstabsetzend, wie von Strawinsky beabsichtigt. Das Ganze wirkt umso erstaunlicher, da Strawinsky selbst bei dieser Aufnahme bereits stolze 79 Jahre zählte. Man sagt, er wäre bei der Probenarbeit von seinem Assistenten Robert Craft unterstützt worden. Unzweifelhaft bleibt: der Interpret Strawinsky hat sich für den Komponisten Strawinsky hörbar mächtig ins Zeug gelegt. Gegenüber den anderen beiden Einspielungen von 1946 und 1958 wäre die 61er vorzuziehen, schon alleine aus klanglichen Gründen. Ansonsten ähneln sich alle drei ziemlich deutlich.
Die 1961er wirkt enorm transparent mit einem fast schon holographisch aufgedröselten klanglichen Geschehen. Das Orchester wirkt vor allem in der Breite sehr gut gestaffelt, weniger jedoch in die Tiefe hinein. Der Klang wirkt enorm präsent und präzise aber eher trocken. Die Dynamik ist enorm, besonders, wenn man das Alter der Einspielung mit in die Betrachtung einbezieht. Die gleich in unserer Liste nachfolgende Einspielung Bernsteins von 1982 wird diesbezüglich, also in der Dynamik, klar übertroffen. Das Holz steht ganz besonders im Fokus und wird dicht an den Hörer herangeführt.
▼ zwei weitere Aufnahmen mit Strawinsky als Dirigenten in der Liste
5
Leonard Bernstein
Israel Philharmonic Orchestra
DG
1982
9:59 6:37 6:05 22:41
Dem Orchester gelingt eine Wiederholung des Kabinettstückchens, das ihm bei seiner Aufnahme der „Sinfonischen Metamorphosen“ von Paul Hindemith, ebenfalls mit Leonard Bernstein, geglückt ist. Die Perkussivität im „kriegerischen“ Eröffnungsteil des 1. Satzes wird unerbittlich herausgestellt. Dies entspricht der Außenwelt, die Stawinsky später wieder, normaler Weise wäre das dann nach der Durchführung, bei der Reprise erneut schmerzlich und drastisch hereinbrechen lässt. Eine Durchführung im herkömmlichen Sinne gibt es nicht mehr, alles ist bei Strawinsky zur Durchführung geworden, wenn man so will. Dazwischen ereignen sich die konzertanten Passagen, dicht und wechselhaft und mehr oder weniger schlaglichtartig aufeinander folgend, die bei Bernstein ganz besonders plastisch herausgearbeitet werden. Wie Strawinsky war auch Bernstein ein hervorragender Pianist, weshalb die besonders stimmig, prägnant und brillant wirkenden solistischen Klavierpassagen auffallen. Das hoch konzentrierte Orchester wirkt immer wie auf dem Sprung, agiert präzise und phrasiert mit einer ungemein „sprechenden“ Diktion. Die dialogischen Passagen wirken auch von Seiten des Orchesters sehr plastisch. Die dolce-Spielanweisungen werden gut heraushörbar. Das Konzertieren erhält einen eher neobarocken als einen neoklassizistischen Anstrich, die „Gespräche“ wirken mitunter wie Geplapper. Der klare Klang unterstützt das beste Interagieren der Instrumente und der Intrumentengruppen vortrefflich. Auch die reichhaltigen instrumentalen Valeurs werden so prima offengelegt. Die Klarinette am Ende des Satzes intoniert ihr marcato articolato weniger als höhnisches oder sarkastisches Gelächter etwa nach Schostakowitschs Vorbild, sondern wirkt vielmehr als ein trotz des erneuten Einbruchs der martialischen Außenwelt kurz zuvor, wie ein oberflächliches Weiterplappern. Der rhythmische Drive der Wiedergabe überzeugt im ersten wie auch im dritten Satz.
Glanzpunkt der Einspielung ist jedoch der Mittelsatz. Wie beim Ballett „Apollon musagète“, welches das Apollinische schon im Namen trägt und an das Strawinsky nun erinnert, ist das Leichte und Schwerelose hier bei der Darstellung besonders wichtig. Mit mehr Empathie und wahrscheinlich auch Können als Strawinskys Orchester nimmt sich Bernstein und das IPO nun den Vorschriften zum zarten und ausdrucksvollen Spiel an. Dolce, dolcissimo, espressivo und sogar dolce espressivo steht da und Bernstein lässt auch genauso spielen. Er hat keine Angst davor bei den Kritikers nicht als objektiv genug für einen Strawinsky-Interpreten dazustehen. Auch ein verfeinertes Gespür für die metrischen Details fällt auf. Die Hinwendung zum Einzelschicksal wie bei Bergs „Wozzeck“, hier mit dem „Lied von Bernadette“ von Strawinsky kompositorisch grundgelegt, wird von Bernstein noch ein wenig deutlicher gemacht, löst noch ein wenig mehr Betroffenheit aus.
Der 3. Satz kommt zunächst in Hinsicht auf unerbittliche Härte kaum an Goossens, Kitajenko oder Strawinsky selbst heran, obwohl Pauke, Gran Cassa und Blech sehr gut akzentuiert werden. Das Spiel wirkt hier ein wenig zu leicht, nicht wuchtig genug. Die so wichtigen Fagotte spielen jedoch ein gut ausgeprägtes Marcato. Der Satz wirkt insgesamt ein wenig schlanker als bei den drei Einspielungen zuvor. Das Orchester spielt traumhaft sicher und mit mehr Schmelz als das Columbia SO bei Strawinsky. Die Synkopen wirken spannungsgeladen, die Entwicklung des Satzes, sozusagen die „Entwicklungskurve“ der letzten Kriegsmonate, von Strawinsky auf wenige Minuten zusammengepresst, werden von Bernstein hellhörig nachgezeichnet. Das Tempo wirkt genau getroffen.
Es ist anzunehmen, dass Bernstein die Einspielung Strawinskys sehr gut kannte, er und das Orchester aber zudem noch etwas weichere und reichere Valeurs und ein empathischeres Spiel mit einbringen konnten. Die beiden Schlussakkorde erklingen im waschechten Glenn-Miller-Sound. Diese kleine Überraschung bietet nur Bernstein und er hebt sie sich bis zum Schluss auf: Er gibt dem vorletzten langen Lunga-Akkord ein lebendig wirkendes Diminuendo mit, was die Durchschlagskraft des nachfolgenden kurzen Akkords subjektiv noch einmal deutlich verstärkt. Das steht zwar nicht in den Noten, macht aber Eindruck und hätte vielleicht sogar dem Herrn Compositeur gefallen, der ja auch bisweilen zu Scherzen aufgelegt war. Der Akkord in seiner harmonischen Zusammensetzung ist als solcher eigentlich in diesem Zusammenhang bereits ein Scherz. Manch ein Zuhörer wird sich deshalb ungläubig die Ohren gerieben haben. Als Entschuldigung für dessen übermäßige „Kommerzialität“ meinte Strawinsky ja, wir erwähnten es bereits: „Die Amerikaner wollen das so...“ Heute würden man es vielleicht eher so formulieren: „Die Amerikaner fahren da voll drauf ab“. Ja, dann... Insgesamt wirkt die Einspielung Bernsteins gefühlvoller und emphatischer als die von Strawinsky selbst.
Der Klang der Aufnahme wirkt ausgezeichnet durchhörbar (kristallklar), Die Staffelung des Orchesters überzeugt, die Balance zwischen trockener Straffheit und weicher Klangsinnlichkeit und Fülle ebenfalls. Die Gran Cassa klingt knackig.
5
Charles Dutoit
Orchestre de la Suisse Romande, Genf
Decca
1981
9:38 6:06 5:59 21:43
LP Das Orchester der romanischen (französisch sprechenden) Schweiz hat das Werk zuvor bereits mit Ernest Ansermet und danach erneut mit Neeme Järvi eingespielt. Alle drei Einspielungen sind mindestens gelungen oder besser, die mit Dutoit kann man sogar als glückhaft gelungen zu bezeichnen. Obwohl zu allererst der anspringende Impetus und der sehr prononcierte, zugespitzte Klang (insbesondere des Blechs) auffallen ist dieser Einspielung eine ganz besondere Eleganz eigen, so als wäre die Sinfonie nicht von Amerikanern bestellt und für sie komponiert und ihnen zugedacht worden, sondern für Paris oder eben auch Genf. Das Orchester hat sich die Sinfonie völlig zueigen gemacht. Es spielt in ganz hervorragender Form, völlig losgelöst von allen Schwierigkeiten, die die Komposition bietet, vor allem den rhythmischen. Das Klavier ist sehr gut hörbar, das ganze Orchester konzertiert quasi mit sich selbst und wirkt dabei geradezu beseelt. In den dialogisierenden Passagen kommt sogar ein beschwingter Gestus mit ins Spiel, der aber keineswegs oberflächlich wirkt oder gar unangebracht wäre. Die bereits angesprochene „Rumba“ ist ein Paradebeispiel dafür. Das Spiel ist rhythmisch außerordentlich prononciert und reich an treffenden Akzenten. Obwohl die Wirkung kaum an die fast naturalistisch und „knallharte“ Gangart von Goossens oder Strawinsky selbst herankommt, lässt die Produktion eine ganz erstaunlich Nähe zum Sujet erkennen. Vor der im besten Sinn virtuosen Orchesterleistung zu der auch ein genauestens schlagender und inspirierender Dirigent gehört, muss man einfach den Hut ziehen.
Im 2. Satz kommen die hervorragend eloquenten und leicht klingenden Soli vortrefflich zur Geltung, ohne sich aber aufzudrängen. Man beweist einen außerordentlichen Sinn für die leichten, filigranen Züge der Komposition. Die Scherzo-Elemente werden sehr deutlich gemacht durch die federnde Leichtigkeit und tänzerische Eleganz. Ob Dutoit das Publikum wie Strawinsky in seiner Einspielung zum Schmunzeln bringen wollte, bleibe einmal dahingestellt, sehr sinnlich wirkt seine Darstellung jedenfalls. Das Orchester stellt die zahlreichen dolce und cantabile des Satzes eindeutig besser dar als das Columbia SO mit Strawinsky. Auch die Übersinnlichkeit der Marienerscheinung des Werfel-Romans im „Lied von Bernadette“ ist bei Dutoit in den besten Händen.
Wer nun meint der elegant-sinnliche Zugang könne im martialischen 3. Satz kaum zum Erfolg führen wird von der Flexibilität des Orchesters, das die Hörer in dieser Einspielung einfach nur staunen lässt, überrascht sein. Das Blech klingt nun wuchtig die Garn Cassa klingt markerschütternd. Das Marcato wirkt überzeugend. Trotz des martialischen Themas gelingt dem Orchester eine anspringende Spielfreude. Die rhythmische Unerbittlichkeit wird hier sogar zum Genuss. Die Fuge, oder vielmehr das Fugato (4 Takte nach Zf. 169, Alla breve), denn zur echten Fuge fehlt noch viel, klingt ganz besonders transparent. Hier geht es ja auch um den Versuch der Deutschen nach Stalingrad ihre Kriegsmaschinerie wieder aufzubauen, ans Laufen zu bekommen, (der D-Day gab ihnen dann bekanntlich den Rest). Diese bizarren Bemühungen des Wiederaufbauens hätten auch keine echte Fuge, die wirklich etwas aufbaut, verdient gehabt. Strawinsky versuchte das alles in die paar Minuten mit einzubringen. Das wirkt ohnehin aphoristisch. Bei Dutoit wirkt das alles dann vielleicht doch etwas zu schön um wahr zu sein. Übrigens ein Sonderlob geht an die Hörner des Orchesters, die seit der frühen Ansermet-Zeit überhaupt nicht mehr zu erkennen sind. Die Schlussakkorde lassen an jazziger Farbigkeit und satter Dynamik nichts zu wünschen übrig.
Dem besonders sinnlichen Zugang Dutoit gebührt das Verdienst die zunächst schwierig zu hörende Musik Strawinskys besonders zugänglich machen, ohne dabei den Geist der Musik zu verraten. Diese Einspielung sei jedem empfohlen, der das Stück kennenlernen möchte. Weniger dissonant hört sich kaum eine andere an.
Klanglich ist die Einspielung herausragend. Sie übertrifft die Aufnahme Ansermets von 1960 auch klanglich deutlich, was für eine frühdigitale Aufnahme gegenüber einer guten analogen Decca eine Rarität darstellt. Die Pauke klingt sehr klar und trocken, nicht verwaschen wie so oft. Die Gran Cassa fulminant. Die Aufnahme wirkt sehr dynamisch, transparent und wie bereits mehrfach erwähnt sehr sinnlich. Die Präsenz ist einfach optimal, gerade auch bei den sonst so oft viel zu indirekt klingenden Hörnern. Und sie wirkt auch viel wärmer und runder als die Kitajenko-Aufnahme aus der UdSSR. Die Pressung der LP erwies sich als nahezu geräuschlos.
