Antonín Dvorák

Othello 


Konzertouvertüre für großes Orchester op. 93

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Werkhintergrund:

 

Hört man den Namen „Othello“ denkt man zuerst an Shakespeare, dann vielleicht noch an Verdi, aber wohl kaum an Dvorak.  Als „much ado about a handkerchief“ wurde Shakespeares Othello bisweilen persifliert. Dass tatsächlich ein “Nichts” – ein zartes Spitzentaschentuch – zum Auslöser des tödlichen Eifersuchtsdrama wird, macht freilich gerade seine Tragik aus. Die psychologischen Manipulationen des Intriganten Jago, die Othello aus Venedig an Desdemonas Treue zweifeln lassen, interessierten Dvorak allerdings nur eher untergeordnet. Das Thema seiner Konzertouverüre Othello ist die Macht der Liebe, wenn auch in Form einer zerstörerischen Leidenschaft

Zwischen März 1891 und Januar 1892 arbeitete Antonín Dvorák an einem Zyklus von drei Konzertouvertüren, der den Gesamttitel Natur – Leben – Liebe und die Opuszahl 91 erhalten sollte. Jede der Ouvertüren wurde mit einem eigenen Untertitel versehen: I. Natur, II. Leben (Karneval), und III. Liebe (Othello). Die Uraufführung des Zyklus erfolgte schließlich am 28. April 1892 im Prager Rudolfinum unter der Leitung des Komponisten. Als die Ouvertüren im nächsten Jahr aber zum Druck gelangten (bei Simrock in Berlin), waren der Gesamttitel sowie die einheitliche Opuszahl verschwunden; die Ouvertüren erschienen nun als drei gänzlich selbständige Stücke: In der Natur op. 91 (Tschechisch: V Prirode), Karneval op. 92 und Othello op. 93. Von ihrer einstigen Zusammengehörigkeit zeugt nur noch ein gemeinsames Thema, das gleich zu Beginn von In der Natur erklingt und in den beiden anderen Ouvertüren an prominenter Stelle wiederaufgenommen wird.

Dvorak machte sich Gedanken in einem Brief an seinen Verleger über differenzierte Bezeichnungen: „Da jede Ouvertüre ein selbstständiges Ganzes ist, möchte ich die Titel wie folgt ändern: Ouvertüre F-Dur „In der Natur“ op. 91, Ouvertüre A-Dur „Karneval“ op. 92, Ouvertüre fis-Moll „Othello“ oder Tragische oder Eroica? Oder sollen wir einfach „Ouvertüren“ belassen? Im Grunde ist es aber doch Programmmusik.“

Nach der Drucklegung führte jedes der drei Werke ein weitgehend eigenständiges Leben, wobei nur Karneval seinen Platz im Repertoire behaupten konnte und sogar eine gewisse Popularität erlangte. Auch die Zahl der Einspielungen spricht eine klare Sprache, werden doch von Othello gerade einmal 35 Einspielungen (auf der Seite Antonin-Dvorak.cz) gelistet, von Karneval aber ca. 80. Doch auch In der Natur und Othello sind höchst interessante Werke, die auf eloquente Weise von Dvoraks kompositorischem Können in den frühen 1890er Jahren – kurz vor seiner Übersiedlung in die Neue Welt – zeugen.

Im Gegensatz zu den anderen Teilen der Trilogie entfernt sich die Othello-Ouvertüre – vielleicht wegen ihrer Assoziation mit einem bestimmten literarischen Werk – etwas von der traditionellen Idee der Sonatenform. Dies gilt auch für die eher epischere Gesamtatmosphäre des Stücks mit diversen plötzlichen Stimmungsschwankungen und einer spürbaren Dramatik. Obwohl man das Werk nicht als getreue musikalische Adaption von Shakespeares Tragödie bezeichnen kann, weisen seine einzelnen Teile gewisse Parallelen auf.  Der der Exposition entsprechende Abschnitt ist Jago und seinen Intrigen gewidmet, die bei Othello Zweifel säen, die sich in dem fesselnden Thema widerspiegeln, das gewöhnlich als „Motiv der Eifersucht“ bezeichnet wird (in Bezug auf die musikalische Struktur könnten wir dies das Hauptthema bezeichnen). Die ausgedehnte lyrische Episode in der Exposition könnte als Liebesduett zwischen Othello und Desdemona angesehen werden. Die markante, dramatische Entwicklung, die auf einer komplexen harmonischen Basis aufgebaut ist und seltsam verzerrte Varianten des anfänglichen thematischen Materials behandelt, stellt die Szene von Othellos Eifersucht dar, die in der Ermordung von Desdemona gipfelt. An dieser Stelle führt Dvorak bemerkenswerter Weise das viertönige Leitmotiv aus seinem Requiem ein. Die Reprise ist wahrscheinlich ein Bild von Reue, Trauer und herzzerreißenden Erinnerungen an ein längst vergangenes Glück. Die mitreißende, spektakuläre Coda kann als Ergebnis der gesamten Tragödie betrachtet werden – die Szene von Othellos Selbstmord. 

 

Dass Dvorak die Idee der zerstörerischen Liebe eng mit den Naturgewalten verband, belegt die häufige Verwendung des Naturmotivs aus dem ersten Teil der Trilogie. Allerdings wird das Motiv nicht in seiner ursprünglichen idyllischen Form verwendet, sondern so stark verzerrt, dass es an manchen Stellen eine Stimme der Warnung ist; an anderer Stelle in diesem Stück ist der Ruf der Natur bedrückend und entmutigend. Nach der heute verlorenen Ouvertüre Romeo und Julia ist Othello das zweite (und letzte) Werk, in dem Dvorak Inspiration in Shakespeares Oeuvre suchte. (aus Antonin-Dvorak.cz)

