Sergej Prokofjew

Lieutenant Kijé, Suite op. 60

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Werkhintergrund:

 

Die Feststellung, dass sich die Bewohner des Planeten Erde nicht durch ein Übermaß an Aufrichtigkeit und edlen Absichten auszeichnen, dürfte den meisten davon ebenso geläufig sein wie die Tatsache, dass die sorgsam institutionalisierte Trennung von „lässlichen“ und „unerlässlichen“ Lügen stets einem einzigen Zweck dient: Macht und Besitz der Herrschenden zu mehren und die Schäflein, die Ihnen anvertraut sind, nach bestem Wissen und Gewissen zu scheren. Als demokratisch bezeichnet man dann solche gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen man Lügen noch Lügen nennen darf. Diktatorische Systeme hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass Widerspruch völlig unnötig geworden ist, weil die Menschen aufgrund einer glücklichen Fügung unter den Schutz und Schirm eines Führers geraten sind, der sich um das allgemeine Wohl und Wehe und all ihre Belange mit geradezu göttergleicher Güte kümmert. Lästerliche, neidische Zungen werden allerdings frevelhafter Weise behaupten, dass Stecken und Stab solch unerreichter Hirten nicht trösten, sondern strafen... (aus dem CD-Beiheftchen zur Aufnahme Michail Jurowskis von Eckhardt von der Hoogen) Das passt sowohl zur Situation des Komponisten, der sich mehr oder weniger freiwillig zurück in den Mahlstrom der Diktatur begeben hat als auch zum Werk selbst, mit dem wir uns dieses Mal etwas intensiver beschäftigen wollen und dessen Aufnahmen es dann zu vergleichen gilt.

 

Sergei Prokofjew (1891 – 1953) und Dmitri Schostakowitsch sind die beiden Komponisten, die den Rest derjenigen, die in jenen Jahren in der Sowjetunion arbeiteten, überragen, soweit sie bei uns überhaupt bekannt wurden. Im Gegensatz zu Schostakowitsch genoss Prokofjew jedoch einen Teil seiner Karriere und komponierte im Westen und kehrte 1936 freiwillig in die UdSSR zurück. Dieser Schritt muss auch aus heutiger Sicht verblüffen, vor allem wenn man die Lebenssituation Schostakowitschs etwas genauer kennengelernt hat (siehe auch unser Vergleich zur 5. und zur 9. Sinfonie Schostakowitschs). Vielleicht hatte Prokofjew für sich eine Sonderbehandlung ausgehandelt, oder er glaubte es zumindest zu diesem Zeitpunkt?

 

Wie sein Landsmann muss Prokofjew jedoch unabhängig des Fähnchens, das er, zumindest sieht es von außen so aus, nach dem Wind richtete, zu den großen Komponisten des 20. Jahrhunderts gezählt werden, obwohl sein direkter Einfluss auf Komponisten außerhalb der sowjetischen Sphäre im Gegensatz zu Schostakowitsch deutlich geringer war.

Er war ein virtuoser Pianist, komponierte von Anfang an und schloss kurz vor dem Ersten Weltkrieg sein Studium am Konservatorium in St. Petersburg ab. Schwebende lyrische Melodien, ein „leichter Hang“ zu motorischen Rhythmen und zu kaleidoskopartigen harmonischen Veränderungen waren wohl seine „Markenzeichen“, bisweilen schreckte er auch vor „Bruitismus“ nicht zurück. Ein wesentlicher Bestandteil seiner musikalischen Persönlichkeit und darin Schostakowitsch gar nicht einmal unähnlich, war die bissige Wertschätzung von Parodie, Satire und sogar Groteske.

 

Obwohl er schon früh in den Westen gereist war, kehrte Prokofjew von Zeit zu Zeit von Paris aus zu ausgedehnten Konzertreisen in die Sowjetunion zurück. Seine Werke wurden dort häufig aufgeführt. Er behielt auch immer seinen sowjetischen Pass. Er war aber nie politisch naiv in Bezug auf das Leben von Künstlern in diesem politischen System und es darf mehr als nur angenommen werden, dass seine Rückkehr nach Russland, bzw. in die UdSSR mit offenen Augen erfolgte. Seine musikalische Sprache wollte er mittlerweile zu einem einfacheren, zugänglicheren Stil entwickeln – eine notwendige Bedingung für Künstler, die einem kollektivistischen Staat „dienen“ und die Massen ansprechen „wollten“. Als er und seine Familie 1936 in Russland ankamen, passte er sich den politischen Anforderungen schnell an, indem er Werke komponierte, die sich mit den notwendigen Inhalten des sozialistischen Realismus auseinandersetzten. Damit waren in erster Linie patriotische Themen im traditionellen Musikstil gemeint, die politischen Zwecken dienten.

Seine politischen Karten nie wirklich ausspielend, gelang es ihm, die unglaublich schwierigen Zeiten der 1940er Jahre durch geschicktes künstlerisches Taktieren mit dem harten, repressiven stalinistischen Staat zu überstehen. Er trat nie der Kommunistischen Partei bei und gab nur wenige öffentliche Erklärungen ab. Er kämpfte ums Überleben, um seine künstlerische Integrität zu bewahren und weiterhin in einem authentischen, persönlichen Stil zu komponieren. Aber leider haben ihn die Schwierigkeiten der extremen, repressiven Maßnahmen ab 1948 letztendlich überwunden. Sein Tod am 5. März 1953 fand ironischerweise wenig Anerkennung – Joseph Stalins Tod am selben Tag eilte dieser voraus.

 

Nachdem Prokofjew Anfang der 1920er Jahre etwa vier Jahre in den USA und eine kurze Zeit in Deutschland verbracht hatte, machte er wie bereits erwähnt, Paris die meiste Zeit des Jahrzehnts zu seiner Wahl-Heimat.

Zu jener Zeit sollte in Moskau ein Film gedreht werden und man suchte einen ambitionierten Komponisten für die Filmmusik. Doch vielen, selbst der Unternehmensführung von Belgoskino, der Produktionsfirma, schien Prokofjew keine naheliegende Wahl für „Kijé “ zu sein. Ungeachtet seiner Klassischen Sinfonie (die den Autor als ideal erscheinen lassen würde, denn der Film spielt im 18. Jahrhundert), hatte er noch nicht solche internationalen „Hits“ wie „Romeo und Julia“ oder „Peter und der Wolf“ komponiert. Es gab auch Bedenken, dass Prokofjew als Emigrant in Paris Schwierigkeiten haben könnte, sich mit dem Leningrader Studio zu koordinieren, um die Produktionstermine einzuhalten. Damals in einer Zeit ohne Internet, noch nicht einmal ein Faxgerät war erfunden. Darüber hinaus hatte er einen Großteil der 1920er Jahre mit modernistischen Werken wie der Zweiten Symphonie und dem Quintett einen dissonanten Stil gepflegt und Prokofjew galt in manchen Kreisen als politisch verdächtig. Als sein "sowjetisches" Ballett „Le pas d'acier“ 1929 vom Moskauer Bolschoi-Theater aufgeführt wurde, wurde es von der Russischen Vereinigung proletarischer Musiker als "eine konterrevolutionäre, an Faschismus grenzende Komposition" verurteilt, genau wie wir das bereits bei Schostakowitsch erfahren mussten.

Prokofjew lehnte auch selbst zunächst die Anfrage nach seiner Mitwirkung am Film, als sie denn doch kam, spontan ab. Er dachte aber immer mehr darüber nach, wie die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Leben in der Sowjetunion seine Karriere dort voranbringen könnte – der Sowjetunion galt immer noch seine Priorität (nicht zuletzt wegen seines Heimwehs). Und in Übereinstimmung mit einer scharfen Einschätzung, wie sich die Vorteile eines einfacheren Musikstils mit den kommunistischen Zielen verbinden würden, die Kunst im Dienste des Proletariats zu positionieren, ergriff er die Gelegenheit, die Filmmusik für „Leutnant Kijé“ doch zu komponieren . Vor allem die Ankündigung, dass der Film international vermarktet werden solle, beflügelte seine Entscheidung. Und wir nehmen es einmal an, die mit der Komposition verbundene gute Bezahlung auch.

 

Übrigens, wenn man lange genug im Internet nach „Lieutenant Kije“ sucht, bekommt man die Information (die auch im Beiheft der CD zur Einspielung von Enrique Batiz Erwähnung findet und später erneut im Beiheftchen der Jurowski-Einspielung), dass es der Film nie bis zur Fertigstellung gebracht hat. Man muss sich also fragen (gerade wenn sowjetische Geschichtsschreibung involviert ist, die in diesem Fall anderes behauptet), was überhaupt an der ganzen Sache wahr ist. Halten wir uns notgedrungen trotzdem an das, was wir haben.

 

Ironischerweise ist es nicht zuletzt auch diese „stalinistische Einfachheit“, die seine Musik seither bei den Söhnen und Töchtern der Demokratie beliebt macht.

Ungeachtet des klaren und unmittelbar ansprechenden Charakters der Partitur ist der vielleicht wichtigste Aspekt, den es zu beachten gilt, dass sie der Soundtrack für eine Film gewordene totale Farce ist und eine teilweise bösartig zugespitzte Satire über die „edle“ Leichtgläubigkeit, das Duckmäusertum und die Willkür der herrschenden Klasse (im Film war es der Zar, aber gemeint waren doch wohl eher die zur Komposition zeitgenössischen Herrscher, d.h. die Sowjets bzw. sogar Stalin selbst). Das wäre dann schon sehr mutig (todesmutig) gewesen und wäre auch Grund dafür, dass der Film besser nicht fertig gestellt wurde. Vielleicht hätte sich Stalin ja doch in dem Streifen wiedererkannt?

 

Der Leutnant namens Kijé ist eine komplette Erfindung (heute würde man wohl sagen eine „Fake News“) und nur diese noch nicht einmal existierende Person bringt die Geschichte ins rollen.  Basierend auf einer Geschichte von Yury Tunyanov trägt sich folgendes zu: Der Zar (Pawel I., Sohn von Katharina der Großen, 1796-1801 herrschend, kompensierte seine geistige Beschränktheit durch Tyrannei und das Militär war sein Lieblingsspielzeug, wurde eines Nachts von einem Schrei eines seiner Höflinge der von einer Koketten in den Hintern gekniffen wurde, geweckt, der von einem Stelldichein (oder einer eher wenig sittenkonformen Party, wie man heute eher sagen würde) im Palast ausging. Der Zar war nicht amüsiert darüber, denn er war ja selbst nicht dabei. In der Zwischenzeit oder bereits zuvor unterlief einem unvorsichtigen Schreiber ein Fehler, sodass die Endsilbe des Wortes „praporschtschi ki“ (Fähnriche) und das Füllwort „she“ (doch, aber) einzeln und zusammenhanglos im Text stehen. Der Imperator „korrigiert“ und fügt beide Silben zu dem Namen Kishe zusammen und beordert das so entstandene Wesen Fähnrich Kishe zum Wachdienst. Keiner wagt den so entstandenen Irrtum aufzudecken. Der Stab des Zaren war damit beschäftigt, die Wut desselben über die Ruhestörung zu besänftigen, indem er die nächtliche Empörung auf den fiktiven „Lieutenant Kijé“, wie die sich später einbürgernde Schreibweise des Werkes lautet, zurückführte. Anschließend wird der gerade erst fabrizierte Kijé ausgepeitscht, nach Sibirien verbannt, schließlich begnadigt, da der wirkliche „Täter“ inzwischen den Schrei gestanden hatte, zum Oberst, dann zum General befördert und mit den Gaben des Zaren reich gemacht. Niemand getraute sich nun erst recht noch die Wahrheit preiszugeben. Schließlich verlangt der Zar, das Phantom persönlich kennenzulernen. Zurückgedrängt in Angst, dass der Schwindel auffliegen könnte, verkünden seine Höflinge, dass „Kijé“ leider (und bequemer Weise) gestorben sei, da er die Aussicht dem Herrscher aller Reußen Aug in Aug gegenübertreten zu dürfen nicht überlebt hätte. Der Zar will sein Geld zurück, aber es ist zu spät. Die Höflinge haben es für sich selbst ausgegeben und denunzieren „Kijé“ als Verschwender. Der wütende Zar degradiert daraufhin „Kijé“ posthum in den Rang eines Gefreiten.

 

So wie auf Befehl Pawels I. (Pauls I.) Unpersonen lebendig werden konnten, wurden auf Stalins Anordnung lebendige Menschen zu Unpersonen und dann auch mitunter begraben. Wie gut, dass es diesem Fall nur ein leerer Sarg war, der beigesetzt wurde.