5
Constantin Silvestri
Philharmonia Orchestra, London
EMI, BnF
1960
9:35 6:28 5:46 21:49
High-Res-Download einer digitalisierten LP der Bibliothèque national de France Silvestri und die Londoner bieten eine hervorragende Imagination von Stechschritt und “verbrannter Erde”, außerordentlich drängend, mit furioser Härte und imponierender Unerbittlichkeit gespielt. Das klingt ähnlich intensov wie nur zwei Jahre später bei Klemperer, aber erheblich zügiger und mit mehr Lebendigkeit erfüllt. Auch das Klavier kommt zu seinem Recht solistischer Partner zu werden (ab Zf.38). Die sf und sff klingen mit Kraft und Nachdruck, sodass sich der konzertierende Charakter zu einem Streitgespräch hochschaukelt. Der Gestus wirkt so überaus kontrastreich. Das berühmt-berüchtigte Philharmonia-Holz gefällt mit „ätzend“-scharfer Phrasierung und kann so den dünnen. Harten Klang gewinnbringend einsetzen (z.B. Zf. 102). Wir hören eine ungemein plastische Darstellung des ersten Satzes. Die Klarinette klingt am Ende sehr überzeugend mit durchweg markiger Intonation und verschwindet nicht hinter den erheblich leiser zu spielenden Streichern. Auch das ein pars pro toto, das uns erkennen lässt, wie wichtig dem Dirigenten auch kleinere Details sind. Hervorragend!
Auch Silvestri erkennt die scherzohaften Elemente im langsamen Satz und stellt sie voll heraus. Die Soli von Flöte und Klarinette protzen geradezu mit ihrer Virtuosität, legen dickes Make-up auf. Auch Silvestri lädt den Mittelteil 1 T. nach Zf. 125 enorm expressiv auf. Seine heraufbeschworene Atmosphäre wirk besonders unheimlich oder unheilvoll oder übersinnlich. Die Basslinie bringt Silvestri immer wieder sehr gut zu Gehör. Übrigens sind die Violinen des PO nicht wie bei Klemperer antiphonisch auf der Bühne positioniert.
Silvestri schaut auch im 3. Satz ganz genau hin: Das Crescendo der Tuba (!) und des Kontrafagott 1 T vor Zf. 144 kommt sehr deutlich rüber.
Er beginnt jedoch: „Im Stechschritt vorwärts, Marsch!“ Sehr rhythmisch und akzentuiert erklingt der 3. Satz ebenso enorm ausdrucksstark. Silvestri bemerkt auch das Horntremolo (2 T. nach Zf. 167) und lässt es gut hervorgehoben erklingen. Die Fuge erhält eine gespenstische Präsenz. Das Philharmonia Orchestra als Big Band hören wir in den beiden letzten farbstarken Schlussakkorden. Ingesamt liegt hier eine furiose Einspielung vor.
Der Klang der digitalisierten LP ist transparent, präsent, unmittelbar und recht gut gestaffelt. Er ist fast rauschfrei und nur im leiseren Mittelsatz hört man leichtes Rumpeln. Dynamisch liegt sie unter dem Stand modernerer Einspielungen oder auch höchstwahrscheinlich des Remasters, das EMI bzw.Warner von der Sinfonie mittlerweile innerhalb der Icon-Serie wieder auf den Markt gebracht hat.
5
Michael Tilson Thomas
San Francisco Symphony Orchestra
Eigenlabel des Orchesters
Saison 2019/20, live
10:02 6:03 6:09 22:14
London Symphony Orchestra
RCA, live
1991
9:14 6:23 6:10 21:47
Download (San Francisco) Von MTT gibt es zwei Einspielungen, die im Abstand von über 25 Jahren entstanden sind. Er dirigierte jeweils das Orchester, dessen Chef er zum Aufnahmezeitpunkt war. Beide sind gleichermaßen hochkarätig und es würde schwer fallen, wenn man sich für eine entscheiden müsste. Die Live-Einspielung aus San Francisco gibt es wie häufig heutzutage nur noch im Streaming oder als Download.
Beginnen wir doch in London. Das Tempo erscheint ausgesprochen beherzt, deutlich schneller als später mit de SFSO. Das Blech klingt mit aller Schärfe, jedoch bleibt sein Schönklang weitgehend unangetastet. Der Rhythmus erklingt durchweg mit makantem Zugriff, das Markato-Spiel lässt nichts zu wünschen übrig. Der Hinweis, ab Zf. 13 sei die Passage wie eine Rumba zu spielen, wird von MTT beherzigt. Spätestens hier wird klar, er kennt „seinen“ Strawinsky. Das Klavier wird allerdings ein wenig achtlos an die linke Seite und ein wenig zu weit nach hinten gedrückt, ein Platz, der seiner solistischen Rolle auch klanglich nicht richtig gerecht wird. Die schnelle Abfolge der dialogisch wirkenden Passagen überzeugen ganz besonders. Das ist concertare auf höchstem Niveau, auch klanglich ist das Orchester eine Wucht. Aber und das ist einer der Hauptunterscheidungsmerkmale zur neuen Einspielung, es fehlt dem LSO gegenüber dem Orchester von der amerikanischen Westküste an Präsenz. In den 90er Jahren suchte man ein möglichst tief gestaffeltes Klangbild zu reproduzieren um dem Ideal des Erlebnisses im Konzertsaal zu entsprechen. In San Francisco rückt man den Instrumentalisten fast schon indiskret auf die Pelle. Die Aufnahme MTTs mit dem LSO ist stark mit der Dutoits verwandt, auch sie wirkt sinnlich, leichtfüßig und perfekt ausbalanciert. Der finessenreiche Edelsound erreicht jedoch nicht ganz die geschliffene lebendige Eleganz der Decca aus Genf. Das perfekt intonierte, bestens durchhörbare Marcato der Klarinette am Ende des 1. Satzes fasst zusammen, dass bei dieser Einspielung eigentlich alles stimmt. Dem gegenüber steht das SFSO dem LSO in nichts nach. Der beherzte Zugriff ist nun einer etwas gelasseneren Gangart gewichen, die es aber weder an Marcato noch an Kontrasten fehlen lässt. Auch hier hören wir wieder das perfekt und gänzlich durchhörbare Marcato der Klarinette am Schluss des ersten Satzes.
In London fällt die fast schon ironisch übertriebene Legato-Seeligkeit und das vollendete Cantabile auf, dem wohl nicht zu trauen ist. Die orchestrale Klasse fällt auf, das Spiel mit feinen Interaktionen erscheit bis zum Hochglanz geschliffen. Dolce und espressivo werden so gesteigert, dass man ins Grübeln kommt, ob der Satz tatsächlich noch zu den beiden anderen gehören soll. „Entrückt“ trifft es vielleicht am besten. Auch mehr als 25 Jahre später klingt es so schön, dass man seine Ohren nur so spitzt. Das Konzertieren wirkt lebendig und gewinnt durch das edle Klangbild noch an Verführungskraft. Auch hier die Frage: Sind wir nun in einem anderen Film? Man könnte auf die Idee kommen bei aller Schönheit wäre das Spiel selbstvergessen oder lasch, aber nein, es wirkt auch noch spannend.
Wir erinnern uns, auch bei Goossens spielte das LSO. Bei MTT hört es sich anders an. Es klingt martialisch, kräftig und sehr akzentuiert, aber dem Orchester scheint es nun ganz leicht zu fallen, sodass der Gestus viel weniger brutal wirkt. Trotzdem gelingt es MTT die Maazelsche Gleichförmigkeit, die er im 3. Satz demonstriert, übrigens noch etwas gleichförmiger bei Gergiev (ebenfalls mit dem LSO, nur nochmals über 15 Jahre später als mit MTT) zu vermeiden. Die staunenswerte Virtuosität - bei MTT ist sie kein Selbstzweck. Ein Beispiel wie gut der ehemalige Bernstein-Schüler hinschaut: Das Tremolo der Hörner 1 nach Zf. 167 klingt toll. Harfe und Klavier bilden in London fast als eine Einheit, wurden auch im Klangbild dicht zusammen gesetzt. Beigeisternde Schluss-Stretta. Die beiden abschließenden Akkorde klingen schräg-bunt. Einfach herrlich.
In San Francisco geht man noch etwas weiter. Hier klingt es fast zu schön, um wahr zu sein. Aber es ist einfach alles da, was man sich wünschen kann. Tempo, Biss. Mächtigkeit, Wucht. Aber es hätte vielleicht noch mehr gefordert klingen müssen. Wie in den beiden Einspielungen der Berliner klingt es stets ein wenig zu vollmundig, zu rund, eben einfach zu schön. An die Ausdruckskraft von (in dieser Reihenfolge): Goossens, Kitajenko und Strawinsky selbst kommen die Bemühungen nicht mehr heran. Übrigens ist es schade und seltsam, dass man vom Horntremolo beim SFSO nichts mehr hört. Vielleicht hat sich MTT die Aufnahme Strawinskys nochmals genau angehört? Klanglich klingt nur das Fugato ein wenig zu hallig, ansonsten ist die Aufnahmequalität vom Allerfeinsten.
Den Klang gilt es aber noch etwas genauer zu beschreiben, gerade für die audiophilen Hörer/innen lohnt es sich. In London klingt es offen, weich und gerundet, absolut transparent und sehr gut (und besonders) auch in die Tiefe des Raumes hinein gestaffelt. Der Streicherklang wirkt traumhaft seidig. Die Aufnahme ist dynamisch und sehr perspektivisch. Insgesamt ein audiophiler Hörgenuss.
In San Francisco scheint es zu Beginn etwas halliger zuzugehen, aber es stört überhaupt nicht. Auch hier wird das Orchester sehr gut gestaffelt, aber nicht so weit in die Tiefe, trotzdem wirkt es enorm weiträumig. Was besser ist als in Londo: Es klingt voluminöser, voller und ganz besonders körperhaft und präsent. Als Hörer ist man fast mitten drin im Geschehen. Die Gran Cassa wirkt mächtiger und der Bassbereich wird gut abgebildet. Summa summarum: Dies ist die beste Aufnahmequalität des ganzen Vergleiches, alle Details werden in richtiger Relation wie auf dem Silbertablett serviert. Früher hätte man gesagt, als es das noch gab: „Das ist echte Masterbandqualität.“ Viel besser als bei der „Digital Concert Hall“.
5
Jonathan Nott
Bamberger Symphoniker
Tudor
2006
9:50 6:25 6:02 22:17
SACD Bei Jonathan Notts Einspielung würde sich der direkte Vergleich mit der zehn Jahre zuvor entstandenen Produktion mit Ingo Metzmacher anbieten, da auch diese mit den Bamberger Symphonikern entstand. Notts Version klingt etwas angeschärfter und aufgerauter als die Metzmachers. Beide wirken drängend. Bei Nott klingt die Pauke perkussiver, aber die Gran Cassa weniger auffallend. Walking Bass und Klavier kommen bei Nott prima zur Geltung. Das Orchester liefert in beiden Fällen ein außerordentlich genaues Spiel. Bei Nott wirkt es etwas spannender, passagenweise auch mysteriöser. Das Blech wird weit besser exponiert, was auch zu kontrastreicheren, dynamischeren Gegensätzen führt. Das Interagieren in den dialogischen Passagen wirkt auffallend konturenreich. Der motorisch geprägte Gestus kommt bei beiden Versionen gut heraus. Die Eroica-Takte wirken bei Nott stampfender, werden stärker herausgestellt als Element der Ausweglosigkeit, des Scheiterns, der Verzweiflung. Das Konzertieren wirkt kammermusikalisch klar und brillant, nicht ganz so losgelöst von der Materie wie bei Dutoit und dem OSR.
Der 2. Satz klingt präsenter und klarer als z.B. bei Boulez, auch etwas zügiger. Das Scherzo wird weniger beachtet vielmehr die ernste Note herausgestellt. Die Solisten spielen zwar eloquent aber nicht so charmant und anschmiegsam konzertierend wie bei Bernstein. Der Mittelteil versinkt auch bei Nott in der Welt der Marie (Wozzeck), noch verstärkt durch das hier nun sehr langsame, gebremste Tempo. Den expressionistischen Ausdruck, den Goossens oder Klemperer evoziert, erreicht Nott nicht ganz. Das Spiel wirkt auch nicht ganz so spannend. Klanglich wirkt das Spiel sehr schön, instrumental fast so schön leuchtend wie die Berliner bei Boulez.
Zu Beginn des 3. Satzes legt sich das Orchester richtig ins Zeug, es klingt martialisch, wie es sein soll und das con moto wird wörtlich genommen. Das Blech fährt eruptiv dazwischen, auch das Klavier klingt sehr prägnant und rhythmisch absolut sattelfest. Das ganze Orchester gibt hörbar „volle Pulle“, allen voran Pauke und Gran Cassa. Das plastische Musizieren wird in einen souveränen Ablauf integriert. Die Übergänge gelingen hervorragend bruchlos. Nur die Hörner könnten bisweilen exponierter klingen. Leider klingen die beiden Schlussakkorde weniger nach Big Band wie bei den Einspielungen weiter oben in der Liste und sie hätten auch ein noch gesalzeneres fff gut vertragen. Ein marginaler Einwand für eine ansonsten fulminante Darstellung des dritten Satzes.
Der Klang der Aufnahme ist sehr klar und offen. Klanglich ist der Unterschied zur Einspielung mit Metzmacher (im gleichen Aufnahmeraum entstanden) größer als musikalisch. Die Nott-Version klingt dynamischer, straffer, körperhafter und präsenter aber nicht so tief gestaffelt. Die Balance zwischen Wärme und Strenge scheint bei Nott für dieses Werk ideal getroffen. Diese Aufnahme gehört mit zur ersten Wahl für den audiophilen Hörer. Den fünf-Kanal-Sound und die verbesserte Auflösung gäbe es dann sogar noch on top.