Die Ouvertüre schildert in Dvoraks freier Interpretation einem zweiten, etwas unterschiedlichen  Deutungsversuch nach (Quelle: Dielitz, siehe unten), den wir dem geneigten Leser nicht vorenthalten wollen, nur den letzten Teil der Tragödie, beginnend mit Desdemonas Nachtgebet, das in der langsamen Einleitung als innige Weise der gedämpften Streicher erklingt. Ein unheilvolles Bassmotiv stört die fromme Szene vorübergehend, dann bereitet ein dramatisches Bläsercrescendo die Ankunft Othellos vor. Reminiszenzen an Jagos Intrigen werden hier ausgeklammert. Othellos markantes, energisch absteigendes Motiv kündet von mörderischer Entschlossenheit, die dennoch im folgenden Allegro con brio bei Desdemonas Anblick – zu hören als unschuldige Oboenmelodie – zeitweise ins Wanken gerät. Erinnerungen an vergangenes Glück kondensieren sich zu einem walzerartigen Reigen, die verzehrende Sehnsucht der Liebenden kulminiert ein letztes Mal in einer chromatisch aufsteigenden Passage von geradezu tristanesker Leidenschaft, zu der Dvorak in detaillierten Bleistiftnotizen anmerkte: „Sie umarmen einander in seliger Wonne“. Die Triolen aus Othellos eingangs bereits gehörten Rachemotiv kehren jedoch bald zurück und hämmern sich obsessiv in seinen fehlgeleiteten, verblendeten Geist. Seine Eifersucht steigert sich zur unaufhaltsamen Raserei und gipfelt in einem erschreckenden Fortissimo-Tremolo der Streicher, das unmissverständlich die Gewalttat an der vermeintlich untreuen Ehegattin bezeichnet. In berührender Zartheit kehrt nun Desdemonas naives Motiv in der Flöte wieder, mit dem sie ihn zum letzten Mal ihrer Unschuld versichert“, bis es im wahrsten Sinne des Wortes erstirbt (morendo). Mit dem Nachlassen des Zorns erwacht auch Othellos schmerzliche Reue: Er versucht zu beten – zu derselben Weise, die in der Introduktion für Desdemonas Nachtgebet stand. Der anschließenden Wiederkehr der chromatisch, aufsteigenden Sehnsuchtsmelodie entspricht Dvoraks Kommentar: „Er drückt einen letzten Kuss auf ihre Lippen“. Die verklärende Erinnerung mündet in die Erkenntnis der grausamen Wahrheit, der schnell und unsentimental der verzweifelte Selbstmord folgt.

Zumindest der Scheidungsanwalt geht in dieser Geschichte dieses Mal leer aus.

Für den Partiturleser oder den Musikwissenschafter unter uns (und um nicht zu langweilen sollten nur noch diese überhaupt weiterlesen), heißt das alles:

Ungewöhnlich für Dvořák ist gleich zu Beginn die besonders ausgedehnte langsame Einleitung mit der choralartigen Melodie in den Streichern und der Vorausnahme von Fragmenten des Hauptthemas. Die darauffolgende Exposition ist eher traditionell gestaltet und umfasst ein strenges, etwas düsteres Hauptthema (T. 49-93), eine leidenschaftliche Überleitung (T. 94-144) sowie eine Gruppe von lyrischen Seitenthemen (T. 145-244), von denen das erste ein wenig an Tschaikowski erinnert. Es liegt auf der Hand, die beiden kontrastierenden Blöcke in der Exposition (Hauptsatz und Überleitung auf der einen, Seitensatz auf der anderen Seite) mit den Charakteren von Othello beziehungsweise Desdemona zu identifizieren. Die Exposition endet mit einem Schlusssatz (T. 245-276), über dem Dvorak in seiner Handpartitur zum ersten Mal eine programmatische Deutung schreibt: „Sie umarmen einander in seliger Wonne.“

Die im Anschluss an die eher kurze Durchführung eintretende Reprise ist völlig andersartig gestaltet. Hier ist Dvořák tatsächlich, wie Hanslick bemerkte, nicht „er selbst“, und zwar in dem Sinne, dass er hier eine Reprise schreibt, die sich viel stärker von der vorangegangenen Exposition unterscheidet als dies in seinen sonstigen Orchesterwerken der Fall ist. Hauptsatz und Überleitung erscheinen weitgehend neu komponiert und führen zu einem Höhepunkt gleich vor Eintritt des Seitensatzes. An dieser Stelle notiert Dvořák in seiner Partitur: „Othello ermordet sie in toller Wut.“ Kaum überraschend wird das darauffolgende Seitenthema – Desdemona – stark verkürzt, das passiert nun natürlich nicht mehr viel.  Zwischen Seitenthema und Schlusssatz (der genau mit der parallelen Stelle in der Exposition übereinstimmt) sind zwei neue Passagen eingefügt: Eine weitere Variante des Hauptsatzes und eine Reprise der Choralmelodie aus der langsamen Einleitung (jetzt in den Bläsern). Auf den Schlusssatz folgt eine Coda, die zu einem stürmischen Schluss führt und – wiederum laut Dvořák – den Selbstmord Othellos darstellt.

Sowohl In der Natur als auch Karneval erscheinen geradezu exemplarisch für die unterschiedlichen Facetten von Dvořáks künstlerischer Persönlichkeit. Anders geartet aber ist die dritte Ouvertüre, Othello. Schon nach der Wiener Uraufführung 1895 kommentierte Eduard Hanslick (der aus heutiger Sicht mit seinen Beurteilungen ja öfter mal daneben lag) in der Neuen Freien Presse: „Im Karneval und der Frühlings-Ouvertüre (gemeint ist In der Natur) ist Dvořák er selbst, im ‚Othello’ trägt er eine Maske, die bald an Liszt, bald an Wagner erinnert.“ Mit dieser Beobachtung zielte Hanslick wahrscheinlich in erster Linie auf eine Anzahl oberflächlicher Merkmale des Stückes, die in Richtung der neudeutschen Schule verweisen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Verwendung einiger für Dvořáks Orchesterwerke eher untypischer Instrumente wie Harfe und Hangbecken, sondern auch um eine Reihe von orchestralen Effekten, die deutlich an Liszts Symphonische Dichtungen oder Wagners Musikdramen gemahnen. Die in diesem Sinne auffälligste Stelle erklingt kurz vor Beginn der Durchführung (sowie später vor Eintritt der Coda): In T. 261-268 und 580-587 spielt das Orchester eine ungewöhnliche Akkordfolge, die unüberhörbar auf die „Schlafakkorde“ aus dem Schlussakt von Wagners Walküre verweist (nach de Moortele).