 

In diesem Sinne komponierte Prokofjew eine Partitur mit all der impliziten Ironie der Geschichte. Aus den 16 Nummern seiner Filmmusik stellte Prokofjew 1934 eine fünfteilige Suite zusammen. Alle fünf Sätze sind jedenfalls Realität und sie gibt es wirklich. Mit einprägsamen, leicht zu merkenden oder auch nachzusingenden Melodien in einem großteils sanften, teils auch derb-deftigen, aber noch (oder vielmehr wieder) tonalen Stil geschrieben. 

 

Der erste Satz, Kijés „Geburt“ bezeichnend, beginnt mit einer traurigen Fanfare, gespielt auf dem kleinsten und höchsten Blechblasinstrument, dem Kornett (Cornetto a piston) aus weiter Ferne, gefolgt von einem hellen kleinen Marsch mit leichter Textur (Piccolo-Flöte, begleitet von einer Seiten-Trommel, irgendwie archaisch wirkend, in lydischer Tonart. Ein Beinahe-Höhepunkt endet mit einem schimmernden Streichertremolo und sanften  Einlassungen der Blechbläser, als ob sie das nächste Thema anstoßen wollten: ein skurriles Leitmotiv, das mit dem nicht existierenden Kijé verbunden ist und vom Tenorsaxophon gespielt wird, begleitet von Flöten. Es bleibt uns die ganze Suite über treu. Abgerundet wird der Satz durch die Wiederaufnahme des Piccolomarsches und dann der fernen Fanfare des Kornetts. Ganz leise, still und heimlich kommt Kijé zur Welt. Etwas puppenhaft und schräg. Oder aber: Der Militärstaat erwacht, die Palastregimenter exerzieren. Prokofjew setzt alte und neue staatsoffizielle Kunst, Militärmusik, Hymnen und Trauermärsche in Szene und begibt sich in die Grenzbereiche zum Kitsch und zur Subkultur.

 

Dann folgt die Romanze“, denn „Kijé“ hat sich nun verliebt. Der Komponist vertont den Text eines altbekannten Volksliedes neu, doch im alten Stil, basierend auf  dem Volkslied, „Die kleine graue Taube gurrt“. Eine andere Übersetzung lautet: „Es stöhnt (bzw. seufzt) das graublaue Täubchen“. Des Russischen nicht mächtig, müssen wir uns da auf andere verlassen. Bekannt geworden ist es besonders und gerade nicht bei den typischen Klassik-Hörern durch den Song  „Russians“ von Sting. Das Schluchzen, Seufzen und Tremolieren des sentimentalen Romanzentypus wird meisterhaft imitiert. Eine neue Melodie, ebenfalls mit Volksliedcharakter und ursprünglich zum Singen komponiert, im Tenorsaxophon, sorgt für einen kleinen Kontrast in der Mitte, gefolgt von einer Reprise des Volksliedes. Auch da ist natürlich nichts wirklich echt und vieles wirkt parodistisch.

 

Im dritten Satz heiratet unser fiktiver Soldat. Die „Hochzeit“ wird mit einer übertrieben pompösen Fanfare angekündigt, was dann allerdings zu einem fröhlichen Kornettsolo und einigen Variationen der traurigen Melodie des ersten Satzes führt. Man vergnügt sich. Im Film begleitet dies eine Farce-Zeremonie, bei der die „Anwesenheit“ des abwesenden Bräutigams dadurch angedeutet wird, dass der Priester eine Krone über dem vermeintlichen Haupt des Protagonisten hält, der natürlich de Facto gar nicht da ist. Jede Episode beginnt mit einem pompösen Blechbläser- und Holzbläserchor, der von einem frei schwingenden Kornett-Solo beantwortet wird. Auch Kijés Thema erklingt, eher verlassen und in einer Tonart, die ziemlich weit vom Rest entfernt ist.

 

„Troika“ ist eine reizvolle Erinnerung an eine glitzernde Winterfahrt im traditionellen russischen Schlitten (natürlich dreispännig, wenn schon, denn schon). Schlittenglocken und eine leichte Stakkato-Orchestrierung bringen uns hier im Trab zügig voran. Kije wird nun standesgemäß zu solchen Männerpartien eingeladen. Zuvor hebt der Gestus jedoch pathetisch innerhalb einer emphatischen Kadenz an, bevor dann je nach Interpretation das banale Pferdegetrappel, Schellengeläut und Balalaikaspiel zur Parodie des damals verbreiteten Folklorestandards wird. In der Version mit Gesang wird die Vergnügungsfahrt noch deutlicher: Hier singt der Bariton dazu ein derbes Husarenlied, das statt der Kampfes- eher die Fleischeslust steigert.

 

Im letzten Satz schließlich. „Das Begräbnis von Kijé“ wird der Geist unseres Leutnants begraben, indem wir in einer Art kaleidoskopischem Rückblick auf das Leben eines Mannes nehmen, der nie existiert hat. Die Kornettfanfare kehrt zurück, gefolgt von einer düsteren Interpretation von Kijés Leitmotiv. Themen aus der „Romanze“ und Kijés „Hochzeit“ werden in Erinnerung gerufen und nebeneinander bzw. übereinander gestellt, um ein beeindruckendes akustisches Äquivalent zu einem doppelt belichteten Film zu schaffen (wo zwei kontrastierende Szenen zu einem traumhaften Effekt überlagert werden). Das ist vielleicht die „beste Stelle“ der ganzen Suite und sie wirkt, gerade in den besten Einspielungen, surreal. Die Musik verstummt schließlich vor der abschließenden Fanfare, die auch bereits den ersten Satz eingeleitet hat. Genauso schemenhaft und nebulös wie Kijé das Licht der Welt erblickt hat, verschwindet er auch wieder. Man nimmt dadurch aber auch zur Kenntnis: Es könnte jederzeit genauso nochmals von vorne beginnen.

 

Die Suite erhält mit dieser Abfolge eine gewisse musikalische Symmetrie. Geburt und Tod sind die beiden Außenposten, das Material ganz vorne und ganz am Ende ist sogar exakt gleich. Da das Ende genau wie der Anfang ist, könnte es also jederzeit von Neuem beginnen. Die Heirat steht im Zentrum, fast wie im richtigen Leben und Liebeslieder der zärtlich-melancholischen und derb-zotigen Art stehen an zweiter und vierter Position. Prokofjew knüpft stilistisch da an, wo er mit der „Symphonie classique“ vor seiner Emigration aus Russland angekommen war, erreicht mit eingängiger Fasslichkeit jene neue Einfachheit, die vom Regime gefordert wurde und mit der es gelang, Millionen von Sowjetbürger zu erreichen, die vorher nur schwach mit Musik in Berührung standen, genau wie er dies in seinem Aufsatz „Wege zur sowjetischen Musik“ von 1934 propagierte. Mission erfüllt kann man da nur sagen.

 

Ungewöhnlich für Filmmusiken dieser Zeit komponierte Prokofjew keinen durchgehenden symphonischen Wandteppich, sondern mehrere kurze Hinweise: einige sind Leitmotive, wie vom Regisseur Alexander Fayntsimmer (unter der strengen Aufsicht von Tunyanov, dem Produzenten höchstselbst) gewünscht; andere sind mehr (oder manchmal auch weniger) direkt am Geschehen beteiligt, wie die Militärparaden oder die Hochzeitsmusik von Kijé. Das Ergebnis ist seiner Zeit auffallend voraus: Ein Großteil des Films ist unbegleitet, mit Musik, die nur verwendet wird, um die Dramatik einer Szene zu verstärken oder als ironischer Kommentar – eine Art der Vertonung, die eher an Bernard Herrmann (dessen erste Filmmusik für „Citizen Kane“, wurde 1941 verfasst) als an Max Steiner oder gar Schostakowitsch erinnert.

Prokofjew gab zu, dass er mehr Zeit damit verbrachte, die Suite zu erstellen als die Filmmusik, da er aus den ursprünglichen, prägnanten Stichworten konzerttaugliche Stücke machen musste, die ohne erklärende bewegte Bilder wirken mussten.

 

Teile der Musik wurden bzw. werden, wie bereits kurz erwähnt, von Sting (Russians), Type O Negative (Red Water), Woody Allen (Die letzte Nacht des Boris Gruschenko), Emerson, Lake and Palmer (I Believe In Father Christmas), in der Serie „Magnum“, Blood, Sweat & Tears (40,000 Headmen); Yes (Something’s Coming) und anderen verwendet. Ein sicheres Indiz dafür, wie populär die Suite im Laufe der Zeit geworden ist. Also doch ein internationales Projekt...

 

Die Einspielungen der Suite sind mit den Jahren recht zahlreich geworden, wobei sie zahlenmäßig jedoch noch weit hinter Prokofjews „Hits“, der „Symphonie classique“ und „Peter und der Wolf“ zurück bleiben.

 

Es existieren übrigens zwei Fassungen, die sich nur in einem Besetzungsdetail unterscheiden. Die meist gespielte und auch meist aufgenommene Fassung sieht ein Saxophon vor, die andere, originale, lässt in den Sätzen zwei und vier eine Baritonstimme singen, die die Soli von Cello und Saxophon ersetzt. Das Tenorsaxophon mit seinem unverwechselbaren Timbre aus eigentümlicher Eleganz und dezenter Karikatur wirkt dabei erheblich hintergründiger, auch das Cello, wenn es sensibel gespielt wird. Die Version mit Bariton, zumindest, wenn man des Russischen mächtig ist bzw. eine Übersetzung zur Hand hat, wird konkreter und verbindlicher. Die instrumentale Version lässt jedoch erheblich mehr vom finessenreichen Orchesterpart hören, da der Bariton zumeist erheblich lauter und vordergründiger klingt als die Orchestersolisten. Meist wird er von der Technik auch noch zusätzlich an die virtuelle Rampe ganz nach vorne geholt, was ihn dann noch mehr der kompositorischen Faktur verdecken lässt. In der Einspielung Jurowskis kann man beide Versionen direkt miteinander vergleichen.

 

Wenn Musik und Text zusammenkommen, ist der Text stets für das Verständnis förderlich, weshalb wir ihn hier nicht unerwähnt lassen wollen. Er entstammt den Beiheftchen der Einspielungen mit Seiji Ozawa, zuerst und Michail Jurowski, danach, wenn wir schon einmal beim vergleichen sind...

 

 

Romanze (2.Satz)

 

 

Es stöhnt das graublaue Täubchen,              

es stöhnt Tag und Nacht.

Seine liebe kleine Freundin

Ist weit fortgeflogen.

 

Schon gurrt es nicht mehr,

wirkt trauriger und trauriger.

Es flattert hinüber,

von einem zarten Zweig auf einen anderen.

 

Und es blickt wartend nach allen Seiten,

ob seine liebe kleine Freundin zu ihm kommt.

 

Genug, mein Herz, beruhige dich,

genug geflattert wie ein Schmetterling!

Genug geflattert wie ein Schmetterling.

 

Versuche es und habe keine Angst,

ein anderes Eckchen zu finden.

Dein Herz hat schon begonnen zu suchen.

 

Genug mein Herz, beruhige dich,

genug geflattert wie ein Schmetterling.

 

Nun, mein Herz, hast du dich entschieden,

wo wir im Sommer leben werden?

Wo wir im Sommer leben werden?

 

Da fing das arme Herz an zu pochen

Und wusste nicht, was aus uns werden wird.

 

Es stöhnt das graublaue Täubchen, etc.

 

 

 

 

 

 

Troika (4.Satz)

 

Die Herzen der Frauen sind wie ein Wirtshaus:

Alle Welt geht dort ein und aus,

von einem Morgen bis zum nächsten,

der eine rein, der andere raus.

 

Der eine rein, der andere raus,

und so gehts von einem Morgen bis zum nächsten.

 

Die Herzen der Frauen sind wie ein Wirtshaus etc.

Ach, komm doch her, ja komm doch her,

du hast bei mir nichts zu befürchten,

du hast bei mir nicht zu befürchten,

so komm doch her, ja komm doch her.

 

Der eine ist ledig oder auch nicht,

entweder ledig oder verheiratet,

der eine ist schüchtern oder auch nicht,

entweder schüchtern oder gewitzt.

 

Ei! Ei! Ei! Ei!

 

So geht´s von einem Morgen bis zum nächsten,

ja der eine rein, der andere raus.

 

Ach, komm doch her, ja komm doch her etc.

 

Die Herzen der Frauen sind wie ein Wirtshaus etc.

(Übersetzung: Ulrike Patow-Kamenski)

 

 

 

Romanze:

 

Meine schöne, graue Taube

Weint voll Kummer Tag und Nacht.

Haben ja den Freund ins Weite

Seine Flügel weggebracht.

 

Und man hört nicht mehr die Taube,

lustig girren in dem Laube.

So von einem Zweig zum andern

Fliegt und hüpft sie hin und her,

sieht sich um nach allen Seiten,

hofft auf seine Wiederkehr.