4-5
Neeme Järvi
Orchestre de la Suisse Romande, Genf
Chandos
1993
9:05 6:07 5:55 21:07
Zwölf Jahre nach der Einspielung der Sinfonie mit Charles Dutoit wurde das Orchester erneut zu einer Aufnahme ausgewählt. Es liegt nah, dass man die beiden miteinander vergleicht. Als dritte im Bunde käme dann noch die Einspielung Ansermets von 1960 hinzu. An die blendend virtuose Glanzleistung von 1981 kommt das Orchester 1993 nicht mehr ganz heran, die von 1960 lässt es aber ziemlich weit hinter sich. Vom Gestus her wirkt Neeme Järvi der Darbietung von Sir Eugene Goossens erheblich näher als den Beiträgen zur Diskographie von Dutoit oder Ansermet.
Der Zugriff gleich zu Beginn erscheint kraftbetont, sehr martialisch. Das Orchester macht richtig „Alarm“. Da ist mehr Feuer drin als bei Ansermet. Das Tempo wirkt getrieben, der Verlauf im ersten Teil zugespitzt. Das schließt auch eine feurige „Rumba“ mit ein. Die konzertanten (dialogischen) Passagen erscheinen ruhelos wie mit einem Anflug von panischer Hektik begleitet. Der erneute Einbruch der Realität (Zf. 105 und 108) wirkt aufgewühlt und in hohem Maß bedrohlich. Das Blech wirkt bei Neeme Järvi stark exponiert. Bis dahin wäre diese Einspielung ein heißer Kandidat für die Summa-cum-laude-Gruppe, wenn das Klavier besser solistisch herauskommen würde und wenn man das überragende Spiel des Orchesters mit Dutoit nicht noch so gut im Ohr hätte. Was auch nicht so gut gefällt ist, dass die Klarinette (mf und marcato) am Ende des Satzes weitgehend von den eigentlich leiser spielenden Streichern (p) „verschluckt“ wird. So unterbleibt das hämische Kichern dieses diabolischen (?) Gastes. Was bleibt ist eine nur mehr oder weniger beiläufige elegante Beigabe, bei der es nicht wichtig ist, ob sie da ist oder nicht.
Der 2. Satz erklingt kaum in der gelösten Beschwingtheit, die Strawinsky selbst hier in seiner Musterinterpretation vorlegt. Järvi wirkt wenig tänzerisch, betont eher den meditativen Charakter des Satzes als den Bewegungsimpuls. Der Satz bietet ja beides in einem, Järv lässt die einkomponierte Balance in eine Richtung überkippen, was jedoch legitim erscheint. Das Orchesterspiel ist sehr gut, man hört nichts vages, alles wissen genau, was sie zu spielen haben und auch wie. Auch die Oboe klingt ausgezeichnet.
Im 3. Satz ist Vater Järvi (eine Einspielung seines jüngeren Sohnes Kristian folgt in der Liste etwas weiter unten) wieder ganz nah bei der fast schon berserkerhaften Einspielung Sir Eugene Goossens´. Das Szenario beginnt überfallartig. Järvi bringt ein besonders hohes Maß der Marschgestik mit ein (große Leistung der Hörner!). Das Spiel hat Biss. Darin übertrifft es die Einspielung des Sohnes deutlich. Rhythmus ist hier stets auch Träger von geschärftem Ausdruck. Die Hörner bieten bei Järvi auch das mitunter achtlos beiseite gelassene Tremolo der Hörner (zwischen Zf. 167 und 168). Das Fugato ist Ausgangspunkt einer groß angelegten Steigerung (wie bereits erwähnt: der tastende, suchende Neubeginn der deutschen Kriegsmaschinerie nach Stalingrad). Järvi hält das Orchester zu einem tollen Markatospiel an. Die „konvulsivischen Zuckungen“ der rhythmischen Akkordballungen à la „Sacre du printemps“ werden ausgezeichnet herausgearbeitet. Zwei tolle Schlussakkorde runden den hervorragenden Gesamteindruck dieser Einspielung ab.
Klanglich verfügt diese Aufnahme nicht mit der strahlenden feinen Eleganz der Dutoit-Einspielung. Eine Tatsache, die die Arbeit der Decca-Techniker 12 Jahre zuvor buchstäblich in einem noch helleren Glanz strahlen lässt, zumal der Aufnahmeraum (Victoria Hall, wie bereits bei Ansermet) derselbe war. Wie bei Chandos damals üblich ist auch in Genf ein wenig Hall im Spiel. Transparenz und Staffelung sind aber immer noch gut.
4-5
Sir Alexander Gibson
Scottish National Orchestra
Chandos
1981
9:42 6:10 5:58 21:50
Sir Alexander steigt mit sehr viel mehr Schwung in die Sinfonie ein als Gergiev, sein Marcato wirkt deftiger, die Artikulation zupackender. Das heftig blasende schottische Blech überzeugt vollends mit seinen markigen sf und sff. Der Gestus der Einspielung wirkt kaum sachlich, vielmehr aufgewühlt. Es werden deutlich eigenverantwortete Mühen investiert, die Strawinsky vielleicht nicht gut geheißen hätte (wären es in seinen Ohren schon Übertreibungen gewesen?), die den Satz aus unseren Sicht aber besonders plastisch machen. Das Derbe, Rohe dieser Passagen imponiert. Darin ist Gibson Goossens und Järvi sen. ähnlich. „Rumba“ und „Walking Bass“ wirken weniger schottisch als jazzig. Das Spiel wirkt sehr sorgfältig aber auch expressiv. Für das Team schien es bei dieser Einspielung um eine Herzensangelegenheit zu gehen. Aber auch der Konversationston in den konzertanten Partien wird sehr gut getroffen. Der Einbruch der Außenwelt bei Zf. 105 und 108 wird nachhaltig gestaltet.
Der 2, Satz wirkt wohltuend zügig. Hier werden die scherzohaften Züge (bei gleicher Laufzeit wie bei Järvi sen.) viel deutlicher zum Klingen gebracht. Fast so witzelnd wie bei Strawinsky selbst. Die elegische spielende Flöte wirkt gut espniert, die Harfe aber leider ihr gegeüber etwas unterbelichtet. Der Mittelteil erfährt einen starken Kontrast zu den beiden Außenteilen.
Auch im 3. Satz wird der Charakter sehr gut getroffen (zerrissener Marsch), Der Brutalität wird gut Ausdruck verliehen. Die tiefe Gran Cassa wirkt bedrohlich, der Rhythmus sehr akzentuiert und zupackend. Hier hören wir wieder keine Horntremolo (zwischen Zf. 167 und 168). Ob es vielleicht sogar zwei Versionen der Partitur gibt? Das Fugato wird zum Ausgangspunkt einen sehr gut ausgereizten Crescendo. Die Synkopen wirken sehr eindrücklich, genau wie die beiden tollen Schlussakkorde. Wir vermuten, Strawinsky hätte wahrscheinlich doch seine Freude am Spiel der Schotten gehabt, denn die spieltechnischen Anforderungen werden eigentlich minuziös realisiert (wenn man einmal vom fehlenden Horntremolo absieht, das bei Strawinsky selbst jedoch auch fehlt, einmal absieht). Und die Aufopferungsbereitschaft beim unmittelbar wirkenden Musizieren kann man niemandem ankreiden. Einzig dass einige Orchester die fein ziselierte Klangschönheit mit den vielen dolce und espressivo und cantabile im 2. Satz noch geschmeidiger und mit mehr Finesse hinkriegen, darf man anmerken.
Das Klangbild ist offen, sehr dynamisch weiträumig und genau. Überhalligkeit wird vermieden. Pauke und Gran Cassa packen deftig zu.
4-5
Simon Rattle
City of Birmingham Symphony Orchestra
EMI
1986
9:29 6:06 5:43 21:18
Simon Rattle hat die Sinfonie in drei Sätzen zwei Mal für EMI aufgenommen. Dieser ersten folgte noch eine zweite elf Jahre später mit den Berliner Philharmonikern. Es sind beides hochklassige Beiträge zur Diskographie des Stückes geworden, wobei Summa summarum die frühere besser gefällt.
Sie beginnt energischer, mit jugendlichem Enthusiasmus zupackend und drängend. Die kriegerische Stimmung wird gut eingefangen. Die gestalterischen Elemente der Außenwelt (stilistisch ähnlich „Sacre du printemps) erklingen mit besonderem Impetus, die dialogischen, die mehr der Innenwelt (oder die Privatsphäre betreffen) zu entspringen scheinen, verlieren den drängenden Gestus aber nie. Das sehr gute Zusammenspiel wird rhythmisch zugespitzt. Der „Walking Bass“ gelingt Rattle besonders deutlich, sonst ist er oft nur unterschwellig zu hören. Ganz wichtig: Das Blech klingt präsent und kommt schön saftig ins Hörbild. Das Staccato wirkt ziemlich ätzend, das Marcato kräftig. Die Klarinette am Ende des Satzes ist durchgängig und schön gleichmäßig zu hören.
Den 2. Satz nimmt Rattle sehr zügig, gefühlt sogar noch etwas schneller als der Komponist selbst. Es gibt hier kein Raum für Sentimentalitäten, entsprechend wenig charmant klingen die Soli dann auch. An das hintergründige, verschmitzte Witzeln Strawinskys knüpft Rattle nicht an. Er referiert mehr auf sachlicher Ebene.
Im 3. Satz gewinnt Rattle den Hörer alleine schon durch das mitreißende, druckvolle Tempo. Der martialische Charakter des Satzbeginns trifft Rattle sehr gut. Con moto auch das perkussive Element und das zupackende Blech. Der Rhythmus wirkt akzentuiert. Das Horntremolo zwischen Zf. 167 und 168 ist immerhin gut hörbar, wenngleich keine furchteinflößende Wirkung von ihm ausgeht. Rattles Fugato wirkt nicht so leblos wie in den anderen Einspielungen. Ähnlich Bernstein steigert auch Rattle zum Ende hin grandios strettahaft. Die jubelnden Hörner gefallen ganz besonders. Diese Einspielung aus Birmingham wirkt zupackender und mitreißender als die spätere aus Berlin, auf die später noch näher eingegangen wird.
Die Aufnahme wirkt sauber gestaffelt, das Klangbild leicht und luftig. Die Gran Cassa ist nicht ganz so präsent wie in den neuesten Einspielungen.
▼ eine weitere Aufnahme Simon Rattles ein wenig weiter unten in der Liste
4-5
Zubin Mehta
New York Philharmonic Orchestra
Teldec
1990
9:23 6:16 5:40 21:19
In der Einspielung Zubin Mehtas hören wir zu Beginn ein ähnlich perfektionistisches Spiel wie bei Lorin Maazel, er wirkt sogar noch weniger perkussiv (wie bereits erwähnt wird bei Strawinsky phasenweise da ganze Orchester zum Schlagwerk). Das Tempo wirkt stimmig, das Spiel zunächst aber zwar sehr klar und transparent, aber ziemlich glatt. Abgespult, wie an einem imaginären Schnürchen gezogen, also ohne Ecken und Kanten, größtenteils ohne Schärfung. Die „Eroica-Takte“ wirken isoliert, das durch das vorherige Geschen nicht vorbereitet. Der konzertante Aspekt des Satzes, der zwar die meisten Passagen betrifft, aber nicht den ganzen Satz, hat sich bei Mehta verselbstständigt. Das Spiel der New Yorker wirkt außerordentlich gut geprobt. Die Klarinette am Ende des Satzes klingt richtig und bleibt unverdeckt.
Die gute Einordnung in unsere Liste verdient sich die Einspielung mit den Sätzen zwei und drei.
Im 2. Satz hören wir eine perfekte Balance der Solisten, was voraussetzt, dass die Harfe sehr gut durchhörbar bleibt, was hier der Fall ist. Es wird besonders schön und einfühlsam gespielt. Dolce, dolcissimo auch espressivo gibt es hier fast in überreichem Maß. Das konzertieren wirkt traumhaft sicher. Anscheinend hat sich das Orchester 45 Jahre nach der Uraufführung mit der Einspielung richt Mühe gegeben. Wir erinnern uns, Strawinsky dirigierte in der Uraufführung das Philharmonic Symphony Orchestra of New York (so nannten sich die Philharmoniker damals), die das Werk durch Rodzinski auch bei ihm bestellten. Der B-Teil (Mittelteil) wird sehr gut abgesetzt. Er klingt deutlich weniger expressiv wie z.B. bei Klemperer, aber man muss ja auch nicht immer an die arme Marie in „Wozzeck“ erinnert werden. In seiner Gesamtwirkung wirkt der 2. Satz bei Mehta idyllisch bis elegisch. Der schelmisch-witzelde Aspekt aus Strawinsky eigener „Interpretation“ findet man bei Mehta nicht.
Mehta überrascht schließlich im 3. Satz, bei dem andere häufig deutlich gegenüber dem 1. Satz nachlassen bzgl. der martialischen Gestaltung. Vor allem die Steigerung innerhalb des Satzes gehört mit zum Besten. Es beginnt noch etwas zaghaft. Aber Mehtas Tempo ist bereits ambitioniert, seine Hörner erreichen hier höchstes Niveau und werden ordentlich gefordert, das Blech überhaupt klingt hoch virtuos. Die Fagotte klingen richtig aufgeregt, normalerweise klingen sie eher gemütlich. Auch das Horntremolo klingt sehr ordentlich. Das Fugato (versuchter Wiederaufbau der militärischen Schlagkraft der Deutschen nach dem Fiasko bei Stalingrad) klingt sehr bewusst und wird gut in den Gesamtablauf integriert. Das Klavier wird sehr gut eingebunden, die Harfegegenüber dem 2. Satz weniger gut. Hier schlagen die Wogen zu hoch für ein so zartes Instrument. Das Finale klingt dynamisch und im Tempo fulminant. Die beiden Schlussakkorde klingen aber seltsam richtig und werden ihrer bunten Farben beraubt. Sie klingen also weniger nach Glenn Miller und sehr nach Philharmoniker. Insgesamt hört man bei Mehta tiefere Einsichten in Werk als beispielsweise bei Lorin Maazel oder Valery Gergiev. Man muss allerdings den ersten Satz durchhalten um es zu bemerken.