Der Einfluss vor allem von Liszts Symphonischen Dichtungen auf Dvořáks Othello bleibt allerdings nicht auf derartige Äußerlichkeiten beschränkt. In Othello ist die Bedeutung des außermusikalischen Programms – der Geschichte von Shakespeares Tragödie – für die formale Gestaltung des Werkes viel größer als in jedem anderen Orchesterwerk seit Dvořáks Frühzeit. Der enge Zusammenhang von Form und Programm ist aus einer Reihe programmatischer Deutungen ablesbar, die Dvořák mit Bleistift in seinem Handexemplar der Partitur eingetragen hat. In diesem Sinne stellt Othello einen Wendepunkt in Dvořáks Entwicklung als Komponist dar. In den fünf Symphonischen Dichtungen, die er später noch komponieren sollte (eine davon ist „Die Waldtaube“, deren Einspielungen bereits von uns verglichen wurden), nimmt die Distanzierung von klassischen Formmustern zugunsten einer unmittelbaren Vertonung des Programms noch weiter zu.

 

(Partitur für den Vergleich von Simrock in der Fassung von 1894,  Text verfasst mit Hilfe von Steven van de Moortele, in „Repertoire explorer“ 2009, Alexandra Maria Dielitz im Beiheft zur Einspielung mit John Fiore mit dem Münchner Rundfunkorchester und der Seite Antonin-Dvorak.cz)

 

Abschließend zusammengestellt am 21.8.2021

 

 

 

 

Antonin Dvorak, Photographie unbekannten Datums.

 

 

 

Rezensionen der gehörten Einspielungen:

 

 

5

Karel Ancerl

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon

1962

15:42

 

Die Einspielung Ancerls begeistert von Beginn an mit gespanntem, facettenreichen Musizieren. Kein Detail geht hier verloren, wirkt vielmehr wie herauspräpariert, obgleich es doch immer Teil des Ganzen bleibt. Gegenüber der gerade zuvor gehörten eigentlich sehr gelungenen Einspielung mit Claudio Abbado wirkt Ancerls Ansatz zwar erheblich langsamer vom Zeitmaß her, aber mit noch schärferer, schon zu Beginn geradezu inspiriert-drastischer aber wie vom Schmerz durchdrungener Artikulation. Die ff und sf werden schroff herausgearbeitet. Die Ouvertüre wird hier im weiteren Verlauf zu einem Psychogramm Othellos. Das Orchester wird zu einem ausgesprochen aufmerksamen, beherzten und lebendigem Spiel auf vorderster Stuhlkante animiert. Die Holzbläser scheinen ihre besten (Rohr)blätter eingelegt bzw. aufgesteckt zu haben, denn auch die Intonation erscheint gegenüber mach anderer Aufnahme des Orchesters aus jener Zeit verbessert. Frappierend ist sowohl die Klarheit des Klangs (Hörner!) als auch der gesamten Gestaltung des Werkes. Der Hörer vermeint fast schon den Geist Dvoraks selbst zu spüren, so authentisch und überzeugend erscheint diese Darstellung. Einzig die pp könnten noch deutlich leiser zu sein. Dafür bekommen wir eine zu allem entschlossene mitreißende, wahrlich tödliche Stretta zu hören. Diese Einspielung ist ein Meisterwerk. Sie intensiviert die lyrischen und die dramatischen Passagen mit großem Tiefgang und setzt sie mustergültig in Balance.

Auch die technische Realisierung hat ebenfalls Anspruch auf den Titel Meisterwerk. Das Klangbild ist sehr transparent, großräumig und trotzdem von hautnaher Präsenz. Das leichte Rauschen erscheint gegenüber dem Gebotenen als völlig unerheblich, denn man nimmt es nur am Anfang kurz wahr, bevor man dann von der Darbietung gefangen ist und es einfach verschwindet. Die Dynamik ist extrem weit gespannt.. Der Gesamtklang ist exzellent. Fraglos haben wir eine auch sehr gute Überspielung erwischt. Fast jeder Chefdirigent der Tschechischen Philharmoniker hat die drei Ouvertüren und damit auch „Othello“ eingespielt, diese ist jedoch, von allen die uns bekannt sind, die beste des „Othello“.

 

5

Henry Swoboda

Orchester der Wiener Staatsoper

Westminster

1952

13:20

 

MONO  Trotz des eher britisch anmutenden Vornamens handelt es bei Herrn Swoboda um einen waschechten Landsmann des Komponisten. Und er macht aus Wien eine Nachbarstadt Prags. Ansonsten erfährt man leider nicht viel über diesen Dirigenten. Vor der Machtergreifung arbeitete er für Electrola in Berlin, dann als Dirigent für den tschechischen Rundfunk in Prag. 1931 emigrierte auch er in die USA. Er machte insbesondere in den frühen 50er Jahren einige Aufnahmen für das Label Westminster und andere Labels.

Auch seine Musizierweise wirkt, wie die Ancerls, von Beginn an hochkonzentriert und schafft eine spannende, ja aufgeheizte Atmosphäre. Wir spüren förmlich schon das Unheil, das bald kommt, obwohl es das Notenbild noch gar nicht hergibt. Die sf gehen durch Mark und Bein. Artikulation und Phrasierung sind sehr genau. Die Dynamik geht bisweilen über das in der Partitur Notierte hinaus. Wie so oft bei Aufnahmen der frühen fünfziger Jahre gibt es selten einmal ein echtes p oder gar pp, dafür wirkt ein ff oder fff mitunter berstend laut. In diesem Fall aber auch voller Leidenschaft ausgespielt.

Das Orchester spielt leidenschaftlich motiviert und schärft die Dramatik des Werkes außerordentlich an. Die aufgeheizte Darbietung wirkt auf eine urwüchsige, unmittelbare Art und ist zu keiner Sekunde auch nur einen Hauch langatmig. Die Intensität des Spiels, ob lyrisch oder dramatisch geprägt, lässt nie nach. Hier spricht auch die objektive Spielzeit Klartext. Sie ist die kürzeste des ganzen Vergleiches. Und das Con Brio. Tolle Stretta!

Der Klang wird geprägt von einem enorm hohen Aufsprechpegel. Alles wirkt ziemlich laut, aber doch recht differenziert und gut durchhörbar. Der Klang der Violinen wirkt ein wenig gewöhnungsbedürftig.