 

 

 

Du, mein Herz, sollst ruhig bleiben,

wie ein Schmetterling bist du.

 

 

Suche neue Ruhestellen;

Was man wagt, ja, das gelingt.

Wag und such, und dir gelingt´s.

 

Du, mein Herz sollst ruhig bleiben,

flattre wie ein Schmetterling doch nicht.

Was hat denn das Herz beschlossen?

Wohin geht´s im Sommer nun?

 

 

 

Doch das Herzchen klopft im Busen

Und weiß nicht, was ist zu tun.

Meine schöne graue Taube

Weint voll Kummer Tag und Nacht,

haben ja den Freund ins Weite

seine Flügel weggebracht

Weinend sehnt sich meine Taube.

 

 

 

Troika:

 

Das Frauenherz ist immer frei:

Da kommt ein jeder rein.

Herein, heraus, es geht so ständig früh und spät.

 

 

Ein Frauenherz ist immer frei:

Da kommt ein jeder rein.

Herein, heraus, es geht

Wie im Gasthaus, früh und spät.

 

Ach, komm doch her,

komm schnell hierher,

mit mir geschieht dir nichts,

mit mir geschieht dir nichts.

Ja komm hierher, komm schnell hierher.

 

Bist du ein Junggeselle,

bist du ledig oder nicht,

bist schüchtern oder mutig,

bist du schüchtern oder frech.

 

etc.

(Übersetzung: unbekannte(r) Verfasser(in)

 

 

Die unterschiedlichen Einspielungen liegen, wenn man den Vergleich resümiert, enger beisammen, als das von anderen Vergleichen bekannt ist. Es scheint für die meisten Interpreten überraschender Weise nicht so viel zwischen den Zeilen zu finden zu sein. Im Notentext steht anscheinend schon fast alles, sodass er im Prinzip nur genau wiedergegeben werden muss und es kommt bereits eine gelungene Darstellung dabei heraus. Auch die aufnahmetechnische Seite ist zumeist sehr gelungen. Was auch für die brillante Instrumentation Prokofjews spricht. In ihr ist die erreichte stauenswerte Brillanz und Tiefenscharfe der meisten Einspielungen quasi schon mit einkomponiert, was sich auch mit dem Erlebnis im Konzertsaal deckt. Die klangliche Seite rückt aber besonders in den Fokus, wenn die musikalische Seite mal etwas weniger bietet. Wie immer schlagen aber auch hier die unterschiedlichen Prädispositionen der Musiker auf das hörbare Resultat durch, nur liegen die einzelnen Kategorien dieses Mal noch enger beisammen.

 

 

 

 

(Teilweise zitiert aus Wikipedia, aus Programmnotizen von William E. Runyan für ein Programm der Fort Collins Symphony, Colorado, 2019 und von Daniel Jaffé für ein Programm des Chicago Symphony Orchestra, 2014; ebenfalls genutzt wurden Inhalte aus den CD-Beiheften der Einspielungen von Tughan Sokhiev von Habakuk Traber, Seiji Ozawa von Sigrid Neef  und wie bereits im Text erwähnt aus dem Beiheftchen der Jurowski-Aufnahme von Eckhardt van der Hoogen, dessen Beitrag im Übrigen zur Gänze besonders lesenswert ist.)

 

zusammengestellt bis 13.11.2021

 

 

 

 

Prokofiev 1918 in New York.

 

 

 

 

Vergleich der gehörten Einspielungen:

 

 

5 

Sir Malcolm Sargent

London Symphony Orchestra

Everest

1960

4:07  4:54  4:42  3:01  5:40  22:24

Der Klang dieser Einspielung begeistert mit einer fantastischen Offenheit, vollmundiger Natürlichkeit und unverzerrter Dynamik. Die erreichte Transparenz lässt Hörer/in staunen. Die Präsenz aller Instrumente ist herausragend und daher sind auch alle mühelos zu orten. Man wähnt, dass man die einzelnen Musiker durch den virtuellen, hier holografisch aufgespannten Hörraum wandelnd, einzeln mit Handschlag begrüßen könnte, so plastisch und bestens strukturiert hört sich diese Einspielung an. Einzelne, sonst ohne Partitur kaum zu bemerkende Details gehen hier im weiten Orchesterrund nicht verloren. Dies setzt natürlich voraus, dass sie das LSO auch bringt und das ist auf ganz bemerkenswerte Weise hier der Fall, denn man geht besonders detailverliebt an die Aufgabe heran und Sargent fördert oder fordert die Nuancen, die ihm das Orchester dann auch in überaus reichhaltiger Weise anbietet. Dass das auch weniger erfolgreich gelingen kann, hört man in der Einspielung des LSO 17 Jahre später mit André Previn, bei dem man vergleichbare Detailverliebtheit und vergleichbaren Nuancenreichtum trotz desselben Orchesters vermisst. Dynamisch kommt die Einspielung nicht ganz an die Klangentfesselung Abbados oder Reiners heran. Die einzigartig autoritäre, einschüchternde Wucht der Gran Cassa bei Abbado bleibt, um es gleich vorwegzunehmen unerreicht.

Genug über den Klang geschwärmt, denn nicht er alleine macht die Musik. Auch der Vortrag ist enorm pointenreich und das Orchester ganz hervorragend aufgelegt und extrem hellhörig und aufmerksam. Sein Spiel ist auch deutlich präziser als in der Einspielung Previns und kann sich mit den Perfektionsorchestern aus Chicago und Cleveland durchaus messen. Was jedoch noch dazu kommt ist ein höheres Maß an Wärme und, wenn man so will, Empathie. Bei den amerikanischen Eliteklangkörpern stehen Virtuosität und Glanz gerne einmal an vorderster Stelle. Das ist hier nicht der Fall. Im ersten Satz vermisst man lediglich eine Gran Cassa, die, wie Prokofjew es fordert, Colpi di cannone (Kanonenschüsse) darstellen sollte oder doch annähernd danach klingen sollte. Das schafft das Aufnahmeequipment von 1960 noch nicht so wie es dann später möglich wird. Auch der 2. Satz wirkt erheblich einfühlsamer als bei Reiner. Die Darstellung ist partiturgenau, ausdrucksvoll und intensiv. Cello und Viola bilden ein sehr homogenes und präzises Duo, keiner dominiert den anderen. Sollten dies die beiden getrennten Vögelchen sein, die im Lied besungen werden? Das Cello übernimmt den Part des schmachtenden Partners, des vermeintlich verlassenen. Ein weiteres Beispiel für das akribische Orchesterspiel ist das Duo von Saxophon und Fagott im 4.Satz, das fast immer vom Saxophon dominiert wird. Hier verschmelzen beide zu einer Einheit, die den jeweils anderen aber noch voll zur Geltung kommen lässt. Das ist Orchesterspiel in Vollendung. Überhaupt gebührt den Bläsern des LSO wieder einmal ein Sonderlob. Wir genießen Bravour und herausragende Präsenz an allen Pulten. Auch das Kornett bei der Beerdigung (5.Satz) phrasiert einfach perfekt und besonders klangschön.

Dies ist eine Einspielung, die in allen Bereichen glänzend gelungen ist. Ein echtes Juwel. Besonders fällt das liebevolle, fast zärtliche Spiel auf, das anderseits auch vor elementarer Eruption nicht zurückschreckt, ganz wie die Partitur es verlangt. Eine Darstellung, die allen Erfordernissen des Werkes in besonderer Weise gerecht wird. Ohne zu übertreiben darf von einer Sternstunde geschrieben werden. Aber Vorsicht! Es gibt im Netz eine Menge Download- und Streaming-Quellen, die sich das (nicht mehr urheberrechtsgeschützte) Alter der Aufnahme zunutze machen und versuchen mit einer unwürdigen, miserablen Qualität das schnelle Geld zu machen. Am besten man achtet hier auf „Markenqualität“ und nimmt „Everest“ und hofft, dass dieses Label nicht auch noch gefälscht wurde.

 

 

5

Fritz Reiner

Chicago Symphony Orchestra

RCA

1957

4:09  4:22  2:42  2:36  6:04  19:53

Bei Reiners Einspielung handelt es sich um eine der besten Orchesteraufnahmen überhaupt. In der audiophilen Szene wird sie mit der Aura des Unerreichbaren umgeben. Es gibt sie mittlerweile in vielen, meist audiophilen Umschnitten auf SACD, Schallplatte und CD und in mannigfaltigen Downloads. Welcher davon der beste ist, müssen wir offen lassen. Uns lag eine normale CD und eine XRCD zum Vergleich vor. Eine vorhandene LP konnte leider derzeit mangels funktionierender Gerätschaften nicht an der vergleichenden Erkundung teilnehmen. Die Überprüfung ergab, dass ihr Nimbus nicht unbegründet ist. Der erste Eindruck bereits ist der von gleißend strahlender Virtuosität, die hier viel mehr im Vordergrund steht als bei Sargent, Szell oder Abbado. Das soll aber nicht heißen, dass ihr musikalischer Charakter äußerlich oder oberflächlich geraten wäre, da steht Reiner vor. Der gestrenge Orchesterleiter achtet auf akribisch festgelegte Zusammenhänge und die Klangbalance im Orchester wirkt wie einbetoniert. Da wird nichts dem Zufall überlassen. Die Strenge legt sich auch im Ausdruck über die Musik, was aber nicht zu ihrem Nachteil ist. Es ergibt sich so nur eine weitere, charakteristische Spielart. Der Gestus ist bei aller Perfektion aber in keiner Phase trocken. Die Präzision wirkt allerdings auf die Spitze getrieben und man hat das Gefühl, das Orchester könnte das Stück fünf Mal hintereinander spielen und es würde jedes Mal genau gleich klingen.

Die Streicher bei ihrem ersten Tutti-Einsatz (2 Takte nach Zi. 3) wirken voller, aber auch energischer und selbstbewusster als bei allen anderen Einspielungen. Die Gran Cassa bei ihren Kanonenschüssem wirken jedoch weniger dynamisch und explosiv als bei Abbado, aber extrem körperhaft. Das Blech ist ein Nonplusultra an Brillanz. Das Piccolo tönt fast so schön penetrant wie bei Temirkanov. Wir erleben ein Orchesterfeuerwerk der Superlative.

Der 2. Satz „Romanze“ betont eindrücklich die dunkle und melancholische Seite. Dabei ist der Ausdruck sehr dicht und der Verlassene erscheint kaum zu trösten zu sein.

Im 3. Satz gelingt es Reiner das fastoso (prächtig, prunkvoll)und das pesante (wuchtig, schwer) mustergültig in Musik zu fassen. Der großsprecherische Gestus ergibt sich so ungekünstelt. Heute würde man wohl sagen, „was für ein Großkotz“. Klangprächtiger und strahlender geht es nicht mehr. Mit Pauken und Trompeten wird hier Hochzeit gemacht. Ob auf der Party viel Alkohol geflossen ist, lässt sich bei Reiner und den Chicagoern nicht sagen, jedenfalls lassen sie sich nichts anmerken. Sie ziehen den Satz mit höchster Präzision durch. Bei Temirkanov und ansatzweise auch Ponkin hat man hier einen Verdacht. Der Orchesterklang ist eine reine(r) Freude. Der 4. Satz zeigt eine rasante Fahrt, nicht gerade ungefährlich für die Insassen der Kutsche.

Im letzten Satz wird es dann sehr ausdrucksvoll, vielgestaltig bei lupenreiner Transparenz. Das wird alles perfekt austariert und genau so zu Gehör gebracht. Das Übereins der verschiedenen, hier übereinander geschichteten Themen gelingt so plastisch wie sonst kaum noch.

Würdigen wir nun noch ein wenig mehr den Klang, denn das wurde noch nicht hinreichend getan. Nur anfänglich verrät er das beträchtliche Alter der Aufnahme mit einem vernehmbaren Rauschen. Dann badet man im glasklaren, voluminösen, knackigen, extrem körperhaften Klang, der auch warm genug dazu ist. Die Dynamik ist extrem ausgeweitet, die Präsenz hautnah. Die Klangfarben, in reicher Palette vorliegend, erscheinen ungemein leuchtkräftig. Der Gesamtklang ist enorm körperhaft und „vollsaftig“. Die 20 Jahre jüngere Einspielung Abbados, ebenfalls mit dem CSO hat hier in fast allen Eigenschaften das Nachsehen, obwohl sie für sich und DG-Verhältnisse ausgesprochen gelungen ist. Die XRCD macht es deutlicher als die normale CD, dass es sich tatsächlich um eine der besten Aufnahmen eines Orchesters überhaupt handelt. Kein Zweifel.