Das Klangbild wirkt perspektivisch ein wenig verengt. Das Orchester hätte mehr unmittelbare Präsenz verdient gehabt. Die Gran Cassa klingt staubtrocken und sehr wuchtig. Sie ist in diesem Stück sehr wichtig. Mit dem Blech zusammen steht sie, richtig gespielt für die brutale Seite des Sujets. Sie rettet quasi die Percussion-Abteilung, die aufnahmetechnisch zu sehr nach hinten abgedriftet erscheint. Ingesamt (vor allem im 1. Satz) könnte die Einspielung dynamischer klingen.
4-5
Igor Strawinsky
New York Philharmonic Symphony
Orchestra
9:46 5:31 5:50 21:10
Columbia
1946
BBC Symphony Orchestra
BBC Music
1958, Live
9:27 5:55 5:50 21:12
MONO Die New Yorker Aufnahme wurde vier Tage nach der Uraufführung unter Studiobedingungen produziert. Die Londoner Einspielung erfolgte im Konzert während einer Europareise Strawinskys bei der er eine Auswahl seiner Werke in vielen Städten dirigierte. Es sollten dabei auch einige weitere Einspielungen der Sinfonie in anderen Rundfunkarchiven schlummern. Auch in Baden Baden war er häufiger zu Gast.
Diese Tournee (mit immer anderen Orchester) war für den bereits 76jährigen anstrengend, denn häufiger spielten die Orchester die Stücke zu ersten Mal. Das erschwerte die Probenarbeit, sodass er seinen Assistenten Robert Craft auch bei den Proben zum Londoner Konzert schmerzlich vermisste. Das Ergebnis kann sich jedoch dessen ungeachtet mehr als hören lassen.
Doch zunächst stichwortartig zur 1946er Aufnahme. Sie bringt bereits fast alles mit, was auch die letztgültige „Mustereinspielung“ von 1961 auszeichnet. Lediglich im klanglichen und dynamischen kann sie nicht ganz mithalten. Das Orchester selbst klingt jedoch ganz ähnlich wie 1961. Der Klang wirkt noch ein wenig rauer, ungeschliffener. Der volle „romantische Sound“ der Boulez-Einspielung aus Berlin ist vom Original-Strawinsky-Sound am weitesten entfernt.
Im 2. Satz können die Oboen, aber auch das restliche Holz, sich kaum eines echten Dolce-Spiels befleißigen. Auch beim kammermusikalischen Konzertieren hat die neuere Einspielung von 1961Vorteile. Wie 1958 gehören cantabile und espressivo nicht unbedingt zu den Stärken der Wiedergabe. Auch das klappt 61 etwas besser, in Vollendung dann bei Bernstein.
Der 3. Satz wirkt noch etwas zügiger, ist rhythmisch stark profiliert. Und Achtung: Hier spielen die Hörner ihr Tremolo zwischen Tf. 167 und 168 noch sehr vernehmlich. Zur Erinnerung 1961 hört man davon nichts mehr.
In London setzt das Orchester durchaus seine eigenen Akzente. Die Dynamik wirkt schon markanter ausgeprägt, das Musizieren insgesamt plastischer, weicher und runder. Auch ist der Klang nicht ganz so staubtrocken, akzentuiert und angeschärft wie 1946, auch wenn das Orchester gefordert wird. Das Klavier könnte präsenter sein (46 ist es das). Es kann kaum einmal die Solistenrolle übernehmen.
Im 2. Satz klingen die Oboen nun weitaus dezenter und sie bemühen sich auch erfolgreicher um ein schönes dolce als die New Yorker 1946. Das Dialogisieren gelingt gut, wenngleich nicht immer gänzlich präzise. Insgesamt tönt es nun deutlich weicher und einfühlsamer als bei den „harten“ New Yorkern. Die Columbia-Technik war damals auf gnadenlose Präsenz aus.
Der 3. Satz beginnt mit etwas weniger Speed, der Gestus wirkt weniger heftig. Das Spiel wirkt den anderen beiden Einspielungen gegeüber etwas eingebremst, aber enorm unerbittlich im Rhythmischen und perkussiv. Das Orchester ringt noch etwas um die perfekte geläufigkeit. Man merkt es auch am vorsichtigen Fugato. Pauken und Gran Cassa wirken hingegen enorm akzentuiert. Insgesamt wirkt die Einspielung ungestüm, erreicht aber nicht die Perfektion der beiden Studioaufnahmen. Den beiden Schlussakkorden folgt ein immenser Jubelsturm des Publikums. Wie gerne wäre man dabei gewesen.
4-5
Otto Klemperer
Philharmonia Orchestra, London
EMI
1962
10:55 6:35 6:36 24:06
Dass man das Klavier bereits im 1. Takt an als Besonderheit des Orchesterklangs durchhört, ist eine Besonderheit dieser zweiten Einspielung Otto Klemperers. Die erste fand 1957, als fünf Jahre zuvor live, wahrscheinlich für den Rundfunk, in Amsterdam statt. Das Klavier bleibt übrigens den ganzen Satz über sehr gut exponiert. Das langsame Tempo braucht den Kenner der Aufnahmen des späten Klemperer nicht zu überraschen. Er legt auch hier eine sehr langsame Einspielung vor. Auch beim Vergleich der „Rumba“ fällt es besonders auf. Dass der Musizierfluss aber keine Sekunde langweilig, betulich oder gehemmt wirkt, davor bewahrt die rhythmische Vehemenz auf die Klemperer das Orchester einschwört. Weiterhin gesteigert wird die Intensität durch die enorm wuchtigen und aggressiven fff, sf und ssf, das sehr präzise und eigentlich schlanke und sehr transparente Spiel des Orchesters und die vehementen Kontraste. Das Orchester hat das Werk hörbar verinnerlicht. Bei Klemperer erscheint das Werk besser fassbar, wobei das langsame Tempo sicher auch eine Rolle spielt. Der Gestus wirkt äußerst expressiv, der 1. Satz aber weniger zerrissen als üblich. Klemperer versteht es auch über diesen Satz einen großen Bogen zu spannen. Das Tempo hätte Strawinsky sicher weniger gefallen, das bestechend klare und pointierte Spiel des Orchesters sicher sehr gut. Hervorzuheben ist der durchweg hervorragend homogene und volle Klang der Violinen. Die saftigen Steigerungen wirken sehr dynamisch. Die Klarinette am Ende des Satzes ist gut zu hören (viel besser als 1957 in Amsterdam, da ist sie nämlich ganz verschwunden).
Im enorm plastischen zweiten Satz sind die Solisten erfolgreich um das geforderte dolce, cantabile und espressivo bemüht. Das hervorragend transparente und voll klingende Musizieren erfolgt aus völliger Ruhe heraus. Klemperer lässt sogar ziemlich „dick“ auftragen, wie man es von Strawinsky nie gehört hätte. Stimmungsmäßig lässt im Mittelteil Alban Bergs Expressionismus grüßen. Klemperer garantiert einen größtmöglichen Kontrast zu den beiden Außensätzen. Neutral oder trocken wirkt dieser Satz bei Klemperer am allerwenigsten.
Im 3. Satz beginnt Klemperer und das Orchester mit grandioser Wucht und superbem Spiel des Blechs, während die Streicher ein auffallendes Legato an den tag legen. Den teilweisen bizarren Rhythmen, die sehr an den „Sacre“ erinnern, lässt Klemperer etwas mehr Zeit zu wirken. Der Wucht ist das bei seiner Intensität des Musizierens eher zuträglich. Die Hörner bieten einen gutes Tremolo (zwischen Zf. 167 und 168). Interessante Effekte werden aus den sich gegenüber sitzenden 1. und 2. Violinen gewonnen, die man nur bei Klemperer so hören kann. Die Streicher allgemein hört man hier mit seltener Wucht. Die beiden Schlussakkorde klingen hervorragen farbig, alle klangfarblichen Nuancen mit einschließend. Das PO und Klemperer im wuchtigen Big Band Sound ist wirklich ein einzigartiges Erlebnis, auch wenn es nur zwei Takte lang währt. Wegen der betont langsamen Tempi muss man insgesamt jedoch von einer zwar in sich stimmigen aber doch eigenwilligen Interpretation des Notentextes schreiben.
Gegenüber der 57er Einspielung aus Amsterdam klingt die Londoner Studio-Produktion beinahe um Welten besser. Die Transparenz ist außergewöhnlich, die Staffelung in Breite und Tiefe ist hervorragend. Die breite Dynamik unverzerrt. Das Orchesterpanorama wirkt für das Aufnahmedatum außerordentlich gelungen. Klemperertypisch ist die plastische nahe Position der Holzbläser. Klanglich ist die Aufnahme auch für EMI-Verhältnisse ein echtes Highlight. Die Einspielung mit dem Concertgebouworchester erscheint vor diesem Hintergrund als entbehrlich.
4-5
Sir Simon Rattle
Berliner Philharmoniker
EMI
2007
9:47 6:15 5:52 21:54
Sir Simons zweite Einspielung, 21 Jahre später als die erste und nun mit den Berliner Philharmonikern eingespielt, beginnt ebenfalls mit einem martialisch eingefärbtem Klang, er wirkt aber insgesamt symphonischer ausgerichtet als bei den besten und auch als in Birmingham. Das liegt vor allem daran, dass der Gesamtklang zu wenig von den scharf klingenden Instrumentengruppen geprägt wird und dass diese Instrumentengruppen zu sehr auf Wohllaut aus sind. Darin gehen die Berliner jedoch nicht so weit wie in der Einspielung mit Pierre Boulez, die noch balsamischer klingt. Zunächst investiert Rattel noch zupackende Verve, die von Orchester auch zurückkommt. Der Orchesterklang erfüllt allerhöchste Ansprüche. Das klangvollendete Konzertieren scheint im Verlauf des ersten Satzes immer leichter und lockerer zu werden. Bisweilen sogar etwas spieldosenhaft. Die Unerbittlichkeit geht immer weiter verloren. Die zitierten „Eroica-Takte“ klingen jedoch wieder durchaus unerbittlich. Angemessen für diese entscheidende Stelle. Die abschließende Klarinette erscheint gut akzentuiert und sehr gut hörbar. Insgesamt erscheint uns der 1. Satz jedoch etwas zu gepflegt.
Auffallend im 2. Satz sind die klanglich extrem nuancierten, virtuosen Beiträge der Bläsersolisten. Es wird noch etwas abgetönter und finessenreicher musiziert als bei den Kolleg/innen aus Birmingham. Sowohl die Flöte als auch und dies in ganz besonderem Maß die Harfe fallen durch ihre eloquente Gesanglichkeit und ihre Virtuosität ganz besonders ins Ohr. Gesanglicheres Spiel mit diesen komplexen Rhythmen ist kaum vorstellbar. Sie werden mit frappierender Geschmeidigkeit gemeistert. Die Entführung in eine andere Welt wird so besonders sinnfällig. Das scherzohafte Moment schwingt in dieser Darstellung weniger mit. Auch der witzelnde, ironische Unterton, der Strawinsky selbst wohl am besten mit eingebracht hat, kommt wenn überhaupt nur sehr subtil zum tragen.
Übertrifft die Berliner Version die aus Birmingham im 2. Satz deutlich, so steht die Berliner der englischen Version im 3. Satz nach. Der martialische Druck und die unmittelbare Brisanz, ein Gestus, den die Spieler dem Satz nicht wegnehmen dürfen, wenn er wie gewünscht wirken soll, wirken nun deutlich abgeschwächt. Es hört sicht einfach zu kultiviert oder besser distinguiert an. Bei Boulez, Maazel und Gergiev geht da aber noch mehr der Druck weg, das nur zur Orientierung im Kontext der anderen Einspielungen. Dagegen wirkt Rattle auch 2007 noch zupackend und temporeich. Die exzellente Spielfreunde der Berliner wirkt erfreulich, die Engländer klingen aber mit ihrem angeschärften Spiel martialischer und auch packender.
Der Klang der Berliner Aufnahme wirkt etwas voller und runder, hat mehr Tiefe und mehr Geschmeidigkeit in Klang und Spiel. Die Gran Cassa kommt besser als in Birmingham. Insgesamt hat die etwas ältere Boulez-Einspielung ebenfalls mit den Berliner Philharmonikern aber den noch sinnlicheren und körperhafteren Gesamtklang. Davon später noch etwas mehr.
4-5
Esa-Pekka Salonen
Philharmonia Orchestra, London
Sony
1989
9:05 6:00 5:43 20:48
Salonen ist einer der wenigen, die das Werk in einem noch schnelleren Tempo spielen lassen als Strawinsky selbst. Das ist interessant, denn auf diese Art kann man einmal hören, wie sich die einzelnen Charaktere dadurch verändern. Der Gestus im 1. Satz wirkt energetisch und flott-pulsierend. Das Orchesterspiel wirkt brillant und virtuoser als bei Robert Craft, dem dasselbe Orchester zur Verfügung stand. Dessen Einspielung übertrifft Salonen auch in Hinsicht auf schroffe Phrasierung, angeschärfte Rhythmik und Vehemenz. Das Klavier wirkt teilweise zu untergeordnet. Das Orchester selbst konzertiert gut miteinander in den dialogischen Passagen.