 

5

Rafael Kubelik

Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München

DG

1976

14:07

 

Kubelik führt das damals schon hochklassige Orchester voller Vitalität  zu einem sehr spannenden, musikalisch mitreißenden Vortrag, der geprägt ist von deftigen Dynamikspitzen und durchaus auch herb ausgespielten Akzentuierungen (sf der Pauke T.186!). Die gesanglichen Passagen (besonders die als Reminiszenz an die liebevolle Vergangenheit) werden jedoch besonders herzergreifend ausgesungen. Das Orchesterspiel ist erheblich klangvoller als das des Orchesters der Wiener Staatsoper und auch ein wenig voller und runder als das der Tschechischen Philharmoniker in der Einspielung unter Ancerl. Zusätzlich dramatisierend wirkt es auch, dass sich die ersten und die zweiten Geigen gegenübersitzen. Sie stacheln sich so viel deutlicher hörbar gegenseitig an und befeuern sich. Die Wiedergabe wirkt sehr gut rhythmisch durchpulst. Die Stretta am Ende wird voll ausgereizt, quasi in den Wahnsinn hinein gesteigert. Eine hervorragende Leistung.

Die Aufnahme wirkt klar und recht gut gestaffelt, kann aber mit der offener klingenden Transparenz der Ancerl-Einspielung nicht ganz mithalten. Dagegen erscheint sie praller, fast ein wenig stämmig. Sie wirkt aber auch sehr dynamisch. Auffallend ist auch, dass die Bässe links spielen, aber das ist ja eigentlich meistens so, wenn die zweiten Geigen rechts platziert sind.

 

5

Yannick Nézet-Seguin

London Philharmonic Orchestra

LPO Eigenlabel

2016, LIVE

14:16

 

In dieser zweitjüngsten Einspielung unseres Vergleiches wirkt der Orchestersatz extrem durchleuchtet und das schließt, was besonders erfreulich ist, auch die Streicher mit ein. Das Orchester wirkt sehr gut geprobt (LIVE), nach unserer Beobachtung geht überhaupt nichts schief, ganz im Gegenteil. Wir kommen in den Genuss eines sehr gefühlvollen aber auch dramatisch zugespitzten Spiels mit zupackendem Biss und einer souveränen Verve. Leider werden im „Eifer des Gefechts“ die p mitunter ein wenig überspielt. Das hervorragende Orchesterspiel wirkt stets gepaart mit einer sehr präzisen Feinfühligkeit. Das Holz und die Streicher werfen sich die „Bälle“ schön zu. Das Zusammenspiel wirkt kammermusikalisch verinnerlicht. Auch hier vernehmen wir eine herausragende Stretta, wie bei eigentlich allen Einspielungen der „Summa cum laude“  Kategorie.

Mit der Aufnahme Hrusas ist dies die einzige High-Res Version, die im Vergleich vorlag. In diesem Fall macht sich das in einem vollen, sonoren, geschmeidigen, wunderbar transparenten, hellhörigen Klangbild bemerkbar, das zudem auch noch extrem dynamisch und plastisch wirkt. Die Präsenz hat hier deutlich Vorrang vor Weiträumigkeit. Eine Einspielung, die besonders audiophil orientierten Hörern das Herz höher schlagen lassen könnte. Aber auch Dvoraks Othello macht sie, auch wenn man die Technik außer acht lässt, alle Ehre.

 

5

Istvan Kertesz

London Symphony Orchestra

Decca

1966

14:46

 

Wie in so vielen Einspielungen des Orchesters für Decca, besonders in den sechziger Jahren, erleben wir auch hier wieder ein rhythmisch prononciertes, gespanntes, knackig frisches und hochemotionales Spiel über alle Gruppen hinweg. Das leidenschaftliche Liebesdrama kocht sehr hoch. Gegenüber Rowicki, der in seiner Einspielung das gleiche Orchester, nur fünf Jahre später, zur Verfügung hatte, wirkt das Spiel des LSO hier noch etwas rhythmischer, vorantreibender und impulsiver. Wie fast immer (wie schon beim Vergleich Janacek: Sinfonietta oder auch Respighi: Fontane di Roma) darf man auch dieses Mal die Hörner und, das ist nicht ganz so häufig, die dieses Mal enorm klangschönen Violinen noch etwas herausheben. In seiner dramatisch geprägten Gangart beschert uns Kertesz und das Orchester hier eine Achterbahn der Gefühle.

Der Klang der Aufnahme bietet eine tolle Dynamik, wirkt frisch und sehnig. Hohe Transparenz und leuchtende Farben.

 

5

Claudio Abbado

Berliner Philharmoniker

DG

1997

13:32

 

Dieser Konzertmitschnitt (von einem Live-Ambiente mit Zuschauerbeteiligung bekommt man jedoch nichts mit) wirkt von Beginn an sehr atmosphärisch. Cantabilität wird hier groß geschrieben. Die dynamischen und artikulatorischen Abstufungen wirken reichhaltig. Auch hier wirkt das Spiel vorantreibend und beherzt. Auch am zupackenden Elan nimmt man gerne Teil, der Schwung erhält passagenweise eine gewisse ausdrucksvolle Eleganz, die man bei Ancerl noch eher als unerbittliche Schärfe vernommen hat. Beides hat hier aber durchaus seine Berechtigung zumal es nur im Vergleich richtig auffällt. Die Berliner spielen auch einfach noch virtuoser und das Orchester stellt seine Sonderklasse erneut unter Beweis. Der dramatisch aufgepeitschten Szenerie außergewöhnlicher Leidenschaft wird das Spiel des Orchesters auf mitreißende Art gerecht, den lyrischen Passagen sowieso. Extrem aufgepeitscht auch hier die selbstmörderische Stretta. Dass Abbado auch ein hervorragender Operndirigent war, wird in dieser Konzert-Ouvertüre mehr als deutlich.

Der Klang der Einspielung setzt die berückend schönen Klangfarben des Orchesters ins rechte Licht. Die Raumanmutung wirkt natürlich. Die Präsenz ist sehr gut, die Transparenz gut, ebenso die Dynamik. Das Orchesterpanorama wirkt nicht sonderlich weiträumig und der Gesamtklang wirkt leicht gedeckt, sodass sogar die 36 Jahre ältere Ancerl-Aufnahme etwas brillanter wirkt.