 

 

5

George Szell

Cleveland Orchestra

CBS-Sony

1969

3:51  4:15  2:26  2:42  5:30  18:44

Szells Orchester klingt nicht ganz so brillant aber auch sehr transparent und enorm präsent. Wenn man der Einspielung auch einmal eine audiophile XRCD oder ähnliches gönnen würde, wäre auch hier ähnliche Brillanz erreichbar. Orchestral klingen sowohl das CSO als auch die Cleveländer makellos, auch hier bewundern wir das fantastisch intonierte und durchschlagskräftige Blech und die Gran Cassa wird hier sogar noch resoluter geschlagen als in Reiners Chicago, vielleicht sind die Kanonenschüsse ja gar nicht militärisch zu sehen, sondern synonym zum Gefühlsausbruch des Zaren als er sich über die lästigen, seine Nachtruhe störenden Geräusche ärgert. Wahrlich ein Herrscher, vor dem man sich in acht nehmen muss. So könnte sich auch ein in Musik gefasster Amoklauf anhören. Auch der 2.Satz klingt ausdrucksvoll. Die triolische Bewegung der Streicher (ab Zi. 17) kommt bei Szell so deutlich als Zittern heraus, wie in keiner anderen Einspielung, auch nicht beim hellhörigen Sargent. Wirklich bemitleidenswert, dieses verlassene Vögelchen, das ja unseren Kijé bezeichnet.

Die „Hochzeit“ zeigt ein Orchester von sagenhafter Geschlossenheit. Alle Gruppen sind gleichermaßen ausgezeichnet besetzt und musizieren erneut mit makelloser Präzision. Das Blech klingt enorm kraftvoll. Im 4. Satz, der seltsamen Kutschfahrt findet man nur noch diese Notizen: Was für Posaunen, was für Flöten, was für Hörner, was für Trompeten, jeweils noch mit einem ! versehen. Was für eine Auszeichnung nach bereits so vielen gehörten Produktionen, es ging ja – wie immer – nach dem Alphabet. Dem können wir auch jetzt, nachdem nun alle gehört sind, nichts hinzufügen. Bei der Beerdigung hören wir auch bei Szell eine formvollendete, glasklare Überblendtechnik der verschiedenen Themen. Um das scheinheilige Ende für die anwesende Trauergemeinde nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen, zieht Szell das Tempo feinfühlig aber spürbar etwas an. Der gewonnene Drive macht das doppelbödige der Szenerie besonders sinnfällig.

Die Version erscheint ungemein stimmig musiziert, das Orchester präsentiert sich von seiner besten Seite und die Technik erzielt das Optimum des damals Möglichen. Szell bietet „echtes“ großes Kino. Und das ist keine „Fake News“.

 

 

5

Claudio Abbado

Chicago Symphony Orchestra

DG

1977

4:07  4:05  2:32  2:40  5:49  19:13

Die Einspielung Abbados schmeichelt dem Werk mit hoher Kompetenz, einem hoch engagierten, einfach perfekten, farbigen Orchesterspiel und einer hier buchstäblich umwerfenden Klangqualität. Fangen wir doch mit letzterem an. Die Klangbühne scheint sich in Chicago seit der Reiner-Einspielung spürbar geweitet zu haben, sie wirkt nun breiter und tiefer. Die Dynamik-Spitzen erreichen Rekordwerte. Wenn man einen oder zwei Subwoofer in der Musikabspielanlage verwenden sollte, könnte es durchaus sein, dass die „Kanonenschläge“ der Gran cassa die Hosenbeine zum Flattern bringen, die Wände wackeln ohnehin. Obwohl die Gran Cassa eigentlich nicht in den Vordergrund rückt, entfaltet sie vom angestammten Platz aus ein raumfüllendes Volumen und ein Druck, der seinesgleichen sucht. Wir hätten sonst vermutet ein Schelm von Techniker hätte das Mikro für die Gran Cassa in dieselbe hinein gestellt. Die Techniker und Abbado haben jedenfalls Prokofjew beim Wort genommen. Es knallt wie echte Kanonen. Klasse. Zudem verfügt die auch große Trommel oder Basstrommel genannte Gran Cassa über eine rabenschwarze Tiefe. Ihr „Bediener“ muss zudem über Bärenkräfte verfügen und besonders trainiert sein in Punkto Schnellkraft. Der Gesamtklang wirkt brillant, extrem knackig und frisch. Bestechend klar und bestens aufgefächert ist auch er. In Hinsicht auf Körperhaftigkeit, strahlender Farbigkeit und perfekter Abrundung des Gesamtklangs muss sich diese Aufnahme jedoch hinter Sargent und Reiner einreihen. Auch aus musikalischer Sicht gehört diese Produktion zu den allerbesten. Partituranweisungen werden vorbildlich bis ins kleinste Detail beachtet, der Nuancenreichtum ist sehr hoch, wenngleich hier Sargent und das LSO noch etwas mehr bieten und nicht zu vergessen: das empathisch wirkende, Wärme ausstrahlende Spiel, das die Chicagoer Musiker nicht erreichen oder auch gar nicht beabsichtigen. So nimmt die Einspielung Abbados so was wie eine Mittelposition zwischen Sargent und Reiner ein. So klingt schon zu Beginn das Kornett wunderbar aus der Ferne (Partituranweisung: in distance), die Celesta  klingt märchenhaft schwebend, der verlassene Kijé glaubt wohl, dass die Geliebte bis in alle Ewigkeit „entschwebt“ ist (die Celesta steht ja, zumindest bei Schostakowitsch für die Ewigkeit). Die „Romanze“ als Ganzes wirkt extrem melancholisch, also tief traurig und wird sehr sensibel ausgehört.  Abbado scheut eben auch für eine Unperson keinen Aufwand.  Bei der „Hochzeit“ stellt er den derben Kirchenton ebenso gut heraus wie die übertriebene majestätische Gravität. Gerade so, als wäre der Zar höchstpersönlich zugegen, was erwiesenermaßen jedoch nicht der Fall ist, denn als der Zar ihn später zum ersten Mal zu sehen wünscht, verstirbt Kijé ja plötzlich. Das frivole Liedchen wird von Kijés Kornett spitz und schelmisch vorgetragen. Die „Troika“ wird bei Abbado zu einer schlank klingenden spritzigen Vergnügungsfahrt. Den derb satirischen Unterton unterschlägt er dabei keineswegs. Es fehlt auch nicht an solistischer Raffinesse. Die Soli werden von den virtuosen Bläsern bestechend klar und detailreich intoniert (Posaune, Saxophon, Piccolo).  Die „Beerdigung“ im 5. Satz wirkt „extrem“ sentimental.  Wie ein Verwandter Till Eulenspiegels wuselt der Verstorbene dennoch in den Gesprächen oder Erinnerungen durch die Trauergemeinde. Dies dringt, wie die filmisch wirkende Collage in bester detaillierter Klarheit ans Ohr der Zuhörerschaft.

Abbados Beitrag zur Diskografie wirkt gedankenklar, spritzig, detailreich und umwerfend dynamisch. Die herausragende Orchesterleistung, die nahtlos an die Glanztat des Orchesters mit Reiner anknüpft, begeistert.

 

 

5

Antal Dorati

Nederlands Radio Filharmonisch Orkest

Decca

1973

4:16  4:44  3:06  2:48  6:28  21:22

Dies ist wieder eine Phase-4-Aufnahme der Decca, glücklicher Weise jedoch fast völlig frei von den Kinderkrankheiten dieser Technik. Die instrumentalen Blow-ups halten sich dieses Mal in Grenzen und die ohnehin schon transparent wirkende Instrumentation des Werkes wird hier sogar noch etwas weiter herausgeputzt. Die Präsenz der einzelnen. Instrumente bzw. Instrumentengruppen wird gleichsam auf die Spitze getrieben. Darin schließt sie zur Living Stereo Reiners auf. Jedoch ist der Decca - Klang eine Spur härter und auch nicht ganz so körperhaft. Die Dynamik ist sehr gut, ebenso die Räumlichkeit, die ihrerseits aber die Natürlichkeit der „normal“ aufgenommenen Deccas der 60er und frühen 70er Jahre nicht erreicht. Ein bisschen wird eben doch an der Präsenz der einzelnen Schallquellen herumgedoktert. Bestes Beispiel: das ausdrucksvolle Kornett, das übrigens schön phrasiert und weniger glatt als die meisten klingt, wandert während der „Geburt Kijés“ von seiner Position von links hinten (zu Beginn des Satzes) nach vorne rechts am Ende des Satzes. Er kommt uns also immer näher. Sinnfälliger lässt sich das in die Welt kommen unserer „Fake News“ wohl kaum ausdrücken. Dem ff und fff des ersten Satzes gewinnt Dorati viel Ausdruck ab.

In der „Romanze“ klingt das Cello zu Beginn ohne jede Brillanz, ausgemergelt im Klang schwächlich und ganz traurig vom Verlust der Geliebten. Nachdem sich die Viola zu ihm gesellt, wird es etwas besser und fortan achtet es wieder etwas mehr auf eine anständige Expressivität, wie man es von einem richtigen Cellosolo erwarten darf. Auch im weiteren Verlauf achtet Dorati auf hohe Expressivität. Das Solo der Celesta übertreibt es damit etwas, denn sein p klingt nach einem sehr gesunden f. Dass die Trennung ewig dauert wird dem leidenden Kijé so fast schon eingebläut. Aber bei Phase-4 wird eben jedes Solo groß herausgestellt, weshalb diese Technik auch für Schwerhörige gut geeignet war. Leider wird die dynamische Skala damit doch erheblich (zum lauten hin) eingeschränkt. Die Artikulation der einzelnen Musiker erscheint jedoch ebenfalls überdeutlich, so klingt das Calando (sich fallen lassen) vor Zi. 22 hier auch besonders sinnfällig herausgearbeitet. Gibt hier unser Protagonist etwa schon auf vor lauter Liebeskummer?  Schmeißt er alles hin?

Auch im 3. Satz, Kijés „Hochzeit“ gewidmet, staunt man über den sich in unserer allernächsten Nahe (wegen der überragenden Präsenz der Solisten), sich quasi direkt vor unserer Nase abspielenden artikulatorischen Nuancenreichtum der Klangentstehung. Das wirkt zwar im Gesamtzusammenhang unnatürlich, aber großen Spaß macht das Zuhören trotzdem. Im 4. Satz, der „Troika“ hört man ab Zi. 41, dem Allegro von brio, einen besonders reichhaltigen Klang, wo bei vielen Einspielungen die Tendenz zur nebulösen Klangsuppe spürbar wird. Ein dichtes laut spielendes, üppiges Instrumentarium war in den Phase-4-Aufnahmen meist ein großer Schwachpunkt, hier gelingt die Transparenz ganz hervorragend. Seziert wird der Klang jedoch nicht. Posaune und Saxophon stehen aber dem Hörer regelrecht unmittelbar gegenüber, zum greifen nah. Bei der „Beerdigung“ lässt sich Dorati viel Zeit, nutzt die gewonnene Zeit aber zu beeindruckender Feinzeichnung und der Herausarbeitung dieser seltsam leeren Gefühlswelt, oder sind da doch echte Gefühle dabei? Dorati lässt uns da im Dunkeln. Die Nebenstimmen kommen bestens zur Geltung. Aber auch in diesem Satz gibt es einen Fauxpas, denn bei Zi. 60 sollte Ancona (still) un poco piu lento gespielt werden und die Violinen passend dazu p spielen, hier ist es erneut ein gesundes f. Phase-4 macht es möglich, obwohl Dorati höchstwahrscheinlich p spielen ließ. Das geforderte espressivo wird so jedenfalls vervielfacht. Die Trompeten spielen pointiert ironisch-bissig.  Die Überlagerung der verschiedenen Themen gelingt auch Dorati bestechend klar. Dorati verleiht dem Satz einen besonderen Tiefgang, der den Hörer etwas verloren zurücklässt.

Diese Einspielung, im Vergleich vielleicht die ungewöhnlichste, gar kurioseste, ist sehr hörenswert. Die hohe Präsenz und Deutlichkeit der Aufnahme involviert die Hörerschaft in hohem Maß ins musikalische Geschehen. Das international eher zweitklassige niederländische Orchester erreicht, wie im letzten Vergleich zu Haydns Sinfonie Nr. 100 bereits die Philharmonia Hungarica höchsten Standard. Ein weiterer Beweis, dass Dorati ein sehr kundiger Orchestererzieher oder Orchestermotivator gewesen sein musste.