Der 2. Satz bietet einen klaren Stimmenverlauf (klarer als bei Craft). Das Orchester wirkt bei Salonen auch inspirierter und klangvoller. Der meditative Charakter überwiegt, trotz den schnellen Tempos, dem scherzohaften Gestus deutlich.
Im 3. Satz beginnt Salonen sehr schnell, die grotesk-martialische Stimmung wirkt so aber gerade dadurch deutlich weniger sinnfällig, sogar flüchtig. Ein Markenzeichen seiner Interpretation ist das überaus bedrohlich inszenierte Horntremolo, das geradezu herausgellt. Manch ein Musikfreund wird es übertrieben finden, ein anderer wird jedoch davon begeistert sein. Wir erinnern uns, dass Salonen auch das Horntremolo auch in Sibelius´ Violinkonzert (wie Previn) so überaus prägnant herausstellte, weshalb uns diese Stelle bei Strawinsy sofort an Sibelius erinnerte. Eine Assoziation, die Strawinsky bei der Komposition ganz sicher nicht hatte (obwohl... wer weiß?). Im Fugato (Alla breve) hören wir das Klavier und die Harfe in unnatürlicher Großaufnahme. Das wiederum erinnert an die Phase 4 Aufnahmen Stokowskis und anderer.
Das Klangbild wirkt ausgesprochen transparent, die Staffelung auch in die Tiefe hinein ist sehr gut. Das Orchester wirkt recht dynamisch, farbig und rund.
4-5
Ingo Metzmacher
Bamberger Symphoniker
EMI
1996
9:20 6:08 5:50 21:18
Nur um wenige Sekunden unterscheiden sich die Laufzeiten der einzelnen Sätze von denen bei Strawinskys 61er Einspielung. Auch der drängende Gestus im 1. Satz trifft den von Strawinky beinahe haargenau. Auch das perkussive Element ist ganz ähnlich stark aufgerufen worden wie in dieser alten Aufnahme. Aber die allzu weiche und wohlige Aufnahme macht Metzmacher wohl einen Strich durch die Rechnung. Es fehlt die Schärfe und die Aggressivität, die Strawinsky mit einbringen konnte. Dafür wirken die instrumentalen Valeurs bei den Bambergern viel reichhaltiger als beim Columbia SO. Das konzertierende Klavier wird hinreichend exponiert. Die Staccati klingen aber eher weich und wirken viel zu mild. Das Orchester klingt fast so, als wolle es eine Brahms-Sinfonie spielen. Den strawinskyphoben Hörern wollte man bei EMI so vielleicht die Schwellenangst nehmen. Die Klarinette zum Abschluss des ersten Satzes wird sehr gut durchgezeichnet.
Auch im 2. Satz wandeln Metzmacher und die Bamberger auf Strawinskys Spuren. Die scherzohaften Elemente werden sehr gut betont. Das Holz nimmt mit seinem warmen Klang sehr für sich ein, besonders die Oboe. Das Konzertieren erfolgt auf hohem Niveau, wenngleich der anschmiegsame Charme der Aufnahme mit Bernstein nicht ganz erreicht wird. Aber viel fehlt da nicht. Das gebotene Cantabile, Dolce und Espressivo geht über das des Columbia SO weit hinaus. Das warme Klangbild trägt sehr viel zu dieser Wirkung bei.
Der Beginn zum 3. Satz könnte jedoch viel stürmischer und aggressiver klingen. Die feurige Rhythmik wird bebracht, aber der Wohlklang der Aufnahme lässt keine Aggressivität zu, zumal das dafür entscheidende Blech zu weit entfernt ist. Das Horntremolo findet wie in der 61er von Strawinsky auch bei Metzmacher keine Beachtung. Bei Metzmache wird die Partitur ansonsten minuziös beachtet, weshalb viele Passagen sehr leise klingen, was auffällt, weil es oft anders praktiziert wird. Die betreffenden Passagen wirken bei Metzmacher auch dadurch unheimlicher. Die dissonanten Akkordballungen (ab Zf. 188) wirken dann wieder viel zu harmlos. Der abschließende Glenn-Miller-Akkord wirkt in dieser Einspielung zu sauber und weniger farbig. Also kein amerikanisches Feel-good also zum Abschluss. Da sind die Symphoniker wieder ganz seriös. Metzmacher hat sich an Strawinsky orientiert und viel richtig gemacht. Die Darbietung fällt aber gerade im 3. Satz in eine Technik-Falle und lässt es so erheblich an martialischer Härte fehlen.
Gedeckter „philharmonischer“ Gesamtklang, sehr weich, warm und ausgewogen. Das Klangbild ist sehr übersichtlich geordnet und sehr transparent. Das Blech ist aber zu weit weg um die nötige Aggressivität beisteuern zu können. Es wirkt insgesamt zu domestiziert, sodass man den „Sacre“-Passagen nicht vollauf gerecht gerecht wird. Die Gran Cassa hat dagegen die nötige Wucht dazu mitbekommen.
4-5
Michael Gielen
Sinfonieorchester des SWR Baden Baden und Freiburg
SWR Music, Hänssler
2003
10:29 6:27 5:57 22:53
Wie Boulez und Salonen gilt auch Michael Gielen als hoch angesehener Komponist. In früheren Etappen seiner Karriere galt er als besonders progressiv und wegen seiner dezidierten politischen Haltung für manche Häuser als kaum verpflichtbar. Das änderte sich später grundlegend und beim Sinfonieorchester des SWF fand er dann schließlich seine musikalische Heimat. Diese Aufnahme entstand bereits einige Jahre nachdem er seine Chefposition bei dem Orchester aufgegeben hatte. Auch er konnte dabei bereits auf ein 76 Jahre währendes Leben zurückblicken. Stets war er ein großer Verfechter der Moderne (besonders der Neuen Wiener Schule) und viele Interpretationen moderner Musik gelangen ihm mit Modellcharakter. Uns scheint es so, dass man diese Strawinsky-Auslegung nicht unbedingt dazuzählen kann. Bereits dem Beginn fehlt die unerbittliche Vehemenz. Der Gestus bleibt nur wenig spannend und wenig dringlich, auch weniger scharf rhythmisiert als bei Strawinsky selbst. Es scheint, dass die Musik Strawinskys für Gielen bereits ein etablierter Klassiker wäre und dem Hörer heutzutage auch ohne Vermittlung des Kontextes erschließt. Gielen betont also sehr stark nur die innermusikalischen Grundzüge der Musik und stilistisch den ihr auch innewohnenden Neoklassizismus bzw. sogar Neobarock. Die „Sacre“-Elemente wirken nur schwach. Allerdings verfügt die Einspielung auch über nicht zu überhörende Meriten. Das Spiel des mittlerweile wegfusionierten Orchesters gehört unbedingt zum Besten. Das Klavier wirkt als Soloinstrument sehr gut exponiert, die Gran Cassa wird wuchtig in Szene gesetzt. Dann wirkt aber die Dynamisierung zu sehr auf Ausgleich bedacht und die allerdings hoch präzise Artikulation generell ziemlich sanft. Eben wie bei einem Klassiker. Strawinskys Vorbild Nr. 1 war ja Haydn, daran scheint sich auch Gielen zu orientieren. Der Unterschied zu Goossens ist gravierend. Der 1. Satz - zumindest während der konzertierenden dialogischen Passagen - wirkt fast wie ein allerdings souverän gespieltes Divertissement. Noch ein Beispiel: das Marcato der Celli und Bässe bei Zf. 106 ist nicht hörbar und am Schluss artikuliert die Klarinette auch wenig scharf, aber immerhin ist sie durchgängig hörbar.
Im 2. Satz wendet sich das Blatt, denn das Ergebnis wirkt stimmig Wir hören einen ausgewogenen hochklassigen Klang aller Solisten. Warm timbriert und edel wirkt hier das Klangbild und die Konturen sind besonders klar; die rhythmisch vertrackten Melodien werden dem dolce-Charakter vollauf gerecht. Das Scherzohafte steht allerdings zurück und damit auch der feine, subtile Humor. Gielen versteht sich mit dem geforderten Espressivo besser.
Auch der 3. Satz lässt es an der Intensität der Einspielung Strawinskys und an der beängstigenden Atmosphäre Goossens´ fehlen. Es fehlt auch die markige, drängende Brisanz und Unerbittlichkeit. Auch hier stellt Gielen den Klassizisten Strawinsky in den Fokus. Klanglich sehr fein abgewogen und schön klingend aber im Gestus fast so lasch wie bei Gergiev. Dabei ist der Rhythmus klar und deutlich herausgearbeitet. Das Konzertierende steht auch hier wieder im Vordergrund. Die inhaltliche Komponente steht zurück. Sie würde eine entschieden schärfere Herangehensweise nahelegen. Das ist verwunderlich, denn die inhaltliche Komponente wurde vom Komponisten nachdrücklich kommuniziert und Gielen, der Intelligente und Belesene, wusste davon auch mit Sicherheit. Leider bekommen die Schlussakkorde eine Hallfahne, obwohl die ganze übrige Aufnahme mit Nachhall nichts zu tun hatte.
Gielens Lesart überrascht durch die durchgängige relative Spannungsarmut, ist er doch einer der profiliertesten Dirigenten der Moderne gewesen. Sein Herz schlug offensichtlich für die Neue Wiener Schule höher als für die Musik Strawinskys. Für Gielen war Strawinsky offensichtlich eher bereits ein Klassiker, dem eine innermusikalische, nur auf die Wiedergabe des Notenbildes reduzierte Darbietung zusteht. Und so gesehen überzeugt er auch.
Das Klangbild ist ein Muster an Ausgewogenheit, ziemlich harmonieorientiert, warm timbriert, sehr transparent und gut gestaffelt, aber auch voll und voluminös. Insgesamt aufnahmetechnisch eine sehr geglückte Aufnahme.
4-5
Colin Davis
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München
Philips
1985
9:46 6:06 5:54 21:46
Colin Davis, der bereits in den 60igern eine Aufnahme der Sinfonie für Philips dirigierte (damals mit dem LSO) scheint ein inniges Verhältnis zu dieser Musik zu pflegen, denn kaum Orchester geht so liebevoll mit dieser komplexen Musik Strawinskys um. Allerdings wirkt der Gestus, den Davis aus der Musik schöpft eher wenig dringlich, wobei das Tempo nur einen Teil dazu beiträgt. Ohne zu wohlig zu klingen (wie bei Metzmacher oder Boulez) bringen die Musiker während des absolut sauberen Musizierens eine Fülle von Valeurs mit ins Spiel. An Brillanz lässt man es dabei nicht fehlen. Herauszuheben wären die Hörner, die im Klangbild ganz hervorragend zur Geltung kommen und kaum imposanter klingen könnten. Die zentralen „Eroica-Takte (Zf. 69) werden allerdings zu schwach herausgestellt (notiert ist fff!) Dolce und espressivo werden hingegen vorbildlich umgesetzt. Ingesamt gewinnt man den Eindruck, dass die „liebevolle Zuwendung“ zur Musik die Härte ihr gegenüber etwas abhanden kommen lässt. Klanglich ist dieser Satz ganz besonders schön ausgehört.
Diese Interpretationshaltung kommt dem 2. Satz nicht ungelegen. Vom Charakter her ist dies eindeutig ein langsamer Satz. Der spritzige Buffa-Charakter den einige hier zu recht hören wollen ist bei Davis unterdrückt. Da ist nichts witzelnd, wie bei Strawinsky selbst, eher spürt man dem Meditativen nach, was die Musik ebenfalls hergibt. Seltsamer Weise wird aber auch noch ein gewisser tänzerischer Gestus gewahrt. Strawinsky verleugnet in diesem Satz nicht, dass er vom Ballett herkommt.
Beim 3. Satz waren wir uns nicht sicher ob Gielens Version vorzuziehen ist oder die von Davis. Gegenüber seinem 2. Satz wirkt Davis 3. Satz schwungvoller, als Gielens 2. Satz gegenüber seinem dritten. Aber wenn man beide 3. Sätze direkt vergleicht scheint Gielen kontrastreicher zu sein. Eine wirklich seltsame Relativität drückt sich da aus. Bleiben wir also besser ohne direkten Vergleich nur bei Davis. Der Gestus wirkt durchaus schwungvoll und sehr kontrastreich, besonderes Lob gebührt auch nun wieder den Hörnern, die mit ihrem Klang und ihrer Intonationssicherheit imponieren. Kaum zu glauben, dass Davis aber das Tremolo zwischen Zf. 167 und 168 nicht spielen lässt. Die Musikwissenschaft sollte sich einmal um diese Stelle kümmern, warum das Verhältnis der Tremolospieler zu den Tremoloverweigerern bzw. Tremololeugnern ungefähr 50:50 ist. Da wir nur eine Partitur nutzten, gilt den Tremolospielern unsere Sympathie, denn in unserer Partitur ist es vermerkt und keineswegs ad libitum. Das langsame Anschwellen nach den apokalyptischen Ereignissen von Stalingrad, wonach die Deutschen sich neu zu formieren trachten, wird sehr gut dargestellt. Im Agitato könnte der Rhythmus etwas geschärfter klingen. Insgesamt ist dies eine Einspielung mit eigenem Profil. Sie wirkt betont klangprächtig und sorgfältig-liebevoll auch um die Details und Nuancen bemüht. Die rhythmische Kantigkeit und die gestische Unerbittlichkeit haben andere besser dargestellt.