 

 

 

4-5

Witold Rowicki

London Symphony Orchestra

Philips

1971

14:12

 

Rowicki legt eine sehr nuancierte Einspielung der Ouvertüre vor. Schon am Anfang wird dies deutlich. Ein Takt nach Zi. 2 spielen Flöten und Klarinetten ihr Thema f, vier Takte später im pp. Das hört man hier exemplarisch. Bei den meisten Produktionen wird dies gänzlich nivelliert und in derselben Lautstärke und Intensität gegeben. Und das sehr wahrscheinlich ohne im Gesicht rot zu werden. Spaß beiseite, das war so auffällig, dass wir schon vermuteten, es gäbe zwei Versionen der Partitur.

Rowicki erzeugt viel Atmosphäre und lässt das Drama zu seinem Recht kommen. Gegenüber der Einspielung mit Kertesz und dem LSO fünf Jahre zuvor wirkt das Orchesterspiel nicht ganz so vital und bewegt. Rowicki richtet seinen Blick mehr nach innen, lässt etwas bewusster und introvertierter spielen. Ein hohes Einfühlungsvermögen wird auch hier deutlich. Kertesz´ Zugang wirkt jedoch jugendlich-frischer, brillanter auch unbekümmerter, offensiver. Das Orchester bringt dem polnischen Dirigenten aber die gleiche Motivation entgegen, wie dem ungarischen. Die Stretta am Ende wirkt nur tempomäßig reduziert, die Entschlossenheit und die Dramatik werden jedoch voller Biss und Wucht deutlich gemacht.

Die Aufnahme rauscht vernehmlich und etwas stärker als die Decca von 1966. Sie wirkt auch weniger brillant aber insgesamt sehr ausgewogen, transparent und natürlich.

 

4-5

Marek Stryncl

Musica Florea, Prag

Arta

2019, LIVE

14:43

 

In dieser Einspielung stellt sich ein Ensemble vor, das eigentlich mehr in der Barock-Musik  beheimatet ist. Es ist gerade dabei, eine Gesamtaufnahme aller Sinfonien Dvoraks einzuspielen. Man macht sich dabei die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis (auch das vibratolose Spiel) zunutze und verwendet durchweg Instrumente der Zeit. Vor allem schaut man wieder sehr genau hinein in die Partitur und stellt so manches neu und völlig unerhört dar. Das Spiel des Orchesters wirkt so sehr hellhörig und klangfarbenreich. Der Klagegesang Desdemonas wirkt so noch deutlicher herausgearbeitet als in den anderen Einspielungen, weil eine sehr deutliche, deklamatorisch geprägte Phrasierung angewendet wird. Auch werden Glissandi zwischen den entsprechenden Klangmotiven eingebaut, was sonst niemand macht und was auch nicht in der Partitur steht. Irgendeine uns nicht zugängliche Quelle wird es wohl verraten haben. Dies alles wird zudem voll ausgespielt. Auch die Piatti werden nicht wie so oft sträflich vernachlässigt, sondern hier ist jeder Einsatz entsprechend der vorgegebenen Dynamik präsent. Man operiert mit viel Rubato, übertreibt es aber nicht damit. Einige Tempi könnten jedoch etwas dringlicher, auch lebendiger wirken. Auch fehlt dem Orchester noch die geschmeidige Virtuosität eines Freiburger Barockorchesters. Die Stretta allerdings ist super, man sollte sie unbedingt einmal gehört haben.

Der Klang der brandneuen Einspielung ist offen, sehr weiträumig, fast luftig, sehr transparent und dynamisch.

 

4-5

Jakub Hrusa

PKF Prague Philharmonia

Pentatone

2015

14:33

 

Auch Jakub Hrusa nimmt Elemente der historischen Aufführungspraxis mit auf in seine Darstellung der Ouvertüre. So erreicht er eine sehr differenzierte, sprechende Phrasierung. Das Spiel Orchesters wirkt stets sehr einfühlsam und aufmerksam. Im Allegro con brio schlägt Hrusa so das gleiche Tempo an, wie der gerade zuvor gehörte Gunzenhauser, das Ergebnis wirkt jedoch erheblich lebendiger und farbiger. Auch gegenüber seinem Landsmann Bohumil Gregor, der auch zuvor gehört wurde, heizt Hrusa den Gestus nicht mehr an als dieser, bringt ihn aber viel klarer und letztlich besser zur Geltung. Schließlich wirkt der von ihm inszenierte Selbstmord Othellos auch viel entschlossener und dramatischer. Gegenüber der Einspielung mit Nézet-Seguin, die wegen der gleich hoch aufgelösten Herkunft der Aufnahme als Vergleich dienen darf, wirkt das Orchesterspiel des LPO deutlich leichter und virtuoser, während das der PKF einen etwas breiteren Pinselstrich pflegt und zwar schön sonor aber auch etwas schwerer, behäbiger wäre schon viel zu viel gesagt, klingt.

Der High-Res File klingt voll, satt und rund, klangmächtig, gar prall. Sehr farbig, präsent und ausgewogen. Die Dynamik wirkt weit ausgereizt, der Gesamtklang wirkt sehr gut vom Bass her aufgebaut.

Übrigens, falls es jemanden interessiert, PKF bedeutet soviel wie Prager Kammerphilharmonie und weist so auf die ursprünglich geplante Gründung 1993 als neues Kammerorchester Prags hin.

 

4-5

Vaclav Talich

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon

1952

16:35

 

MONO   Die Temponahme Talichs ist genau gegenteilig zu der im gleichen Jahr entstandenen Einspielung Swobodas. Hier liegt nun also die langsamste Einspielung des Vergleiches vor. Das bedeutet aber nicht, dass Talichs Beitrag zur Diskographie des Werkes langatmig wäre, da gibt es viele, die zwar schneller sind aber viel weniger Spannung aufbauen können. Talichs Tempo wirkt noch nicht einmal getragen, sondern dramatisch bewegt und versehen mit einem zumeist starken Drang nach vorne. Dabei kommt ihm ein ziemlich reiches Differenzierungsvermögen zugute und vor allem, dass er stets den großen Bogen im Blick hat. Und natürlich ein Orchester, das sich hier in einer sehr guten Form präsentiert und offenkundig zumindest musikalisch unbeeinflusst von den politischen Problemen und Wirrnissen der Zeit aufspielen kann.

Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass im lyrischen Mittelteil die Spannung doch leicht durchhängt. Aber das hängt ja auch immer ein gewisses Maß an der Verfassung des Zuhörers. Und schon bald durchbricht der harte Zugriff bei den dramatisch geprägten Passagen dieses Intermezzo wieder.