 

 

5

Yuri Temirkanov

Sankt Petersburger Philharmoniker

RCA

1991

4:46  4:21  2:47  2:40  5:50  20:24

Von Yuri Temirkanov lagen uns zwei verschiedene Einspielungen der Suite zum Vergleich vor. Die erste entstand in Moskau mit dem Staatsorchester der UdSSR, das man bereits von den vielen Aufnahmen mit Jewgenij Svetlanov kennt und schätzt. Dies wurde live vom dortigen Staatsrundfunk mitgeschnitten und von Brillant veröffentlicht. Sie unterscheidet sich in allen Belangen recht deutlich von der hier zu besprechenden RCA-Produktion. 1991 wurde eine moderne sehr räumlich und transparent klingende Einspielung vorgenommen, die über eine sehr gute Feinzeichnung und ein natürlich wirkendes Panorama verfügt. In Moskau gelang das noch nicht so gut, davon jedoch später mehr. In Sankt Petersburg klingt die Basstrommel mit einem tiefen Fundament, sie ist klangmächtig und der Musiker ist auch fähig Schläge wie von einer Kanone zu generieren.

Kleiner Exkurs: Zur Zeit der Aufnahme, die ja in die gerade in vollem Gang befindliche Zeit der Perestroika fiel, war das Orchester und sein Dirigent gezwungen, sehr viele Tourneen ins Ausland zu unternehmen, um Devisen zu beschaffen, die dringend nötig waren, um den Exodus der besten Musiker ins Ausland zu verhindern. So wurden auch Städte bedient, die nicht unbedingt zu den musikalischen Brennpunkten der Welt gehören und auch wir kamen in den Genuss eines Gastspiels dieses herausragenden Klangkörpers. Auch unser Freud Kijé stand auf dem Programm. So können wir schreiben, dass alles was auf dieser Einspielung zu hören ist auch wirklich von diesem Orchester gespielt wurde und es keine „Fake News“ ist und dass es gerade mit dieser Suite unbedingt in die erlauchte 5er Kategorie gehört. RCA hat dazu nichts manipulieren müssen.

Nun zurück zur Einspielung. Ein weich klingendes Kornett kommt klamm und heimlich, sehr leise, unauffällig und verführerisch in die Welt, auf einmal ist es da und geht so schnell nicht mehr weg, denn man kann es sehr gut gebrauchen.  Genauso verschwindet es auch wieder, wahrscheinlich um bei nächster Gelegenheit irgendwo sonst wieder aus dem Nichts aufzutauchen, wo es gerade gebraucht wird. Das wird hier sinnfällig dargestellt. Eine weitere Besonderheit folgt alsbald. Ab Zi. 6 klingt das Piccolo heraus aus dem geballten Holzbläsersatz, der auch noch mit den Hörnern im Verbund richtig ff macht. Der kleine Frechdachs lässt aber nicht locker und übertönt alles anscheinend mühelos auch wenn das angeblich übermächtige Blech seinen Senf noch dazugibt. Was für ein Aufruhr, aber der, der da am lautesten schreit, ist wahrscheinlich der übelste Querulant, vielleicht auch der Initiator des Ganzen. Er meldet sich auch im Verlauf der weiteren Sätze immer wieder zu Wort. Hier nervt er (eigentlich ist es ja eine sie, die Piccoloflöte) jedenfalls richtig und man fragt sich, wieso es bisher bei den allermeisten anderen Einspielungen so unauffällig um das aufmüpfige, herumkeifende Piccolo gewesen ist? (Ausnahme Szell, Reiner und Abbado, die es aber lange nicht so mit ihm übertreiben.) Die beiden Trompeten erhalten dann nicht ganz dasselbe Brio wie bei Abbado. Das Cellosolo in der „Romanze“ wirkt so gebrechlich, als könne es kaum noch laufen, geschweige denn spielen, die Viola eifert ihm darin erfolgreich nach. Einige Einspielungen lassen sich hier etwas Besonderes einfallen, gerade die guten. Von den heraus geschürften Nuancen steht jedoch nichts in der Partitur. Entweder es gibt geheime Quellen oder die betreffenden Solisten haben da einen gewissen Riecher für die von der Norm abweichende Gestaltung entwickelt. Hier wirkt der Liebeskummer der beiden (Cello und Viola) geradezu herzerweichend. Die Celesta hingegen gibt der Szenerie etwas unwirklich Entrücktes. Immer wieder erreicht Temirkanov durch mehr oder weniger leichte Übertreibungen, z.B. ein angedeutetes glissando (bei Meno mosso), wo gar keines vermerkt ist, dass da was nicht ganz stimmen kann. Oder war da unser Protagonist bereits vor der „Hochzeit“ leicht beschwipst? Vielleicht auch das Orchester. Wer weiß? Da kommt auch das ein oder andere Intervall nicht mehr ganz so rein, wie es könnte, so wie wenn.....man nicht so unglücklich verliebt wäre.

Die „Hochzeit“ beginnt besonders gewichtig, prächtig oder doch nur prahlerisch. Oder auch plärrend und schwülstig. Manche meinen ja der Zar wäre im Film bei der „Hochzeit“ persönlich anwesend gewesen (natürlich nur ein verkleideter Schauspieler) und der Pomp gelte ihm. Das Orchester bringt das ironisch Gebrochene überzeugend.  Ein wenig grotesk wirkt diese Stelle ja schon, hier besonders, zudem auch etwas gewalttätig. Auch hier schneidet die Piccoloflöte wieder richtig ins Klangbild ein. Auch bei ihren mp-Einsätzen klingt die Gran Cassa bereits gewaltig. Das Orchester bietet aber auch subtile Zwischentöne. Die Trompeten und Posauen plärren jedoch ganz schön los. Die Russen feiern die Hochzeiten vielleicht auch besonders hochprozentig und wer sollte es besser wissen als dieses Orchester? Sollte man der Authentizität wegen sogar selbst etwas beschwippst gewesen sein? Wenn die Kunst es fordert?

Die „Troika“ klingt hier als parodierte Übertreibung des Folklore-Genres, sehr lebendig die instrumentalen und dynamischen Kontraste voll auskostend. Der (fleisches)lustbetonte Gesang der Vokalversion wird hier auch ohne Bariton plausibel dargestellt.

Die „Beerdigung“ wird mit dem nötigen Gewicht vorgetragen. Die Basstrommel verschafft der Verkündigung dieser Nachricht größtes Gewicht. Die Stimmenverläufe der verschiedenen, geschichteten Themen, die verschiedenen Lebensabschnitte Kijés betreffend, werden scharf voneinander getrennt und glasklar dargestellt. Immer wieder geistert er (wirklich lebendig?) eulenspiegelhaft durch den Satz. Uns kommt die Einspielung sehr authentisch vor. Vielleicht spielt sie auch nur mit den Klischees des Russischen und macht uns nur was vor? Auch wenn man sich weniger Gedanken macht, bleibt dies eine hervorragend klingende, mit viel Schwung und jede Menge Drive begeisternde Darstellung.

▼ eine weitere Aufnahme des Dirigenten weiter unten in der Liste

 

 

5

Mario Rossi

Orchester der Wiener Staatsoper

Vanguard

1957

3:53  3:48  2:32  2:43  5:44  18:40

Diese Einspielung lag uns auf einer DVD-Audio vor, die außer der originalen Stereo- auch eine Mehrkanalspur enthält, die bereits Anfang der 2000er Jahre mit 24 Bit und 96 Khz codiert war. Wer kennt die DVD-Audio heute überhaupt noch? Der Übertrag ins Digitale erfolgte äußerst erfolgreich. Das Rauschen bleibt sehr gering und stört in keiner Weise. Der Raumklang ist fantastisch, die Transparenz ganz enorm, die Dynamik super. Der Bass klingt tiefreichend, mächtig und druckvoll, die Ortungsschärfe absolut verblüffend für eine Aufnahme aus den 50ern, gerade als sich die Stereotechnik noch in ihren Kindertagen befand. Der bearbeitende Techniker muss die Originalbänder sehr behutsam und versiert behandelt haben. Und konnte ihr erhebliches Potential offenlegen.

Aber die Produktion weiß auch musikalisch zu überzeugen, sonst hätte sie es nicht in die 5 (Summa cum laude) geschafft. Mario Rossi, der heute kaum noch bekannte italienische Dirigent, entfacht ab Zi. 5 ein feuriges, zugespitztes Animato, das seinesgleichen sucht. Es entwickelt sich wie ein Gewittersturm mit den explosiven Entladungen der Gran Cassa. Wenn das der Zornesausbruch des Zaren darstellen sollte, dann kann man nur sagen: Rette sich vor ihm, wer kann. Ist es wieder ein Klischee, wenn da leise eine hoch erhitzte Verdi-Stretta mitschwingt?

Auch in der „Romanze“ präsentiert sich das Orchester in einer sehr guten Verfassung. Die Suite um Kijé scheint ja irgendwie das Beste aus den Orchestern herauszuholen, aber dass sich hier das Orchester der Volksoper die Ehre geben könnte, ist kaum zu glauben. Beide Orchester (der Volksoper und der Staatsoper) firmierten zu jener Zeit noch unter demselben Firmennamen (Wiener Staatsoper). Rossi nimmt die Temporelationen sehr genau und geht auch mit größter Präzision von einen Tempo ins nächste, wenn es angezeigt ist, da gibt es keinerlei Übergänge. Ein sehr sicherer Taktgeber scheint er in jedem Fall gewesen zu sein (mindestens). Die Flöte imitiert bei Rossi ganz besonders deutlich Vogelstimmen, was man in anderen Aufnahmen kaum so deutlich gewahr wird.

Bei der „Hochzeit“ wird die Pracht voll ausgereizt, sodass man meint, die Wiener Philharmoniker müssten am Werke sein. Im 4. Satz  erfreut das satte Blech, das straffe und überaus deutliche Schlagzeug und die pointiert agierenden Solisten, von denen man annehmen muss, das ihnen das Werk sehr geläufig ist. Die „Troika“ erscheint temperamentvoll und mit viel Zug, als hätte unser Kijé eigens frische Pferde angespannt. Im 5. Satz, der „Beerdigung“ gestattet Rossi keinerlei Freizügigkeiten, wie wir das schön häufiger in Aufnahmen aus dem Wien der 50er Jahre hören konnten.

Dies ist die zweite Überraschung des Vergleiches, weniger gefühlvoll als die Einspielung Sargents, der ersten Überraschung, aber straff, geradlinig und spritzig. Auch hier verblüfft der audiophile Top-Klang. Da waren echte Enthusiasten am Werke, auch hinter den Reglern. Man kann keinerlei Fortschritte zu den Aufnahmen aus heutiger Zeit erkennen, in diesem Fall wären es vielmehr eher Rückschritte.

 

 

 

4-5

Yuri Temirkanov

Staatsorchester der UdSSR, Moskau

Brilliant

1980, LIVE

3:58  3:54  2:33  2:28  5:11  18:04

Wie von Rundfunkaufnahmen bekannt ist die genutzte Dynamik oft recht gering. Die unteren Lautstärkegrade werden angehoben, weil das „Nutzsignal“ d.h. hier die Musik nur dann nicht von Störgeräuschen überdeckt wird. Das bedingt den hohen Aufsprechpegel auch dieser Aufnahme. Auch die Transparenz und die Staffelung des Orchesters, vor allem die Tiefenstaffelung erscheinen ein wenig eingeschränkt. Die Bassintensität erscheint reduziert und kann sich kaum mit Temirkanovs zweitem Streich für RCA messen.

Die Störgeräusche von Publikum und Podium, z.B. Huster oder das Umblättern der Notenblätter, auch ein heruntergefallener Geigenbogen (oder ähnliches) sind präsent und unmittelbar mitzuerleben. Echtes „Live-Feeling“  eben. Die Temponahme ist schon von Beginn an flott, das Musizieren lebendig. Die „Romanze“ erklingt weit weniger einfühlsam als bei Sargent oder Abbado. Hier sind „echte“ Männer zugange, die sich nicht ernsthaft mit Liebeskummer abgeben oder aber die wissen, dass es sowieso nur ein „Fake“ ist.

Auch die „Hochzeit“ erklingt tempogeladen. Das Orchester scheint die zusätzlichen Schwierigkeiten, die das Tempo mit sich bringt aber quasi aus dem  Ärmel zu schütteln. Es klingt teilweise schön schräg. Es belässt es auch bei deftigen, teilweise unkultivierten, naturbelassenen  Klangfarben. Ob da schon vor 1991 bereits Alkohol im Spiel war oder ob die erfrischende Spielart zur Gestaltung einer russischen Hochzeit zwingend dazugehört, lässt sich aus unserer Sicht nicht mit Sicherheit entscheiden. Die prallen, leicht burschikose, Feierlichkeiten und das ungehobelte Spiel passen jedenfalls vortrefflich zusammen.

In der „Troika“ hören wir ab Ti. 41 ein echtes Con brio voller Temperament und Leidenschaft, als ob der Kutscher den Ehrgeiz hat, bei einem Wettrennen erster zu werden. Das ganze schnurrt knurrig dahin, und hört sich mit deftiger und bewusst (?) ungehobelter Diktion ausgelassen an. Beim letzten Satz fragen wir uns zu Recht, ob das Gehörte wirklich zu einer Beerdigung passen könnte? Die Trauergemeinde scheint sich dabei für einen Geschwindmarsch entschieden zu haben. Das wirkt im Vergleich köstlich. Man wollte, vielleicht auch das eine russische Tradition, schnell zum fröhlichen „Leichenschmaus“ übergehen. Oder aber die Anwesenden wissen alle,  dass da niemand im Sarg liegt und verschwenden demzufolge auch keine Zeit mehr.