Der Klang der Aufnahme wirkt sehr transparent, sehr gut gestaffelt, hat ein weites Panorama und ist jederzeit sehr deutlich.
4-5
Vladimir Ashkenazy
Deutschen Sinfonie Orchester Berlin
Decca
1991
10:12 5:54 6:01 22:07
Wie bei Bernstein und Strawinsky merkt man auch Vlaimir Ashkenazys Einspielung an, dass hier ein Pianist dirigiert, denn wie bei diesen ist auch bei Ashkenazy das Klavier sehr gut exponiert. Passagenweise entspinnt sich so im 1. Satz fast ein Klavierkonzert. Auch die Pauke und die sehr kräftige Gran Cassa kommen gut ins Bild. Für das Atmosphärische wird so schon einmal ein wichtiger Grundstein gelegt. Den „Walking Bass“ bei Zf. 7 vernachlässigen Dirigent und Orchester jedoch ein wenig, auch von einer unerbittlich wirkenden Rhythmik in den Passagen, die die Außenwelt repräsentiert, hätten wir uns mehr gewünscht. Die Vortragsbezeichnungen espressivo und dolce werden ernst genommen. Die Dringlichkeit in den konzertanten, dialogisch orientieren Passagen wird weitgehend abgelegt. Die Akzente könnten derber sein, der ganze 1. Satz macht einen erstaunlich lichten aber auch etwas harmlosen Eindruck. Die Tonrepetitionen z.B. bei Zf. 102 gelingen wieder ausdrucksstark.
Im 2. Satz wird die Flöte überraschend deutlich ins Klangbild integriert, meist setzt sie wie im Rampenlicht zu ihren Höhenflügen an. Der Harfe gelingt dadurch die Parität mit der Flöte, klingt schön und deutlich. Ingesamt werden die Scherzoelemente bei Ashkenazy auf liebliche (nicht witzelnd, nicht ironisch) Art herausgearbeitet. Das wirkt stimmungsvoll. Das Holz spielt seine reichhaltigen und häufigen Soli exzellent und sie kommen auch klanglich gut heraus.
Der 3. Satz profitiert von einer vehement in Szene gesetzten Gran Cassa, auch hier klingt das Klavier sehr deutlich. Gegenüber Strawinsky und Kitajenko wirkt Ashkenazys Wiedergabe rhythmisch abgerundet. Die beiden Schlussakkorde klingen leider nicht nach Glenn Miller oder Woody Herman.
Klanglich hören wir nun ein Orchester in einer großen Halle. Weiträumig aber doch transparent und dynamisch. Das Klavier wird außerordentlich deutlich abgebildet.
4-5
James Conlon
Rotterdamer Philharmoniker
Erato
1987
9:04 6:13 5:52 21:09
In der Einspielung Conlons sind gute Ansätze zu hören. Das Tempo ist ambitioniert und bleibt im ersten Satz sogar unter dem Strawinskys. Die Artikulation des Orchesters erscheint dennoch sorgfältig, bezieht in diese Sorgfalt jedoch die Dynamik nicht immer genügend mit ein (z.B. die Klarinette Zf. 76 kein f sondern nur p). Das Marcato des Orchesters kann sich sehen (Pardon: hören) lassen. Das Klavier klingt präsent genug um seinen exponierten Aufgaben nachzukommen. Die Pauke bleibt leider zu mulmig, das Holz und auch das Blech (vor allem die Hörner) zu entfernt, sodass die von den besten gebotene Präsenz nicht geboten werden kann. Überdies verfügt das Orchester auch nicht ganz über die Präzision der Orchester in den Einspielungen von Kitajenko, Bernstein, Salonen oder Strawinsky (1961). Dies geht zu einem gewissen Teil jedoch auch auf die etwas diffuse Aufnahmetechnik zurück. Das abschließende Klarinetten marcato articolato könnte lauter zu hören sein und somit besser herauskommen. Wichtig festzuhalten: der Gestus stimmt.
Die Soli im 2. Satz bleiben unauffällig und insgesamt leise, keiner stiehlt dem anderen die Show, was den Eindruck eines Orchesterkonzertes verstärkt. In dem Satz gibt es auch kein f oder gar ff, es geht in der Dynamik über ein mf nicht hinaus. Conlon bringt die scherzohaften Details so nur wenig zum Ausdruck. Der Mittelteil klingt mit seinem gesteigerten Misterioso jedoch wie eine Szene des Expressionismus (immer wieder kommt einem „Wozzeck“ in den Sinn). Dolce und cantabile werden sehr gut herausgearbeitet. Gerade die Holzbläser sind ein Trumpf in diesem Orchester.
Im 3. Satz erhält der Dirigent vom Orchester eine recht scharfe Rhythmisierung. Die Gran Cassa, als das Instrument des Krieges par excellence, klingt zwar recht gut, hätte aber noch viel mehr kriegerisches Potential gehabt. Erneut macht sich die große Entfernung der Hörner nachteilig bemerkbar. Ab dem Fugato klingt das Klavier plötzlich viel präsenter. Der Schluss kommt rhythmisch sehr prägnant.
Der Klang der Aufnahme ist klar und recht räumlich. Die Abbildung des Orchesters in die Tiefe hat jedoch den Preis, dass das Blech und hiervon besonders die Hörner nur schwach ins akustische Bild kommen. Insgesamt klingt es etwas gepresst und ein seltsamer Hall, der sich über einige Instrumente(ngruppen) mehr bemerkbar macht als über anderen, wirkt seltsam. Insgesamt jedoch mehr Licht als Schatten.
4-5
Gennady Roshdestwensky
London Symphony Orchestra
Nimbus
1987
10:40 5:55 6:07 22:42
Wenn man seine Einspielungen der Prokofieff- oder Schostakowitsch-Sinfonien kennt, kann man überrascht von der langsamen, fast behäbigen Tempogestaltung des Beginns sein. Bekannt kommt jedoch auch hier der scharfe artikulatorische Zuschnitt Roshdeswenskys vor. Das Klavier wirkt hier wie ein Teil des Concertinos innerhalb eine Concerto grosso. Die Trompeten dominieren den Bläsersatz sehr deutlich. Deutlicher als in jeder anderen Einspielung. Ingesamt erinnert Roshdestwenskys lakonischer Zugang an den Klemperers. Das Spiel wirkt ungemein detailreich, jede Nuance wird als Licht geholt und sorgsam ausgehört, was vom mäßigen Tempo noch befördert wird. Auch wirken die dialogisch-konzertierenden Passagen durch den langsamen Puls noch unschuldiger aber auch (bewusst?) distanziert. Die dynamischen Einbrüche der „Realität“ hingegen noch kontrastreicher. Wundern kann man sich, dass Roshdestwensky die „Eroica-Takte“ dermaßen „verschenkt“. Vom fff der Hörner und dem ff der Posaunen hört man bei ihm nichts. Die Streicher dominieren hier den Klang, Die Partitur wird ansonsten sorgfältig beachtet. Insgesamt unterlässt Rosdestwensky aber ein zuviel an Interpretation und erreicht äußerste Transparenz. Das Tempo und die fast unhörbare Klarinette am Schluss hätten Strawinsky sicher weniger gefallen.
Im 2. Satz erhält die Harfe eine hervorragende Präsenz. Viel deutlicher als es im Konzert möglich wäre ist sie dem Klavier gleichberechtigt. Gegenüber dem Eindruck der anderen Einspielungen verlieren die solistischen Holzbläser auch ihre Dominanz gegenüber den Streichern. Minutiös wirkt das Intrumentarium in Richtung absoluter Äquilibristik eingepegelt. Ob dies das Verdienst von Orchester und Dirigent ist oder eher der Aufnahmetechnik, lässt sich kaum entscheiden. Der Klang wirkt sehr weich, das Orchester besonders klangschön. Insgesamt wirkt dieser Satz, bei recht hintergründigem Holz, schon fast entrückt.
Im 3. Satz kostet die Staffelung in die Tiefe weit nach hinten viel rhythmische Verve und Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Klemperer ist da weit voraus und klingt trotz langsameren Tempos deutlich aggressiver und im Ausdruck unmittelbarer. An die Unerbittlichkeit von 1958 mit Sir Eugene und auch mit MTT kommt das LSO mit Roshdestwensky nicht heran.
Der Klang der Aufnahme ist sehr transparent und keinesfalls so hallig wie so oft bei diesem Label. Bei der Wahl des Aufnahmeortes hatte man dieses Mal eine sichere Hand. Der Klang lohnt es mit einem röntgenologischen Durchblick. Während die Gran Cassa relativ unbeschadet vom Blick weit in die Tiefe des Raumes bleibt, fehlt es dem Blech dadurch erheblich an Präsenz und Attacke.
4
Pierre Boulez
Berliner Philharmoniker
DG
1996
9:45 6:36 5:57 22:18
Sobald die Sinfonie beginnt bemerkt man den wuchtigen aber auch opulenten, bassgesättigten Klang. Der Gestus wirkt wenig dringlich, denn alles scheint auf den großen Klang hin ausgerichtet worden zu sein. Die Rhythmik wirkt, gerade wenn man sich die Strawinsky-Einspielungen Boulez´ aus den 60ern und frühen 70ern bei CBS vergegenwärtigt, bei denen die Sinfonie in drei Sätzen leider nicht zu finden ist, wenig scharf. Die „Rumba“ gar etwas schwerfällig. In sich überzeugend hingegen das makellose, vollmundige Spiel der Philharmoniker. Das Holz verkennt mit all seiner Klangschönheit als gelte es Brahms oder Strauss anscheinend den Ernst der Lage. Für den leichten „Plapperton“ dieses Konzertierens wirken ihre Darbietungen überaus sinnlich, nicht leicht und spritzig genug. Ein Strawinsky für die Klang-Kulinariker. Mit seiner ganzen reichhaltigen Substanz spielen die Philharmoniker einen romantisch klingenden, klangfarbengesättigten Strawinsky. Noch mehr als dies bei Rattle 2007 der Fall ist. Das Klavier wirkt viel mehr nur als Klangfarbe und viel weniger autonom als bei Bernstein. Bei Boulez, der allerdings, gerade auch rhythmisch mit größter Souveränität zu Werke geht, wirken sogar die Dissonanzen noch schön.
Auch der 2. Satz bewegt sich technisch und instrumental auf allerhöchstem Niveau, es fällt sogar noch mehr auf. Die Philharmoniker spielen so schön sie können (es hört sich jedenfalls so an), mit delikatem Zusammenspiel, zurückhaltend aber trotzdem sehr sinnlich wirkt vor allem der Klang der Solisten (Flöte, Harfe). Der Gestus dabei ist meditativ, kaum tänzerisch, eher ernst und nachdenklich. Die scherzohaften Elemente kommen kaum zur Geltung, auch der spezifische Charme und das Wechselspiel der Kontraste bei Bernstein oder das ironische Witzeln und der leichte Esprit bei Strawinsky unterbleiben. Auf eine spezielle Art dennoch beeindruckend.
Der 3. Satz schließlich wirkt wenig con moto und beginnt sogar behäbig. Nach „Le sacre du printemps“ klingt nur die Gran Cassa. Allerdings steigert sich der Zugriff im Verlauf noch, bleibt aber eher weich konturiert. Boulez´ Reserviertheit gegenüber einer „Interpretation“, wie eigentlich von Strawinsky gewünscht, mündet hier in einem Spiel, das man sich kaum schöner vorstellen kann. Die dynamischen Kontraste könnten derber sein. Die rhythmische Schärfe kann mit Strawinsky selbst oder Kitajenko nicht mithalten. Fast scheint es, als wandele Boulez auf Karajans Pfaden. Das Horntremolo (zwischen Zf. 167 und 168) kommt gut. Die beiden gewaltigen Schlussakkorde klingen nicht so farbig wie bei Bernstein, aber höchst kultiviert. Die ganze Sinfonie wirkt eingekleidet wie in ein Luxusgewand.
Der Klang der Aufnahme klingt noch offener, saftiger, dynamischer, opulenter und körperhafter als bei Rattle elf Jahre später. Die Staffelung noch tiefer. Die körperlich erfahrbare Gran cassa beeindruckt. Insgesamt ein sehr „schöner“ Klang, fast schon zu opalisierend und „süffig“ für diese Komposition. Mit. Die audiophile Alternative.
4
Ernest Ansermet
Orchestre de la Suisse Romande
Decca, Download bei Sunday Club Record
1960
10:24 5:45 6:13
LP, CD und als Download Auf drei verschiedenen Tonträgern lag uns Ansermets Einspielung vor. Der Download muss dabei hervorgehoben werden, weil man (aus Kostengründen?) auf eine Mono-Version zurückgegriffen hat. Ansermet hat viele Werke von Strawinsky mehrmals eingespielt. Zumeist machte er von den Mono-Einspielungen aus den späten 40ern oder frühen 50ern ein Remake in Stereo. Nicht so bei der Sinfonie in drei Sätzen. Es gibt nur eine einzige Einspielung, die jedoch zur damals noch wegen der wenig am Markt verbreiteten Stereo-Abspieltechnik auch noch verstärkt mittels Mono-Platten angeboten wurde und deshalb auch noch Mono und Stereo produziert wurde. Man darf nicht vergessen, dass Mono zur Aufnahmezeit noch der Standard war. Durchgesetzt hat sich im Laufe der Jahre bekanntlich die stereophone Schallplatte.