Insgesamt begegnet Talich jedoch dem Sujet des Werkes mit dem ihm gebührenden harten Zugriff. Nur vereinzelt vermag er das Feuer nicht am Lodern zu halten.

Die Aufnahme klingt meist durchsichtig und nur ganz leicht angegraut. Dynamisch wirkt sie erstaunlich weit ausgreifend.

 

4-5

John Fiore

Münchner Rundfunkorchester

Orfeo

2003

14:27

 

Wie immer nach alphabetischer Reihenfolge wurde diese Einspielung als dritte nach der von Abbado und von Ancerl gehört. Gegenüber den beiden Vorgängern hat sie einen schweren Stand, denn weder kann sie sich mit der tiefschürfenden Ausdruckskraft der Ancerl-Einspielung messen, noch mit der virtuos-glanzvollen aber auch teilweise drastischen, vehementen Leidenschaft der Einspielung mit Abbado. Aber abgesehen von diesen beiden Maßstäben könnte sich nahezu jede Stadt glücklich schätzen, so ein gutes Orchester zu haben. Es spielt hier sehr emphatisch, mit schönen Soli der Holzbläser und stets sehr gefällig und klangvoll. Es setzt das dramatische Geschehen zwar nicht so unter Hochspannung wie die zuvor gehörten aber auch keineswegs betulich. Diese Einspielung wirkt als ganzes maßvoll und ausgewogen, Insgesamt recht spannend aber nicht so zugespitzt wie die, die in der Liste weiter oben stehen.

Der Klang wirkt recht voluminös, fast schon opulent, sehr räumlich, warm, voll und rund. Also sehr gut geeignet um die Musik Dvoraks gebührend aufblühen zu lassen.

 

4-5

Theodore Kuchar

Janacek Philharmonic Orchestra, Ostrava

Brilliant

2003

14:01

 

Gegenüber der vorgenannten Einspielung Fiores wirkt Kuchars Zugang etwas stringenter und vorwärtsdrängender. Aber auch nicht so subtil und empathisch. Das Orchester klingt deutlich kühler als das Münchner RO, ist aber von sehr guter Qualität und spielt sorgfältig, spannend und mit Biss. Insgesamt vermisst man nur ein etwas persönlicheres Profil und den letzten Feinschliff im Orchester und in der Handschrift des Dirigenten. Die Musik Dvoraks ist hier aber insgesamt sehr gut aufgehoben.

Der Klang ist weiträumig, offen, klar und dynamisch, leider ein klein wenig hallig.

 

 

 

4

Vaclav Neumann

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon

1979

14:16

 

Von Vaclav Neumann gibt es mindestens drei Einspielungen der Ouvertüre. Von 1971, 1979 und 1986. Von den dreien lag uns nur die mittlere zu Vergleich vor. Zu Beginn der Einspielung wird die Feindynamik glatt gebügelt. Jedoch entfaltet sich der weitere Verlauf gegenüber der zuvor gehörten Einspielung Masurs etwas spannender und mit etwas mehr Brio. Auch gegenüber der Einspielung von Bohumil Gregor wirkt das Spiel emphatischer und auch gegenüber Krombholc kommt etwas mehr beherzter Drive in Spiel. An die Vehemenz und Dramatik Ancerls kommt die Tschechische Philharmonie unter dem Dirigat Neumanns dieses Mal nicht heran. Auch die wechselhafte Dynamik könnte in den dramatischen Passagen erheblich drastischer betont werden. Bei T. 540 sind die 1. und 2. Violinen nicht ganz synchron.

Der Orchesterklang der Tschechischen Philharmonie ist offener und freier als bei Bohumil Gregor, klingt bei Ancerl aber erheblich dynamischer und transparenter.

 

4

Libor Pesek

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon,Virgin

1987

14:58

 

Diese Einspielung Peseks gibt es sowohl bei Supraphon als auch bei Virgin, wobei die Daten zunächst anderes suggerieren. Aufnahmedatum der Virgin-Aufnahme ist 1987, in der Liste von Dvorak.cz steht sie mit einem AD 1989 vermerkt, bei der MP3-Datei von Supraphon steht ein P von 1993. Aber der Vergleich schon der Einleitung schafft Klarheit, denn da werden bei der schon beschriebenen Passage nach Ziffer 2 mit dem Thema in Flöten und Klarinetten und seiner Wiederholung genau dieselbe Dynamisierung realisiert, statt klar zwischen ff und pp zu unterscheiden. Und spätestens am Schluss weisen die beiden „Versionen“ exakt die gleiche Spielzeit auf. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Virgin CD erheblich voller, runder und körperhafter klingt als die MP3- Datei von Supraphon. Vor allem auch schön abgerundet und durchaus plastischer.

Für beide gilt natürlich, dass auch im weiteren Verlauf recht nonchalant mit den Vortragsbezeichnungen umgegangen wir. Was verwundert, denn ansonsten spielt das Orchester ziemlich genau, um nicht zu sagen penibel. Das Allegro con brio wird tatsächlich mit Brio umgesetzt. Das Orchester spielt noch etwas präziser als unter Neumann. Die Stretta gelingt sehr gut. Insgesamt eine gute Einspielung, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Das Orchester wirkt darin gut gestaffelt und insgesamt gegenüber Neumann nochmals etwas klangvoller wiedergegeben, was insbesondere für die Vigin-Version gilt, wahrscheinlich aber auch für eine unkomprimierte Supraphon-Version.

 

4

Jaroslav Krombholc

Tschechisches Radiosinfonieorchester Prag

Supraphon

1973

14:45

 

Der Vortrag unter Krombholcs Leitung ist ebenfalls zunächst dynamisch wenig kontrastreich, die sf kommen teilweise sehr schwach. Insgesamt wirkt er eher introvertiert, wie in einem etwas unverbindlichen Erzählton gehalten. Später wird das Spiel dann aufgeweckter und ist nah dran am dramatischen Geschehen. Das beredte Spiel des guten Orchesters, das natürlich  „seinen“ Dvorak ebenfalls bestens kennt, gefällt durchaus, bleibt aber klanglich etwas blass. Die Imaginationskraft eines Ancerl wird ebenfalls nie erreicht. Insgesamt bleibt Krombholcs Zugang doch eher auf der entspannten, lyrisch betonten Seite. Vor allem das Blech klingt, um einen dramatischeren Gestus zu erreichen, nicht offensiv genug. Trotz fast gleicher Spielzeit klingt es hier weniger packend als beim zuvor gehörten Kertesz.