Hat die 1991er Einspielung mehr orchestrale, gesetzte Kultiviertheit und wohlklingende Perfektion zu bieten, so bringt die alte von 1980 mehr Unmittelbarkeit und mehr vermeintlich russisches Flair mit ins Spiel. Hörenswert sind sie in ihrer Unterschiedlichkeit beide.

 

 

4-5

Vladimir Ponkin

Maly Symphony Orchestra Moskau

Harmonia Mundi

1990

4:12 4:42  3:01  2:40  6:17  20:52

Maly bedeutet klein. Es könnte sich demgemäß sowohl um ein kleines Sinfonieorchester gegenüber einem zweiten im Vergleich  zu diesem größeren handeln oder sich um das Orchester des Moskauer Maly Theaters handeln, das laut Wikipedia das einzige Schauspiel-Theater ist, das über ein eigenes Sinfonieorchester verfügt. Genaueres konnte leider nicht ermittelt werden. Um es gleich vorwegzunehmen, diese Einspielung ähnelt in vielen Facetten den beiden Beiträgen Temirkanovs. Auch hier haben wir bei der „Hochzeit“ deren Beginn wirklich pesante (schwer und wuchtig), ja klotzig klingt und die Tuba-Stimme besonders hervorgehoben wird, was das Schwerfällige, fast tumbe noch weiter verstärkt, den Verdacht dass eine nicht unerhebliche Menge Alkohols im Spiel ist. Ob man daraus eine russische Tradition für diesen Satz ableiten kann erscheint dennoch gewagt, denn drei Einspielungen sind statistisch gesehen vielleicht doch noch etwas zu wenig. Jedenfalls liegt hier, auch was die übrigen vier Sätze betrifft, eine hoch kompetente Darstellung vor, die eine Empfehlung verdient.

Die dynamischen Verhältnisse sind bestens eingehalten worden, ja, eigentlich nimmt die kaum jemand sonst so wörtlich. Das Orchester hat eine sehr hohe Qualität, die Piccolostimme nervt hier mit Penetranz fast genauso wie in Temirkanovs späterer Einspielung.

Die Viola spielt sich im 2. Satz nicht gegenüber dem Cello in den Vordergrund, sondern nimmt sich gebührend zurück. In vielen Aufnahmen deckt sie das Cello zu. Er ist insgesamt ein tief trauriges Stück, das sich im Verlauf nur wenig erhellt.

Die „Beerdigung“ wirkt, anders als bei Temirkanovs erster Einspielung stark zurückgenommen, was die Polyphonie der vielen Stimmen im Durcheinanderquasseln der Besucher fördert. Hier werden viele Zwischentöne eingebracht, die man sonst nicht zu hören bekommt. Auf eine schwierig zu beschreibende Art wirkt diese Einspielung gekonnt und authentisch.

Ihr Klang weist eine gute Transparenz und Präsenz auf. Die Violinen klingen etwas rau, der Gesamtklang wirkt noch recht plastisch  und verfügt aber nur über eine vergleichsweise geringere Dynamik.

 

 

4-5

Dmitri Mitropoulos

New York Philharmonic Orchestra

LP von CBS, digitalisiert von der Bibliotèque national de France

1956

3:49  4:37  2:45  2:37  6:03  19:51

MONO  Wie bei Mono-LPs aus den 50er Jahren oft zu beobachten ist der Aufsprechpegel sehr hoch, was das Portieren in die High-Res-Datei auch beibehält. Unterschwellige Rillengeräusche sind hörbar, aber sollten nicht lästig werden. Die tatsächlich genutzte Bandbreite der Dynamik ist messtechnisch gesehen sicher ziemlich gering (es fehlen die p und pp Anteile), subjektiv wird sie hier als mitreißend empfunden. Trotz Mono-Aufnahme gelingt die Transparenz glasklar, sodass man bisweilen gar zweifelt ob es sich nicht doch um einen Stereo-Einspielung (mit einer nur sehr schmalen Basis) handeln könnte. 1956 tüftelte man ja beidseitig des Atlantik bereits kräftig am Stereo-Format und brachte bisweilen auch schon die ersten Produktionen auf den noch unvorbereiteten Markt. So bleibt die größte Einschränkung im klanglichen Bereich die schmächtige Gran Cassa. Mit dem hervorragenden Orchesterspiel gemeinsam bietet die Aufnahme sogar eine gewisse Brillanz, die einige spätere Aufnahmen (Previn, LAPO und Alsop, SPSO) in Stereo nicht mehr erreichen. Ein Schicksal wie das der Gran Cassa müssen die Soli von Cello, Viola  und Celesta nicht erleiden. Sie sind fast schon riesig groß abgebildet und sogar die Harfe, sonst zumeist stiefmütterlich behandelt und fast unhörbar, darf  hier glänzen. Auch Mitropoulos´ Gestus in der „Romanze“ erscheint trotz des beschriebenen Liebeskummers sehr energisch, keine Spur von einem sich Ergeben ins Schicksal.

Dieser Drive verstärkt sich während der „Hochzeit“ und der „Troika“ nochmals erheblich und das Orchester präsentiert sich in Hochform, wie eigentlich immer mit Mitropoulos. Die Soli sind immer im „Hot-Spot“, also enorm und vor allem gleich präsent zu verfolgen. Ob sich die jeweiligen Instrumentalisten immer umgesetzt haben um genau vorm Mikrophon zu spielen, entzieht sich unserer Kenntnis, es hört sich jedenfalls genau so an, denn das Resultat ist verblüffend. Bei dieser Prozedur geht allerdings schon einmal eine Nebenstimme verloren. Die Kutschfahrt der „Troika“ mit dem betreffenden Gesang des Saxophons und Fagotts hört sich gänzlich verschieden von der des zuvor gehörten Mata an. Während dieser komfortabel wie mit einem Elektroantrieb vorwärts kommt, geht es bei Mitropoulos robust und hart voran. Der „Gesang“ erscheint weniger cantabel als lauthals gebrüllt, so wie es die Kombination von Saxophon und Fagott eben vermag. Bemerkenswert ist, wie gut sich das Fagott gegenüber dem Saxophon hier behaupten kann, zumeist ist das Duo ganz eindeutig vom blechernen Instrument dominiert. Hier gibt das Fagott alles, damit ihm dieses Schicksal erspart bleibt. Dem Ausdruck kommt es zugute.

Die „Beerdigung“ ist wie bei Szell großes Kino. Mit einem herausragenden Hornsolo. Die Artikulation ist derb, auch schroff wo angebracht. Bei aller Klasse soll es hier auch nicht unbedingt nur kultiviert klingen. Mitropoulos bringt Prokofjew auf den Punkt. Ein paar Jahre später aufgenommen wäre die Technik schon soweit vorangekommen, dass auch die schmächtige Gran Cassa zu ihrem von der Partitur geforderten Recht gekommen wäre. Ein paar Jahre später war aber bereits Leonard Bernstein derjenige der in New York aufnahm und leider hat er es nur bei zwei Sätzen der Suite belassen, weshalb er in unserem Vergleich nicht berücksichtigt werden konnte.

 

 

4-5

Efrem Kurtz

Royal Philharmonic Orchestra London

LP von Columbia, digitalisiert von der Bibliotèque national de France

1953

4:13  4:29  2:42  2:42  5:58  20:02

MONO  Diese ältere Einspielung verbreitet wie die von Mitropoulos auch einen gehörigen Respekt vor der Leistung von Dirigent und Orchester. Auch sie wirkt ungemein schlüssig und nur der gegenüber der 5er Kategorie bescheidenere Klang lässt sie etwas zurückfallen. Nur ein recht geringes Rauschen trübt hier für empfindliche Ohren die Anteilnahme am klanglichen Geschehen. Auch die Laufgeräusche der Rille vernimmt man kaum. Der Klang erfreut wie zuvor bei Mitropolos mit einer subjektiv hohen Dynamik einem recht offenen und vollen Klang von erstaunlicher Transparenz und Deutlichkeit.

Im ersten Satz lässt auch Kurtz die Piccoloflöte mit gestochener Schärfe und Penetranz spielen, auch das Blech begeistert mit Präsenz und Standvermögen. Zur Zeit Beechams (um die handelt es sich auch in dieser Einspielung) gehörte das Orchester zu den besten der Welt. Leider ist die Basstrommel nur zu erahnen, von Kanonenschüssen kann also hier keine Rede sein. Die Artikulation ist teils von ätzender Schärfe.

In der „Romanze“ spielt auch dieses Cello mit „gespielten“ Intonationstrübungen, die noch deutlicher sind als bei den Russen um die „Verstimmung“ unseres Protagonisten über sein Schicksal auszudrücken. Die Artikulation schreckt auch im 2. Satz nicht vor Schärfen zurück. Bei der „Hochzeit“ geht es rhythmisch sehr akzentuiert und bissig zu. Die Dynamik wird voll ausgereizt, mit drastischer Wirkung. Die „Troika“ wird fast manisch zugespitzt. Die Posaunen sind einfach Klasse auch die Trompeten und Saxophon-Soli überzeugen auf der ganzen Linie.

Die „Beerdigung“ wirkt besonders pointiert, fast schon expressionistisch. Gespielt wird auf höchstem Niveau, besonders ausdrucksvoll. Im Mittelpunkt scheint für Kurtz die drastisch artikulierte rau eingefärbte Satire zu stehen. Damit trifft seine Einspielung voll ins Schwarze. Schade, dass die Suite nicht zehn Jahre später mit ihm ausgenommen wurde. Da käme, wie bei Mitropoulos auch die Gran Cassa zum Zuge.

 

 

4-5

Seiji Ozawa

Berliner Philharmoiker

Andreas Schmidt

DG

1991

4:00  3.46  2:42  2:55  6:01  19:24

Die Einspielung Seiji Ozawas ist innerhalb einer Gesamtaufnahme aller Sinfonien Prokofjews entstanden. Orchester und Dirigent haben sich also über einen gewissen Zeitraum mit der Musik Prokofjews bestens bekannt gemacht und sich damit anfreunden können. Klanglich ist die Einspielung geeignet auch den einen oder anderen Prokofjew-Verächter eines Besseren zu belehren. Das Orchester hüllt das Werk, wie erhofft und wie erwartet, in einen Luxusanzug aus schimmernden, weichen, bisweilen auch hell strahlenden Farben. Fülle, ja Üppigkeit ist garantiert. Der lukullische Orchesterklang ist zudem von guter Transparenz, sehr guter Staffelung und guter Dynamik gekennzeichnet.

Die größte Besonderheit ist aber, dass sich nun die erste Einspielung vorstellt, in der ein Bariton die Solostellen des Cello und vor allem des Saxophons (teilweise auch verstärkt vom Fagott) übernimmt. Herr Schmidt ist bei bester Stimme und gefällt uns von den vier Vertretern des bassbaritonalen Stimmfachs in unserem Vergleich am besten. Wobei wir die sprachliche Diktion und die Verständlichkeit nicht beurteilen können, aber im Vergleich zu den beiden Muttersprachlern im Vergleich nährt er sich deren Aussprache erheblich näher an als David Clatworthy in der Einspielung mit Erich Leinsdorf. Schmidt gibt dem männlich-herben Schein-Charakter Kijés Zucker und die Stimme klingt ausgewogen. Sie verfügt über eine sehr angenehme Klangfarbe. Kijé wird hier zum Sympathieträger. Dass der Vortrag musikalisch wirkt und ausdrucksstark, sei ebenfalls noch erwähnt. Bisweilen wird die Stimme aber so groß und mächtig vor das Orchester gestellt, dass das feine Spiel desselben nur noch undeutlich im Hintergrund wahrnehmbar ist.

Das Kornett klingt bereits zu Beginn makellos, die Phrasierung ist ebenfalls perfekt, das Verschwinden des Tons im Nichts makellos gelungen. Das Blech klingt mächtig und wuchtig. Die Trompeten im ersten Satz strahlen. Die Gran Cassa klingt gegenüber dem Pendant der Abbado-Einspielung von demselben Label eher etwas zurückhaltend und kultiviert, wenn man den Anspruch der Partitur zugrunde legt (wie Kanonendonner). Die Dynamisierung der unteren Stärken gelingt vorbildlich.