Kommen wir in diesem Fall zunächst zur klangtechnischen Seite der Einspielung. Die Mono-Version des Downloads klingt wie ein Rückfall in die frühen 50er Jahre. Scharf, ein wenig drahtig und hart. Die Transparenz ist aber bereits erstaunlich und dynamisch macht ihr auch die Stereo-Version nichts vor. Im Gegenteil: sie wirkt besonders lebendig und spontan. Die Gran Cassa ist gut hörbar, hat aber keine echte Wucht. Das Klavier klingt wattiert. Die dem Instrument oft eigene kristalline Härte fehlt, vielmehr klingt es etwas dumpf. Das Tutti klingt wenig sonor und flach.
Die CD klingt erheblich weicher, voller und sinnlicher. Man darf annehmen, dass hier auch ein modernes Remastering im Spiel war. Es ist auch mehr räumliche Tiefe im Spiel, die Staffelung ist gut, die Klangfarben schimmern in bester Decca-Manier der frühen 60er Jahre. Die Dynamik wirkt jedoch nicht so unmittelbar anspringend wie in der Mono-Version.
Die LP, die in einer japanischen Version von King Record („The Super Analogue Disc“) vorlag, einer Reihe, die übrigens bei einschlägigen Sammlern lange nicht so beliebt ist, wie die britischen Originale, legt besonderes Augenmerk auf ein warmes Klangbild. Sie bringt noch mehr Tiefenschärfe und eine Plus an Plastizität mit, wirkt aber in ihrer spezifischen Dynamik weniger quirlig und nicht so brillant, wie man es von den Originalen kennt. Leblos wäre allerdings zuviel gesagt.
Es ist ganz erstaunlich, wie stark die einzelnen Medien den Klang der Einspielung beeinflussen. Dennoch soll das zur technischen Seite der Einspielung einmal genügen.
Musikalisch gesehen bringt Ansermet die der Komposition innewohnenden Dissonanzen erheblich schärfer und aufgerauter zur Wirkung wie beispielsweise Boulez in der klanglichen Luxusversion aus Berlin. Und dabei wieder besonders in der Mono-Version. Ansermets Tempo ist erstaunlich breit und gegenüber Strawinsky selbst oder Kitajenko rhythmisch etwas „gesoftet“. Die Artikulation erfolgt ohne besonderen Biss und nur mit wenig Wucht. Im Gegenzug jedoch mit einer gewissen verbindlichen Eleganz, die in noch stärkerem Maß auch die Einspielung mit Dutoit auszeichnet. Die Brisanz im Ausdruck von Kitajenko etwa ist einer fast gemütlich wirkenden Gangart gewichen. Die Staccati wirken rund und weich. Ingesamt wirkt die musikalische Diktion eher mild als ätzend und stark klassizistisch ausgerichtet. In den „Eroica-Takten“ (Zf. 69) wirkt das Orchester vergleichsweise müde und ein wenig träge. Sanft, statt scharf und dezidiert fff. Espressivo und grazioso liegen dem Orchester besser. Das überrascht ein wenig, denn Ansermets Einspielung des „Sacre du printemps“ gehört eigentlich zu den sehr guten.
Den zweiten Satz nimmt Ansermet nun vergleichsweise zügig. Das Orchester spielt sehr ausdrucksvoll. Die klanglich sehr helle Oboe ist kaum eines dolce fähig. Die Harfe klingt dezent aber meist sehr gut hörbar. Insgesamt wird der 2. Satz jedoch viel besser getroffen als der 1.
Im 3. Satz fehlt dem Orchester die rechte Durchschlagskraft. Die leisen Töne liegen ihm viel besser. Gegenüber Strawinskys Referenz wirkt Ansermet im Gestus lange nicht so getrieben und dynamisch viel flacher. Die Mono-Version der Ansermet-Einspielung wirkt geschärfter und könnte in ihrem vergleichsweise rohen Zuschnitt Strawinskys Ideal womöglich sogar näher gekommen sein als die Stereo-Version.
4
Otto Klemperer
Concertgebouw Orchester Amsterdam
Archiphon
1957, Live
11:17 5:42 6:16 23:15
MONO Gegenüber Klemperers Studio-Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra von 1962 hat der Live-Mitschnitt dieselben eminenten Meriten aufzuweisen, kann aber klangtechnisch in keiner Weise mithalten. Da dadurch in London auch mehr vom Werk zu hören ist, sollte diese der Amsterdamer vorgezogen werden.
Klemperer lässt auch in Amsterdam wuchtig und spannend artikulieren. Sein Tempo ist langsam, was die Wucht eher noch steigert. Aber konzise. Die Dissonanzen wirken besonders ausgekostet. Das Klavier kommt sehr deutlich durch. Sein Marcatissimo klingt auch so. Bravo. Das Blech wird gefordert wie selten. Das Motorische der Musik wirkt (trotz oder wegen des langsamen Tempos) stark betont und unerbittlich (der Mensch als Teil einer Maschinerie). Die „Eroica-Takte“ klingen wie in Klemperers Beethoven-Darbietungen sehr schwer und deutlich, wie herausgemeißelt. Bei Zf. 88 gibt es ein live-typisches Verständigungsproblem. Die beherzte Dynamik bringt die Technik ein ums andere Mal an ihre Grenzen. Die Klarinette am Schluss des 1. Satzes ist akustisch völlig verschwunden.
Im 2. Satz klingen die Oboen noch wie beim Philharmonia Orchestra. Auch nun wieder klingt das „Lied der Bernadette“ nach musikalischem Expressionismus. Wie in London wird dem Scherzo-Charakter wenig nachgegangen.
Im 3. Satz klingen die Pauken wie Detonationen, technisch jedoch leider verzerrt. Die Gran Cassa wie bei Goossens wie Explosionen. Auf das Horntremolo (zwischen ZF. 167 und 168) legt Klemperer keinen Wert, es unterbleibt. Bei den wuchtigen Akkordballungen wirkt die Technik total überfordert. Diesen Umstand müsste man mehr bedauern, wenn es die 1962er Philharmonia-Einspielung nicht gäbe.
Die Klangtechnik wirkt ziemlich überfordert, besonders das Blech hat darunter zu leiden. Der Klang, auch die Dynamik, wirkt eingeengt. Mit der Transparenz ließe sich noch leben. Ein helles Rauschen hebt sich störend über die in dieser Einspielung allerdings seltenen leisen Passagen der Musik.
4
Wilhelm Furtwängler
Wiener Philharmoniker
Orfeo
1950, Live
10:19 6:04 6:02 22:25
Ähnlich Klemperer wirken die Anfangstakte auch bei Klemperer enorm wuchtig, nun aber auch ein wenig schwerfällig. Das Klavier wird ebenfalls präsent hervorgehoben und enorm perkussiv gespielt (Marcato!), das Blech, Pauke und Gran Cassa enorm akzentuiert. Furtwängler bedient sich enormer Steigerungsverläufe, schreckt dabei auch vor dem ein oder anderen Rubato nicht zurück, erreicht so eine gewisse Romantisierung, gegen die Strawinsky mit seinen „Musterinterpretationen“ angehen wollte. Der motorische Impuls scheint während der dialogischen (konzertierenden) Passagen etwas einzuschlafen. Die „Rumba“ jedoch erscheint beschwingt. Der 1. Satz endet wie ausgeblendet.
Leider klingt der 2. Satz lange nicht mehr so präsent wie der erste. Die gelöste Beschwingtheit Strawinskys ist zugunsten eines wie trauerumflorten langsamen Satzes verschwunden. Die Basslinie ist bei Furtwängler meist recht präsent, was den dunklen Charakter des Satzes bei ihm noch verstärkt.
Auch der 3. Satz wirkt gegenüber dem ersten wie eingeebnet. Daran hat das Spiel der Wiener (bei den Salzburger Festspielen) jedoch keinen Anteil. Da muss technisch was schief gegangen sein. Das Piu presto der Fagotte Zf. 148 wirkt sogar aufgeregt, die Wiener Violinen singen bei Zf. 159 (ben cantando), oft mit einem kleinen Rubato im Spiel, das Klavier klingt immer bemerkenswert durchhörbar. Die Pause bei Zf. 194 (ein einzelner ¼ Takt, umrahmt von einem 5/8 und den folgenden 2/2 klingt bei Furtwängler besonders lange. Die beiden Schlussakkorde wirken weniger farbig. Eine engagierte Wiedergabe, die weniger auf Strawinskys Gefallen hätte hoffen dürfen.
Die Transparenz ist erstaunlich, das gesamte Klangbild wirkt sogar noch ziemlich knackig, die Dynamik (besonders im 1. Satz) wirkt urwüchsig und grob. Leider wirkt sie in den folgenden beiden Sätzen wie eingeebnet. Das Publikum hingegen ist sehr präsent.
4
Lorin Maazel
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München
RCA
2000
9:36 6:35 5:46 21:57
In Lorin Maazels Einspielung steht ein gelungener erster Satz den beiden weniger gelungenen Folgesätzen gegenüber. Es beginnt mit pulsierenden Rhythmen durchaus dringlich. Der dramatisch bewegte Gestus profitiert vor allem von den scharfen Akzenten der Blechbläser. Das Dialogisieren mit schönen Klangfarben und im vollen Sound des glänzenden Orchesters lässt die kompositorischen Ideen nur so vorsprudeln. Das hochwertige Konzertieren wirkt im Gelingen etwas zu leicht und etwas zu locker-perfektionistisch. Die Klarinette am Schluss bleibt gut hörbar.
Der 2. Satz klingt hingegen etwas behäbig. Das leicht vibratoselige Musizieren wirkt vordergründig und klingt einseitig nach heiler Welt. Die vertrackten Melodien wirken leicht und locker. Den feinen Humor vermisst man, da alles dem Schönklang untergeordnet scheint. Die Elegie der Flöte bekommt keine groteske Färbung, es mangelt an Spielwitz und Mehrdeutigkeit. Letzten Endes plätschert der Satz schön dahin.
Im 3. Satz wirkt das exzellente Orchester wenig gefordert. Die Wirkung des Spiels bleibt etüdenhaft gleichförmig und ohne Biss. Der Klang erscheint nur wenig bis überhaupt nicht martialisch. Das Brutale wirkt durch die wie aus dem Ärmel geschüttelte Artikulation viel zu lasch. Das Tremolo der Hörner ist gerade noch so hörbar, ohne dass der Effekt dramatisch als Grimasse oder als Angst einflössend genutzt werden würde. Das Fugato wirkt mechanisch, nicht wie ein Versuch des Wiederaufbaus der militärischen Schlagkraft. Der Satz ist jedoch ein Muster an virtuosem, extrem sauberem Orchesterspiel. Die Einspielung mit Colin Davis mit dem gleichen Orchester lässt jedoch mehr Einsicht in die Komposition erkennen.
Die Aufnahme hat eine schöne Farbigkeit, ist sehr dynamisch, transparent und vermittelt einen guten Überblick über das ganze Orchester. Pauke und Gran Cassa wirken zu sehr ins Orchesterrund integriert. Nur bei Boulez, Rattle, Colin Davis und MTT geht es noch etwas farbiger zu.
4
Robert Craft
Philharmonia Orchestra, London
Naxos
1999
9:40 5:37 5:50 21:07
Download Robert Craft dürfte einer der besten Kenner und Gewährsleute in Sachen Strawinsky gewesen sein. Erst nachdem er 1948 Strawinskys Sekretär und Assistent geworden war, fühlte sich Strawinsky in ihm bis dahin fremd gebliebenen Amerika wohl. Er übernahm auch häufig die anstrengende Probenarbeit für Strawinsky und verfasste zunächst mit dem Meister gemeinsam und nach Strawinskys Tod auch alleine Schriften über Strawinsky und dessen Werke. Niemand dürfte sich mit und in dem Werk Strawinskys besser ausgekannt haben als Robert Craft. Er legte mit dem Philharmonia Orchestra eine technisch untadelige Einspielung vor. Das gut konzertierende Klavier wird klanglich gut hervorgehoben. Wir hatten den Eindruck, dass die Einspielung, die er in ungefähr demselben Alter vornahm wie Strawinsky selbst seine 61er Version (Craft war 1999 bereits 76), etwas zu spät kam. Denn er fällt vor allem in der Schärfe des Ausdrucks und dem artikulatorischen Biss deutlich hinter die Einspielungen des Meisters zurück. Über weite Strecken fehlt es auch einfach an Spannung. Besonders den typisch nach „Sacre du printemps“ klingenden Stellen fehlt es an Saft und Kraft, aber auch an Inspiration.
Auch im 2. Satz fällt die Einspielung ab. Die einzelnen Stimmen erhalten nur wenig eigene Kontur. Dass man das explizit geforderte Espressivo und das Dolce vermisst, erwartet man schon, denn daran lässt es ja auch Strawinsky selbst fehlen (obwohl er es in die Partitur schreibt). Aber Craft setzt dafür keine neue Idee, so vermisst man auch das typische witzeln und die ironische Überhöhung, die Strawinsky selbst dem Satz einhaucht. Man hat den Eindruck, dass Craft das Dogma Strawinskys zur musikalischen Interpretation dann sogar weiter treibt als Strawinsky selbst. Dass die Musiker des PO sich innerlich mehr beteiligen könnten und es in dieser Hinsicht sicher besser machen würden als das Columbia Symphony Orchestra, hört man auch den anderen Einspielungen mit seiner Beteiligung an (hier mit Salonen, bei Klemperer waren es noch andere Musiker).