Der Klang der Aufnahme ist weicher als der bei Ancerls Aufnahme aber nicht so kritallin wie bei Bohumil Gregor. Ein leichtes Rauschen ist zu vernehmen und immer wieder stören tieffrequente Geräusche, als ob eine U-Bahn oder Straßenbahn unter bzw. neben dem Aufnahmeraum entlang fahren würde.

 

4

Bohumil Gregor

Tschechische Philharmonie, Prag

Supraphon

1987

15:42

 

Im Gegensatz zu den zuvor gelisteten drei tschechischen Einspielungen ist die Bohumil Gregors viel mehr an der Differenzierung der unteren Lautstärkegrade gelegen. Das Gebet Desdemonas in der Einleitung klingt so auch voller melancholischer, flehentlicher, trauriger und zarter Cantabilität. Das Allegro con fuoco des Hauptsatzes gelingt aber gerade gegenüber den beiden zuvor gehörten Einspielungen Abbados und Ancerls viel weniger beherzt. Den verträumten, sanften Tönen der Erinnerung wird in der individuellen Balance Gregors viel mehr Raum und Gewicht gegeben als dem dramatischen Schwung. Obwohl diese Einspielung exakt die gleiche Spieldauer aufweist wie die Ancerls, liegen doch Welten dazwischen. Gregor nimmt dem Stück fast allen Druck und erzählt im lyrischen Gestus eine Geschichte, statt sie wie hautnah dabei mitzuerleben, wie es bei Ancerl beispielhaft gelingt.

Gegenüber der Aufnahme mit Ancerl erscheint das Orchester erheblich nach hinten gerückt zu sein. Die Violinen klingen etwas härter, wie es so oft bei frühen Digitalaufnahmen zu hören ist. Auch die Farbigkeit, die Brillanz und die Dynamik kommen nicht mehr an die Sternstunde von 1961 heran. Und vielleicht das erheblichste Manko: Die Unmittelbarkeit fehlt.

 

4

Mariss Jansons

Oslo Philharmonic Orchestra

EMI

1990

13:38

 

An sich und vor allem wegen der zügigen Tempogestaltung wirkt die Einspielung Jansons´ deutlich lebendiger als die Gregors. Aber bis auf das packende Ende gelingt es hier nicht, die Spannung dauerhaft aufrecht zu halten. Der Zugriff Jansons´ erschien uns dazu nicht entschieden genug. Wenn man das Ergebnis mit anderen Einspielungen des Dirigenten vergleicht, so wirkt diese hier ziemlich nüchtern. Gerade wenn man das nur flott wirkende Tempo nimmt, hätten mehr Funken aus der Partitur geschlagen werden können. Sie wirkt eher wie eine sorgfältig und auf hohem Niveau aber etwas routiniert ausgeführte Pflichtaufgabe, wie man es nur ganz selten einmal von Jansons hört.

Der Klang ist klar, das Orchester gut gestaffelt, die Dynamik ist gut aber insgesamt wirkt die Einspielung nicht gerade brillant.

 

4

Neville Marriner

Academy of Saint-Martin-in-the-Fields

Capriccio

1990

15:19

 

Unter der bewährten Leitung Marriners zeigt die groß besetzte Academy hier ein niveauvolles und klangvolles, durchaus auch eloquentes Spiel, dem es aber an Tempo und dieses Mal auch an Zuspitzung mangelt. Insgesamt wirkt dieser Beitrag zur Diskographie des Werkes, ähnlich wie die zuvor gelistete Aufnahme aus Oslo zu sachlich, gerade wenn sich die Dramatik des Stückes vor Augen führt und bedenkt, dass es hier um Leben und Tod geht. Die lyrischen Passagen gelingen dagegen besser.

Das Orchester klingt bei Capriccio meist fülliger und mit blasseren und kühleren Farben als zuvor bei Philips und EMI. Transparenz und Dynamik sind in Ordnung.

 

4

Kurt Masur

New York Philharmonic Orchestra

Teldec

1994, LIVE

13:46

 

Gegenüber Marriner liegen die Schwerpunkte des Orchesterspiels in dieser von Kurt Masur betreuten Einspielung wieder etwas anders. Die Dynamik wird hier, wie bei manch einer tschechischen Einspielung etwas zu pauschal gehandhabt, auch die fz sind nur gemäßigt zu vernehmen. Insgesamt wirkt der Orchesterklang trotz des eigentlich schnellen Tempos etwas schwer, weniger spritzig und facettenreich als zum Beispiel das LSO bei Kertesz oder Rowicki, bei Abbado oder Ancerl. Die dynamischen Entladungen werden zwar durchaus mit hoher Intensität gesetzt, klingen aber meist zu wuchtig, wirken eher klobig als aus einem feurig temperamentvollen Geist heraus ausgeführt. Zum Zustand Othellos, der ja zunehmend die Kontrolle verliert und immer mehr „rot“ sieht, würde das letztgenannte besser passen. Die mehr lyrischen Passagen wirken, vielleicht auch wegen des gerafften Tempos hier eine wenig zu neutral und trotz des Tempos sogar beinahe statisch. Die Dramatik wirkt auch nur wenig zugespitzt.

Der Klang ist hier recht weich, gerundet und ziemlich voluminös, bleibt aber gut durchhörbar. Die Dynamik wirkt eher zurückhaltend.

 

4

Jac van Steen

Dortmunder Philharmoniker

MDG

2009

13:56

 

Mit den Dortmunder Philharmonikern präsentiert MDG ein gutes Orchester, dem es aber im Vergleich zu den besten noch etwas an Spritzigkeit, Geschmeidigkeit und auch an der makellosen Sonorität, gerade auch im Bass fehlt. Obwohl im Allgemeinen gut dynamisch differenziert wird, könnte die Rhythmik etwas schärfer durchgezeichnet werden. Auch die dem Sujet geschuldete Hochspannung bleibt diese Einspielung weitgehend schuldig. Es bleibt aber eine solide, klangschöne Einspielung zu vermelden, die aber trotz des ambitionierten Tempos, nicht unter die Haut geht.