In der „Romanze“ singt Schmidt nicht wie der Solist der Leinsdorf-Aufnahme von der Stelle des Instruments aus, das es vertritt (Saxophon), sondern von der Solistenposition links neben dem Dirigenten. Die Phrasierung Schmidts wirkt sehr abwechslungsreich und sehr lebendig. Trotz der voll tönenden Stimme ist der Orchestersatz hier noch komplett zu hören.

Im 3. Satz ist das sonor, voll und rund klingende Saxophon hervorzuheben aber auch alle anderen Solisten leisten hervorragendes. Die absteigenden Streicherfiguren, die die einzelnen Gruppen schnell durchwandern, sind ganz ausgezeichnet durchgezeichnet (ab Zi. 37), meist hört man die Violinen noch gut und je tiefer es geht, desto schwächer und undeutlicher hört man die Instrumentengruppe noch. Hier ist das nicht so. Die Äquilibristik der einzelnen Stimmen ist bestechend.

In der „Troika“ wird die kernige Stimme noch dichter mikrofoniert, was zum Text sehr gut passen will, aber nun werden die Holzbläser schon recht deutlich zugedeckt. Die „Beerdigung“ enthält berückend schön gespieltes Streicherespressivo, das Holz und die Blechsektion stehen dem jedoch nicht nach. Der glasklare Stimmenverlauf ist sehr ausdrucksvoll. Ozawa dachte sich, dass Kije einen Abgang im Luxus(klang) verdient hat und irgendwie hat er recht. Er wurde ja lebenslang nur rumgeschubst. Für uns ist diese Produktion eine schöne Abwechslung, aber vielleicht doch etwas zu schön um wahr zu sein. Aber was ist hier schon wahr?

 

 

4-5

Michail Jurowsky

WDR Sinfonieorchester Köln

Boris Statsenko 

a) Version mit Bariton

b) Instrumentale Version

cpo

1998

1) 4:17

2a)4:17

2b)4:20

3) 2:46

4a)2:41

4b)2:42

5) 5:57

a) 21:58

b) 22:02

Jurowskis Einspielung hat das Alleinstellungsmerkmal beide Fassungen der Suite zu präsentieren. So kann Hörer/in beide Fassungen auf einer Disc vergleichen. WDR bzw. cpo legen dazu eine glasklare Aufnahme vor, deren dynamische Verhältnisse etwas hinter den besten Aufnahmen zurückstehen muss (Abbado, Reiner, Sargent, Szell, Dorati, Temirkanov II). Zurückhaltung ist leider auch bei der Gran Cassa  anzutreffen. Insgesamt ist die Einspielung nicht ganz so brillant wie die besten, hält aber immer noch ein sehr gutes Niveau. Das Kornett im 1. Satz, leicht nach hinter versetzt, spielt schön deutlich und macht sofort klar, dass es von seiner Wichtigkeit überzeugt ist. Die Kölner gefallen mit sehr gutem, detailreichem Spiel. Im 2. Satz, der „Romanze“, singt der Bariton die Cellomelodie bereits erheblich lauter als das Cello und später das Saxophon. Der Vortrag wirkt etwas vordergründiger als der der entsprechenden Instrumente. Das Cello macht die bedrückte Stimmung erheblich mehr nacherlebbar als die Stimme, die ja die Worte hat, um Verständnis zu erreichen. Das Ausdrucksvermögen der Instrumente, besonders des Cellos erreicht die Stimme nie, was vielleicht auch am etwas pauschalen Vortrag des Baritons liegen mag. Außerdem lässt die instrumentale Version das filigrane Spiel des Orchesters viel besser durchkommen. Der ganze Satz wirkt reichhaltiger, nuancierter. Außerdem kann Jurowski hier ein feinfühliges Rubato einbringen, das die Vokalversion so nicht zu bieten hat.

Die „Troika“ profitiert in besonderer Weise vom schönen, weichen Ton des Kornetts mit seinem tollen Legato. Das Pompöse der Einleitung wirkt reduziert. Die Beobachtung beim 2. Satz wiederholt sich im 4. Der Bariton wirkt viel weniger dynamisch nuanciert, Andererseits steht hier ein männlich stolzierender Rad drehender Pfau, was den Instrumenten so nie gelingen würde. Das Plus der Instrumentalfassung auch hier: Die kompositorische Faktur wirkt ungleich reicher und plastischer. Das Orchester überzeugt auf der ganzen Linie.

Das Begräbnis gelingt facettenreich und gut durchstrukturiert. Den Violinen gelingt ein sehr schönes espressivo.

Jurowskis Einspielung wirkt plastisch und differenziert. Die Gegenüberstellung beider Versionen ist hoch interessant, für uns ist die instrumentale Version die ergiebigere. Es ist aber ein Gewinn, beide Versionen hörend kennenzulernen.

 

 

4-5

Klaus Tennstedt

London Philharmonic Orchestra

EMI

1984

4:01  4:48  2:39  2:48  5:55  20:11

Das LPO kam innerhalb von zwei Jahren die Ehre zuteil, die Suite zwei Mal einzuspielen. Die erste mit Enrique Batiz, steht dieser nur marginal, wenn überhaupt, nach, sodass es andere Gründe als die Qualität für die Neuproduktion gegeben haben muss.

Bei Tennstedt klingt das Kornett zu Beginn merklich unruhiger aber auch seltsam flüchtig, auch die Hörner und Trompeten intonieren mit mehr Brio. Die Gran Cassa  klingt weniger nach Kanonen als bei Batiz, zwar wuchtig, aber auch etwas beiläufig. Der Zorn des Zaren wirkt hier eher wie ein Stohfeuer. Der erste Satz als Ganzes hat bei Tennstedt etwas mehr feuriges Temperament als bei Batiz. Ob die Flüchtigkeit des Kornetts Absicht war oder nicht, wissen wir nicht. Kijé wird ja schon gleich nach der Geburt verbannt, muss also Fersengeld zahlen (flüchten). Ansonsten ist die Wiedergabe des Satzes nämlich sehr genau. In der „Romanze“ korrespondieren das überaus schmachtende Cello und die Viola sehr gut miteinander. Die „Hochzeit“ klingt bei Tennstedt dynamisch zurückhaltender, die Streicher des Orchesters haben jedoch hier bei Batiz mehr Verve.

In der „Troika“ kommt das Saxophon/Fagott-Solo nicht gut heraus, das „Restorchester“ überlagert es fast. Die Kutschfahrt erfolgt mit einem anspringendem Temperament, wirkt aber etwas weniger farbig und reichhaltig im Klang als bei Batiz.

Die „Beerdigung“  bekommt die oft übersehene „Stille“ (Ancona) bei Zi. 60. Hier klingt nun bei Tennstedt das Orchester insgesamt noch etwas runder, voller und geschliffener, vor allem die Violinen, als bei Batiz. Insgesamt ist dies eine empfehlenswerte Einspielung, die mit einigem Zug dem Werk alle Ehre macht.

Der Klang ist etwas fülliger, etwas präsenter als zwei Jahre zuvor bei Batiz. Auch der leicht frühdigitale gläserne Klang der Violinen ist nun verschwunden. Der Klang insgesamt ist bei beiden Einspielungen recht plastisch gelungen.

 

 

4-5

Erich Leinsdorf

Boston Symphony Orchestra

David Clatworthy

RCA

1968

4:03  4:04  2:26  2:44  6:02  19:19

Die Aufnahmen von RCA, die in der Nach-Living-Stereo-Ära entstanden sind, haben in klanglicher Hinsicht keinen guten Ruf. Dieser kann man jedoch einen sehr guten, offenen und klaren Klang attestieren. Die Dynamik stimmt und die Klangfarben wirken natürlich. Erich Leinsdorf hatte die Suite bereits acht Jahre zuvor mit dem Philharmonia Orchestra London auf dem Capitol-Label eingespielt, auch damals entschied er sich für die Version mit Bariton. Leider konnten wir dieser Einspielung nicht habhaft werden.

Auffallend ist, dass der Sänger, zumindest legt das Klangbild diesen Eindruck nahe, nicht von der Solistenposition links neben dem Dirigenten Position bezogen hat, sondern im Orchester stehen müsste, genau da, wo man das Saxophon vermuten würde. Entsprechend klein und leise ist er auch zu vernehmen. Der große Vorteil ist dabei, dass nichts vom reichen Gewebe im Orchester zugedeckt wird. Nach unserem phonetischen Vergleich der Aussprache ist das Russisch des Herrn Clatworthy sehr von dem der beiden Muttersprachler (Boris Statsenko bei Jurowski bzw. Andrei Bondarenko bei Litton) abweichend, sodass zu vermuten ist, dass es sich um eine unidiomatische Mischung aus Russisch und Englisch handelt, was uns nicht weiter störte, denn das eine wie das andere blieb für uns unverständlich. Da es wohl nicht nur uns so ergeht, haben wir die Übersetzung der beiden Liedchen in unserem „Hintergrund“ abgetippt (siehe dort), Wie bereits erwähnt stört die Singstimme in der „Romanze“ den musikalischen Detailreichtum in keiner Weise. Er wird in den Gesamtklang eingebettet. Stimmlich kann Herr Clatworthy in Sonorität, Klangfarbe und Gestaltung nicht ganz mit Andreas Schmidt mithalten. Die „Hochzeit“ betont mit einem sehr präsenten  Blech und einem besonders nah positioniertem, intensivem, mächtigen und brillantem Schlagwerk die Übermacht des jederzeit (mitunter auch nur unterschwellig) anwesenden Militärs und seinem totalen Machtanspruch. In der „Troika“ rückt der Bariton noch ein wenig weiter nach links und nach hinten, hat nun die vermeintliche Position des Saxophons endgültig erreicht. Die „Beerdigung“ klingt sehr expressiv und plastisch ausformuliert. Auch hier rückt die pointierte Wiedergabe die militärische Härte der Macht in den Focus.

 

 

4-5

Eduardo Mata

Dallas Symphony Orchestra

RCA

1982

3:52  3:55  2:31  2:41  6:02  19:01

Diese Einspielung verfügt über einen untypisch niedrigen Aufsprechpegel, was bedeutet, dass man den Pegel etwas erhöhen muss, wenn man eine vergleichbare Lautstärke erzielen möchte. Sonst wäre auch die Qualität der Aufnahme und damit auch der musikalischen Darbietung nicht mit dem gleichen Maß zu messen. Wenn alles stimmt hört man jedoch eine sehr transparente, dynamische und farbige Darbietung mit einer guten Staffelung des Orchesters. Die Orchestergruppen und die Soli sind sogar besonders trennscharf abgebildet. Die Gran Cassa kommt zu ihrem Recht. In der „Romanze“ erklingen die beiden traurigen und verunsicherten Vögelchen Cello und Viola sehr ausgewogen, das Blech klingt knackig, die Darstellung wirkt gefühlvoll. Die „Hochzeit“ beginnt mit einem sehr flotten, lebendigen Allego fastoso (prachtvoll). Mata fördert hier eine pointiert scherzohafte Darstellung mit deftigen Akzenten. Das virtuose und geschmeidig agierende Orchester wirkt keineswegs vordergründig. Es klingt deutlich geschlossener und brillanter als das zuvor gehörte Orchestre National de France mit Lorin Maazel. Die Kutschfahrt der „Troika“ wirkt wieselflink, als würde sie von einem Elektomotor angetrieben und nicht von galoppierenden Pferden. Die Soli der Bläser wirken hellwach und engagiert. Die „Beerdigung“ ähnelt der Darstellung Marriners zuvor, wirkt aber noch ein wenig brillanter und das Orchestergeflecht mit seinen feinen Verästelungen in besonderer Weise durchhörbar. Damals wollte man das Orchester erklärtermaßen zur Weltspitze führen. Bereits zum Zeitpunkt der Einspielung muss das Orchester aber bereits eines der besten Amerikas gewesen sein. Heute hört man nicht mehr viel von ihm.

 

 

4-5

Enrique Batiz

London Phiharmonic Orchestra

EMI

1982

4:10  4:41  2:42  3:02  6:11  20:46

Der Klang insbesondere der Violinen wirkt hier etwas hart, ansonsten jedoch durchaus plastisch, dynamisch und frisch, räumlich und brillant. Das Kornett ist mit einer gelungenen Fernwirkung versehen. Die Gran Cassa und ihr Spieler haben viel zusammen geübt, denn das kanonenhafte Knallverhalten wirkt hier besonders deutlich nachempfunden und authentisch, fast zum verwechseln, jedoch nicht ganz so markerschütternd wie bei Abbado oder Reiner. In der „Romanze“ klingt die Solobratsche ungleich präsenter als das Solocello, die Celesta klingt wunderbar schwebend. Der Liebeskummer wirkt „rührend“, es kommen einem fast die Tränen, d.h. es wird ganz schön übertrieben. Das Orchester zeigt seine Klasse, diesmal ist die Produktion gut vorbereitet worden, mitunter wirken Batiz´ Dirigate schon einmal wie „Schnellschüsse“. Bei der Hochzeit dürfen sich das Blech und die Gran Cassa austoben. Auch das Becken zu Beginn wird ohne Rücksicht auf Verluste geschlagen. Wuchtig, lärmend, deftig. Das Saxophon nimmt es mit dem espressivo nicht besonders genau, es bleibt ziemlich „cool“, während um es herum mit krachendem Frohsinn gefeiert wird.