Im 3. Satz spielt das PO nun mit mehr Einsatz und erheblich akzentuierter. Sogar derb und kraftvoll. Das Stimmengeflecht könnte jedoch erheblich transparenter präsentiert werden, von kammermusikalischem Spiel ist nicht viel zu hören. Am Ende kommt es zu keiner echten Stretta.
Der Klang wirkt generell transparent und ausgewogen, dynamisch und gut gestaffelt, aber auch ein wenig matt.
3-4
Sir Georg Solti
Chicago Symphony Orchestra
Decca
1993
10:10 5:54 6:14 22:18
Sir Georg Soltis Einspielung wirkt weit weniger dynamisch und wuchtig als man das von ihm und seinem Orchester hätte erwarten können. Die Stelle als Chef hatte er bereits zwei Jahre vor dem Entstehen dieser Aufnahme an Daniel Barenboim abgegeben. Der Gestus seines Beitrags zur Diskographie wirkt eher trocken und gezügelt. Das Spiel ist auf eine Objektivierung des Ausdrucks angelegt. Man vernimmt im Wesentlichen nichts als die Partitur, sachlich und ohne persönliche Zutaten. Gehört im Vergleich mit der Einspielung Silvestris ergibt sich ein geradezu betuliches Konzertieren ohne Drang. Das Zügeln des eigenen Temperaments muss Solti schwer gefallen sein. Hier gibt es jedenfalls kein Pointen-Feuerwerk. Das den 1. Satz abschließende Klarinetten-Marcato kommt aber sehr gut.
Der 2. Satz wird wie unter vorgehaltener Hand musiziert. Es ist ein recht zügiges Andante, in dem das Holz mit seiner Brillanz sehr zurückhaltend umgeht. Wir hören so ein Nachtstück ohne Lichtblicke, ohne scherzohafte Momente. Beim Konzertieren komm keine Wärme auf, es klingt sehr nüchtern und wirkt seltsam leblos.
Auch der 3. Satz, wirkt zwar exakt und deutlich aber doch gebremst. Das Orchester kann seine Virtuosität nie ausspielen und kann kaum Glanzlichter setzen. Eine Ausnahme sind die beiden mächtig und voll klingenden Schlussakkorde.
Der Klang der Aufnahme wirkt recht klar aber räumlich eher kompakt.
3-4
Valery Gergiev
London Symphony Orchestra
LSO LIVE
2009
10.01 5:44 6:15 22:00
SACD Zu Beginn des ersten Satzes weiß Gergiev noch vollauf zu überzeugen. Die Dissonanzen werden scharf herausgearbeitet, die Akzente klingen herb. Die Akustik wirkt ähnlich trocken wie in den Eigenaufnahmen des Komponisten. Im Verlauf wirkt das Tempo jedoch bereits beschaulich und der Einspielung gehen Biss und Brisanz weitgehend ab. Die „Eroica-Takte“ erhalten keinen besonderen Nachdruck (in der Eroica drückten sie die Verzweiflung des Helden aus, der Kulminationspunkt der Durchführung im 1. Satz von Beethovens 3. Sinfonie in Es-Dur). Gergiev gönnt ihnen noch nicht einmal ein ordentliches fff. Scharfe Akzente kommen nur noch vom Blech. Das Klavier wirkt zu beiläufig, ist alleine schon räumlich viel zu distanziert, um seiner Solistenrolle gerecht werden zu können. Gegenüber den besten wirkt Gergievs Beitrag zur Diskographie viel zu kultiviert, fast harmlos.
Im 2. Satz spielt das Orchester erneut einwandfrei, wer würde auch behaupten wollen, das LSO wäre plötzlich zu einem schlechten Orchester geworden? Der Gestus ist jedoch ohne Pfiff, die Dynamik stark nivelliert. Es geht alles einfach nur glatt durch, obwohl sich die einzelnen Solisten bemühen bleibt alles, ähnlich Soltis Darbietung, schatten- oder schemenhaft. Gerade dem mittlern Teil scheint die Ausdruckskraft entzogen.
Im 3. Satz kann eine (über)mächtige Gran Cassa nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Luft schon zu Beginn raus ist. Kein Biss, keine Schärfe. Ein Con moto sollte bewegter klingen. Man will sich einfach nicht so schnell vom behäbigen Andante de 2. Satzes verabschieden. Auch dem konzertanten Charakter bleibt man einiges schuldig. Sogar die genialen Hörner des LSO bleiben zwischen Zf. 167 und 168 blass. (Referenz ist hier Salonen). Das Fugato bleibt ohne Esprit. Auch im weiteren Satzverlauf gewinnt man den Eindruck, dass es Gergiev nicht interessiert, welches Anliegen Strawinsky mit dieser Sinfonie gehabt haben könnte. So behäbig walzt sich das Orchester hier dahin. Das ist keine Frage des Tempos: Klemperer bleibt langsamer und schöpft trotzdem eine ganz andere Intensität aus der Musik. Einzig die Gran Cassa schreckt immer wieder wie ein überdimensioniertes Fallbeil Orchester und Zuhörer auf. Den beiden opulenten Schlussakkorden fehlt der spezielle Neapolitaner-Sound einer großen Big Band.
Der Klang hätte die besten Voraussetzungen für eine große Wiedergabe geliefert. Er ist gestochen klar, bietet ein weites aber trockenes Panorama bei sehr guter Staffelung des Orchesters im Raum. Die Balance zwischen Hall und Trockenheit erweist sich als noch natürlich. Und da ist der Mehrwert durch die fünfkanalige Wiedergabemöglichkeit noch nicht einmal ausprobiert worden.
3-4
Kristjan Järvi
Norrlands Opera Symphony Orchestra, Umea
CCnC
2003
9:29 6:21 5:57 21:47
SACD Über die orchestralen Qualitäten des LSO würde sich das schwedische Orchester sicher freuen. Im Ganzen wirkt diese Einspielung zwar auch in den Tempi gut disponiert aber sehr leichtgewichtig. Das Orchester klingt wie ein Kammerorchester und es fehlt ihm der selbstbewusste, tiefgrundierte Klang und der Ausdrucksreichtum der großen Orchester mit denen es in diesem Vergleich zu tun hat. Für den solistischen Anspruch ist das Klavier zu wenig aus dem Gesamtklang hervorgehoben. Es agiert nur als primus inter pares. Die Dynamik wirkt differenziert, ein autoritäres fff vermisst man jedoch. Die motorische Komponente wird gut umgesetzt (der Mensch als Teil einer Kriegsmaschinerie). Die „Eroica-Takte“ klingen lasch, auch hier gelingt kein fff. Sf, ssf und Marcato wirken ebenfalls nur lau.
Im 2. Satz gefällt das warmherzige Musizieren, das Tempo wirkt gediegen. Ein Ausflug ins Groteske wird nicht unternommen.
Ganz ähnlich der Version von Gergiev wirkt das Spiel auch hier allzu leichtgewichtig, natürlich bis auf die alles übertönende Gran Cassa. Für die schneidenden Rhythmen à la „Sacre du printemps“ fehlt es dem Kammermusikklang des Orchesters an Wucht und Masse. So wirkt das Spiel kaum martialisch. Das Schlagzeug bleibt jederzeit gut exponiert, man merkt dem Dirigenten seine perkussive Vergangenheit als Schlagzeuger durchaus an. Dennoch bleibt die Schlusssteigerung schwach, aber die Schlussakkorde klingen schön farbig.
Insgesamt eine leichte und lockere Version, die angesichts des vorgelegten Themas jedoch zu wenig handfest, zu artifizielle, zu harmlos wirkt.
Das Orchester wirkt etwas zu entfernt, ist aber transparent und gut gestaffelt zu hören. Wäre die Gran Cassa nicht so autoritär und übermächtig der Orchesterklang wäre viel zu domestiziert. Die Übersicht über das Orchester ist trotz der relativen großen Entfernung sehr gut. Der Surround-Klang wurde nicht angetestet.
3
Jascha Horenstein
Orchestre National de l´ORTF, Paris (heute: Orchestre National de France)
M+A
1961, Live
10:26 6:21 6:21 23:08
Mono Wie schon häufiger bei nachträglich veröffentlichten Live-Mitschnitten gerade dieses französischen Orchesters gewinnen die Hörer den Eindruck, dass ein paar Proben mehr nichts geschadet hätten. In diesem Fall folgt einem guten, geschärften, sehr wuchtigen Beginn rohen Zuschnittes ein perkussives Klavier, dem stets eine sehr hohe Präsenz zuteil wird. Der Gestus wirkt lebendig. Aber bei den dialogisch-konzertierenden Passagen laufen die Stimmen bisweilen wie nebenher und haben Mühe im Takt zu bleiben. Für klanglichen Feinschliff reicht es da kaum noch. Der „Walking Bass“ kommt hingegen sehr gut heraus (z.B. Zf. 88).
Am eng verzahnten Konzertieren fehlt es auch im 2. Satz. Zudem fällt auf, dass alle Instrumente gleich laut klingen. Eine Gewichtung im Sinne der Partitur in Haupt- und Nebenstimmen findet nicht statt. Alles klingt nach ff. Will man den zarten Charakter des Satzes nicht gefährden, muss man nachregulieren. Das Dolce der Oboe muss man als problematisch ansehen. Das Spiel des Ensembles erscheint für das Entstehen von liebevollem Feingefühl nicht hinreichend geprobt. Dass es in diesem Satz anders klingen kann, haben sehr viele Einspielungen in unserem Vergleich bewiesen. Sagen wir aber, Horenstein lässt hier im Columbia-Sound musizieren und das Fazit würde sich gleich viel besser anhören. Das würde aber außer acht lassen, dass das amerikanische Orchester viel präziser agiert.
Klanglich wirkt auch der 3. Satz ziemlich unausgewogen und das Columbia SO Strawinskys aus demselben Aufnahmejahr könnte nun nicht mehr als Entschuldigung dienen, das war von einem ganz anderen Kaliber. Die Diktion wirkt bei Horenstein extrem vorsichtig als ginge es vor allem darum, größere Fehler („Patzer“) zu vermeiden. Das f und ff des Bleches wirkt nun leiser als das p des Holzes. Im Fugato geht es dagegen schon mit einem ff los (statt p), sodass hier kein zaghafter Wiederaufbau nach dem Aufreiben der deutschen Armee in Stalingrad Thema sein kann. Auch der Beginn eines groß angelegten Crescendos kann mit diesem viel zu lauten Beginn nicht angemessen starten. Die Präzisionsprobleme des Orchesters bei den komplexen Akkordballungen, das Zerbrechen der Deutschen darstellend, sind nicht zu überhören.
Der größte Nachteil der Einspielung, die so gut begonnen hat, ist jedoch, dass man fast die ganze Sinfonie in einer Lautstärke zu hören bekommt.
3
En Shao
New Zealand Symphony Orchestra, Wellington
Naxos
1995
9:44 6:02 6:02 21:48
Das eigentlich gute Orchester aus Neuseeland, das uns schon bei manch einem Vergleich begegnet ist (Sibelius 3, Hindemith: „Sinfonische Metamorphosen“) hat trotz der Studio-Bedingungen ebenfalls mit den spieltechnischen Tücken der Sinfonie zu kämpfen. Das Zusammenspiel scheint hier aber nicht so offensichtlich gefährdet wie in dem Mitschnitt aus Paris zuvor. Man merkt der Wiedergabe jedoch eine permanente Unschärfe an, von der eigentlich nur die beiden makellosen Schlussakkorde nicht betroffen sind.
Das Spiel ist auch weniger kontrastreich, die konzertanten Partien erscheinen weniger prägnant ausgeformt und weniger schlüssig. Positiv zu vermerken ist das recht präsente und gut konturierte Klavier. Es könnte aber durchaus virtuoser gespielt werden. Rhythmisch und artikulatorisch fehlt es dem Orchester an Präzision. Auch die Dynamik wirkt leicht verschliffen.
Im 2. Satz läuft die Harfe wie nebenher. Auch bei der solistischen Eloquenz kann das Orchester dieses Mal nicht mit nahtlos aufeinander passendem Zusammenspiel aufwarten. Die rhythmisch vertrackten Soli lassen ihre Schwierigkeiten noch spürbar werden. Der sonst oft expressiv gesteigerte Mittelteil wirkt seltsam diffus und auch etwas flüchtig. Den Scherzoelementen wird kaum nachgegangen.
Im 3. Satz kommt das Blech kaum hinreichend zur Geltung. Das Tempo wirkt stimmig aber die Rhythmik verschliffen. Die dynamischen Vorschriften werden nicht immer genau genug beachtet. Das Fugato wirkt im späteren Verlauf undeutlich. Es fehlt dem Spiel am Eindruck des Mühelosen und auch der Nuancenreichtum lässt zu wünschen übrig. Lediglich die beiden Schlussakkorde, wir erwähnten es bereits eingangs, wirken makellos intoniert, sehr farbig und prall. Ein guter Schluss reicht leider nicht für eine erfolgreiche Unternehmung.
Der Orchesterklang wirkt in dieser Aufnahme vor allem im Tutti recht dicht, weniger offen und weniger transparent. Er klingt mulmig und hinterlässt einen ebensolchen Eindruck. Wenig brillant und eigentlich sogar ziemlich matt das Ganze.
Vergleich beendet am 7.4.2022