Der Klang zeigt eine gute Staffelung, gute Transparenz, Feinzeichnung und auch eine gute Gran Cassa.

 

4

Vladimir Ashkenazy

Cleveland Orchestra

Decca

1991

14:27

 

Von Ashkenazy gibt es zumindest noch eine weitere Einspielung aus dem Jahr 1999 mit der Tschechischen Philharmonie, deren Chefdirigent er damals war. Sie lag uns leider nicht vor. Die Einleitung in der amerikanischen Einspielung mit dem Gebet Desdemonas wirkt jedenfalls nicht sonderlich atmosphärisch. Es fehlt der zarte, sanfte und bittende, flehentliche Unterton. Das Orchester macht zwar einen sehr guten und ausgewogenen Eindruck, dennoch haben wir es bei Szell, Maazel oder Dohnanyi schon erheblich akzentuierter, motivierter und auch präziser gehört. Beispielsweise klingt die absteigende Skala der Streicher T.365 – 373 viel zu beiläufig. Dies ist übrigens eine gute Stelle um zu sehen, ob es die jeweilige Einspielung mit dem Drama des Stückes ernst meint. Im Ganzen wird bei Ashkenazy ziemlich gerade durchgespielt, kaum einmal Anteil genommen oder liebevoll phrasiert. Als ob man gerade noch eine CD zu füllen hatte. Das Werk wirkt so wenig sensibel angepackt und wirkte auf uns eigentlich nie packend.

Das Klangbild erscheint recht differenziert und farbig aber viel weniger direkt, lebendig und dynamisch wie die Kertesz-Einspielung desselben Labels aus den sechziger Jahren.

 

 

 

3-4

Stephen Gunzenhauser

BBC Philharmonic Orchestra, Manchester

Naxos

1992

14:37

 

Von diesem Orchester haben wir schon Glanzleistungen gehört (z.B. im Saint-Saens Klavierkonzert Nr. 2 mit Louis Lortie und Edward Gardner, siehe den Vergleich dort). Hier ist dies leider nicht der Fall. Streicher und Bläser scheinen ein wenig nebeneinander her zu spielen. Beide Gruppen scheinen auch fast in verschiedenen Räumen zu spielen. Die Streicher spielen mit viel Hall versehen, die Bläser in einem anscheinend wie trockenerem Raum. Was schwerer wiegt ist jedoch, dass man das Spiel nicht gerade beherzt nennen kann, zu behäbig hören es sich über weite Strecken an. Sogar die Stretta entbehrt der hier unabdingbaren entschlossenen Dramatik. Zuspitzung und Schärfung bleiben hier unberücksichtigt.

Der Gesamtklang wirkt etwas hallig, bleibt aber noch recht transparent.

 

3-4

Alun Francis

Berliner Symphoniker

Inspired Studios, Denon

1996

15:46

 

Die jüngeren Leser werden es kaum noch wissen: Die Gründung des heute nur noch wenig vom Tonträger-Markt berücksichtigten Orchesters geht auf den Mauerbau zurück. Musiker, die im Westen der Stadt wohnten, aber in Ostberliner Orchestern arbeiteten, konnten durch den Mauerbau nicht mehr an ihren Arbeitsplatz gelangen. Sie schlossen sich, mit Unterstützung des Senats, schließlich zu den Berliner Symphonikern zusammen und spielten fortan im Westen der Stadt und sind nicht zu verwechseln mit dem Berliner Sinfonieorchester Kurt Sanderlings (heute: Konzerthausorchester), das im Osten der Stadt gegründet wurde.

Die Einleitung klingt hier für ein Gebet etwas zu laut und ziemlich unruhig, ja nervös. Das wäre noch plausibel, wenn es beabsichtigt worden wäre, denn Desdemonas Lage gäbe durchaus zur Nervosität Anlass. Man spürt jedoch wenig Bemühen die unteren Lautstärkegrade zu nuancieren. Die ff klingen nicht immer mit der wünschenswerten Klarheit. Das Orchester klingt respektabel (auch hier gefallen die Hörner besonders gut). Die Darbietung ist aber weder sonderlich spannend, noch hat sie an den dramatischen Stellen genügend Biss. Passagenweise wirkt das Geschehen gar etwas beliebig, besonders die Durchführung ab Zi. 15. Am Ende gibt es keine fühlbare Stretta.

Am Klang gibt es nicht viel auszusetzen, er ist durchaus transparent und offen.

 

3-4

Wolfgang Sawallisch

Philadelphia Orchestra

Water Lily

1999

14:35

 

Die Einspielung Sawallischs, die er seiner verstorbenen Ehefrau gewidmet hatte, stand unter keinem guten Stern. Das Seerosenlabel konnte offensichtlich nicht für die gewohnte Qualität bei den Aufnahmebedingungen sorgen. Was ist aus dem ehedem brillanten Klang des Orchesters geworden? Er dämpft jede Brillanz des Klangs aber auch den dramatischen Zugriff, wie dick in Watte gepackt, ab. Es klingt fast so, als hätte man sich selbst Watte in die Ohren gesteckt. So bleibt auch der Gestus sehr verhalten, gar beschaulich. Lediglich der Selbstmord am Ende lockt das Orchester etwas aus der Reserve. In seinen Einspielungen wirkt der Dirigent zwar meist in seiner Aussage etwas unpersönlich, da er hinter dem Werk zurückstehen möchte. Er ist aber stets ein Garant dafür, dass zumindest das Wesentliche im Ausdruck eines Werkes erhalten bleibt. Daher dürfen wir getrost die Hauptverursacher des mangelnden Erfolges dieser Aufnahme bei der Klangregie suchen.

Transparenz wird eigentlich gewährleistet, nur  wirkt der Gesamtklang so unbrillant, dass man ihn schon als muffig oder topfig bezeichnen muss. Auch fehlt es den Gruppen im Orchester an klanglicher Fluktuation untereinander. Nur die Gran Cassa und die Piatti leuchten etwas aus dem Gesamtklang hervor. Ihm ist jede Luftigkeit und Frische abhanden gekommen. Er wirkt so in besonderem Maße leblos. Nicht verwundern darf es in diesem Zusammenhang, dass unseres Wissens die Produktion dieser CD die einzige Zusammenarbeit Sawallischs mit dem kurzlebigen Label geblieben ist.

 

 

21.8.21