Die Kutschfahrt klingt sehr pointiert. Der plastische Schellenklang steht an vorderster Front, die Glöckchen der Pferde imaginierend. Das Tempo wirkt gemäßigt. Die „Beerdigung“ profitiert von Batiz´ scharfem Auge, mit dem er auf die Nebenstimmen achtet. Hier phrasiert er sehr ruhig, sodass sich eine gewisse gleichgültige Kälte breit macht, was doch gut zum friedhöflichen Ambiente passt.

 

 

4-5

Neville Marriner

London Symphony Orchestra

Philips

1980

4:19  4:30  2:45  2:44  6:06  20:24

Marriners Aufnahme wirkt klanglich sehr ausgewogen, klar, volltönend und warm. Dynamisch gibt es eruptivere Einspielungen, die mehr überrumpeln, trotzdem wirkt die Einspielung keinesfalls eingeebnet. Marriner lässt diesbezüglich einfach die „Kirche im Dorf“. Das LSO wird auch hier seinem ausgezeichneten Ruf gerecht und nimmt die Sache genauer als Previn drei Jahre zuvor. Mit Sargent klingt es jedoch noch liebevoller, offener und räumlicher und dynamischer, obwohl diese Aufnahme 20 Jahre älter ist.

Das Kornett überrascht dieses Mal mit einem leicht zittrigen Vibrato, als ob ein Soldat gerade seinem Nebenverdienst als Musiker nachgeht, oder noch nicht ganz wach ist. Die Basstrommel ist durchschlagskräftig. Die „Geburt“ wirkt bei Marriner stimmungsvoll. Ab Zi. 10 Andante wirkt es, als ob sich Unheil ankündigt, eine Stimmung, die sich ab Zi. 13 wieder verflüchtigt. Das Orchester wirkt eine Klasse besser als das Orchestre National de France unter Maazel gerade zuvor. Das Kornett am Ende des Satzes ist nun wach, das Vibrato wie weggeblasen, der noch unsichere Rekrut findet sich nun in der Welt des Militärs zurecht.

In der „Romanze“ spielt das Cello sein Solo ohne absichtliche Intonationsmängel, aber doch extrem zurückgenommen, die Viola intoniert in perfekter Äquilibristik. Die Grundhaltung bei Marriner wirkt in diesem Satz auffallend gelassen, leicht und locker. Von „Liebeskummer“ lässt man sich doch im britisch „distinguierten“ London nicht aus der Bahn werfen. Sehr schön gespielt und ausdrucksvoll ist es trotzdem. Auch die „Hochzeit“ kommt ohne dynamische Hysterie aus. Überhaupt wirkt die Darstellung geerdet und sie ist wenig auf Satire aus. Rein musikalische Werte wie minuziöse Beachtung der Partitur, perfekte Transparenz der Stimmen, sorgfältige Artikulation und Phrasierung sind jedoch selbstverständlich bei Marriner. Gutes Beispiel dafür in der „Troika“: das Fagott ist exakt genauso laut wie das sonst so oft führende Saxophon im gemeinsamen Duo. Satz fünf ist enorm detailreich, die Violinen klingen bestechen rund, expressiv und sagenhaft klar. Im Gestus wirkt er allerdings fast zu „normal“ und gemütlich, immerhin wird doch ein (wenn auch leerer) Sarg beerdigt. Marriners Einspielung ist jederzeit angenehm zu hören, obwohl viele Details, besonders die feinen, gut dargestellt werden, mindert er die Schärfen des Stückes doch spürbar ab. Manch einem Prokofjew-Verächter dürfte gerade das aber besonders gefallen.

 

 

4-5

Yuri Simonov

Royal Philharmonic Orchestra London

Membran

1996

4:25  5:01  3:00  2:56  6:06  21:28

SACD Im 1. Satz lässt Simonov ein RPO in Bestform von der Leine und dieses scheint mit Spaß dabei zu sein. Die fff Kanonenschläge der Gran Cassa Zi. 6 ff und Zi. 9 ff sind markerschütternd. Ob da nicht das echte Militär zugegen war? Im der „Romanze“ wirken die Soli inspiriert, aber die Tiefe bei der Einspielung des zuvor gehörten Sargent wird nicht erreicht. Die „Hochzeit“ wirkt sehr kontrastreich und schön lärmend. Auch die „Troika“ wirkt als Wechselbad in Dynamik und Klangfarben. Die „Beerdigung“ wird prall dargestellt, wobei hier eher die komisch-sarkastischen Züge der Musik betont werden.

Die Dynamik der Einspielung ist ausladend, fast schon brutal, im Mehrkanal-Modus nochmals gesteigert. Fünf Lautsprecher entfachen einfach noch mehr davon als nur zwei. Die Präsenz ist ausgezeichnet. Die Basskraft ist enorm, insbesondere wenn die martialische Gran Cassa involviert ist.

 

 

 

4

Neeme Järvi

Scottish National Orchestra

Chandos

1990

4:13  4:28  2:56  3:00  6;06  20:43

Wie so oft bei Chandos in den 80er und 90er Jahren wirkt auch hier der Klang der Einspielung leicht hallig. Die räumliche Anmutung wirkt zwar besonders weit und die Tiefenstaffelung und Transparenz befriedigen auch hohe Ansprüche, die Präsenz könnte jedoch etwas besser sein und die Klangfarben weniger kristallin und hart. Die Gran Cassa bringt ihr fff nur relativ leise zu Gehör, die entfesselten Schotten an Streich- und Blasinstrumenten übertönen sie sogar fast.

Die Viola deckt das Cello in der „Romanze“ fast gänzlich zu. Die Balance könnte also hier etwas ausgewogener sein, obwohl sie wahrscheinlich genau so beabsichtigt war. Der Verlassene ist ja meist der kleinlautere und der Verlassende der lautere von beiden Partnern. Die Lautstärkebezeichnung in der Partitur fordert jedoch, dass beide gleich laut zu spielen haben. Der Gestus vermittelt sich im weiteren Satzverlauf lange nicht so detailliert wie beim kurz danach gehörten Jurowski, ohne deshalb aber oberflächlich zu wirken. Die „Hochzeit“ beginnt bei Järvi senior besonders knallig. Das Kornett 4 T. nach Zi. 27 wird nicht p und auch nicht con grazia geblasen. Generell wird dynamisch und artikulatorisch weniger differenziert. Das f  bei Zi. 34 wirkt ebenfalls knallig.

Der Moderato-Teil der Troika wird schneller genommen als üblich, dafür das Allegro con brio langsamer.(!) Die Dynamik bewusst grobschlächtig. Und das passt hier sogar sehr gut ins Bild. Insgesamt wirkt der Satz lärmend. Im 5. Satz, der „Beerdigung“ spielt das Kornett nicht ganz sauber. Die Militärtrommel wird dagegen stets besonders stark akzentuiert. Die Phrasierung in diesem Satz wirkt auffallend deutlich, besonders auch gegenüber den anderen Sätzen. Trotz kleinerer instrumentaler Mängel erscheint uns dies der beste Satz in der Einspielung Neeme Järvis zu sein. Järvis bisweilen ans Vulgäre (das ist fast schon zuviel gesagt) reichende Drastik bringt das Groteske der Suite gut heraus. Ein etwas gleichmäßigeres Gelingen der einzelnen Sätze und das nicht ganz höchstklassige Orchester verhindern eine noch bessere Bewertung.

 

 

4

Paavo Järvi

Cincinnati Symphony Orchestra

Telarc

2007

4:15  4:18  2:45  2:38  6:10  20:06

Paavo Järvis Zugang ist ein von seinem Vater deutlich zu unterscheidender. Das beginnt schon mit dem viel cantableren, weicher intonierten Kornett. Bereits bei ZI. 2, eigentlich ein ppp werkelt die Basstrommel bereits mit elementarem Tiefgang und recht wuchtig. Hier wäre mehr Zurückhaltung angebracht gewesen. Der Unterschied zu Zi. 6, nun ist ein fff gefordert (wie Kanonenschüsse) ist nun eingeebnet, aber die Kanone wirkt trotzdem ziemlich realistisch. Doch nicht so gewaltig und lange nicht so druckvoll und vehement und darum weniger ausdrucksvoll als bei Abbado oder Reiner. In der „Romanze“ ist, genau wie beim Vater die Viola lauter als das Cello. Auch hier spielt das ganze Orchester cantabler als das SNO beim Vater. Hier wird tatsächlich echter Liebesschmerz ausgedrückt, während Neeme das viel skurriler sieht. Auch bei der pompösen „Hochzeit“ sucht Paavo die Feinzeichnung. Es wirkt lange nicht so lärmend wie bei Neeme. Die absteigenden Streicherläufe der einzelnen Gruppen nach Zi. 35 werden nicht bruchlos durchgezeichnet.

Bei der „Troika“ sind die Relationen zwischen Moderato und Allegro con brio gegenüber Neeme wieder zurechtgerückt.  Immer wieder hören wir hier geschmeidige, brillant einstudierte Abläufe hören. Der Ausdruck beim Vater wirkt jedoch viel bodenständiger und burschikoser. Beim Sohn dominiert der Wille zur Perfektion. Auch im 5. Satz gelingt das Übereinanderschichten der verschiedenen Themen beim Vater viel plastischer (ab Zi. 61), Beim Sohn hört man aber erheblich saubereres Orchesterspiel.

Neeme macht die Satire deutlicher, während Paavo eher ein Anhänger der leisen Ironie zu sein scheint und mehr das elegante Charakterstück darzustellen sucht.

 

 

4

Charles Dutoit

Orchestre Symphonique de Montréal

Decca

1990

3:56  4:17  2:33 2:43  5:29  18:58

Der Klang dieser Einspielung wirkt transparent und natürlich wie in einem guten Konzertsaal. Allerdings sitzt man nicht auf dem besten Platz, sondern etwas weit von der Bühne entfernt. Das Orchester wirkt so etwas zurückgesetzt, seltsamer Weise besonders die eigentlich vorne platzierten Streicher und dabei in erster Linie die Violinen. Eder Gesamtklang wirkt weich und schmiegsam, gut gestaffelt und recht dynamisch. Die Balance innerhalb des Orchesters erscheint ausgewogen. Gegenüber Reiner, Sargent oder Abbado, aber auch Dorati, Rossi oder Temirkanov II fehlen dem Klang die Abbildungspräzision und eine knackige Präsenz.  Alles fließt ein wenig zu sehr ineinander, wie bei einem Bild des Impressionismus, gerade so sehr, um die Darstellung zu verunklaren. Ausnahme ist die Militärtrommel, die aber eine eigene Hallaura hat, die nicht zum Rest des Orchesters passen will, als ob sie alleine aufgenommen wäre und danach in den Gesamtklang eingefügt worden wäre. Musikalisch gehen Dutoit und das gut eingestellte Orchester sorgfältig vor. Die Qualität des Spiels ist enorm. Bei den Gran Cassa in der „Geburt“ vermisst man die Durchschlagskraft des erhabenen Kanonendonners der Abbado-Einspielung. Die Solisten musizieren auch in der „Romanze“ sinnlich, zum matten und fahlen Cellosolo passt die Bratsche sehr gut. Nach dem Erklingen der bestechend schön und schwebend eingefangenen Celesta schöpft bei Dutoit das Cello Hoffnung und klingt dann fester, stabiler und zuversichtlicher. In den Sätzen 3 und 4 werden das Holz und vor allem das Blech zu sehr in den Gesamtklang integriert, darin der zuvor gehörten Einspielung Doratis völlig diametral entgegenstehend.  Das exponierte ausgesprochen klare Horn-Solo im 5. Satz ab Zi. 57  klingt allerdings schon wieder nach f als nach dem geforderten mp.

Das Orchester klingt wie auf eine frisch geölte Art sehr virtuos, wobei die schönfärberische Aufnahmequalität noch etwas Weichzeichner drüberlegt. Die Geläufigkeit ist zwar staunenswert, wirkt aber auch etwas zu glatt und zu sehr auf Schönklang bedacht. So fehlen im Spiel aber auch die Ecken und Kanten, die für die Darstellung des grotesken Handlungsverlaufs erforderlich wären. Ein frankokanadischer Kijé also, dem man die kultivierten, ja eleganten Umgangsformen nicht so recht zutraut und abkaufen will.

 

 

4

Serge Koussevitzky

Boston Symphony Orchestra

Magic Talent

1937

4:24  4:34  2:49  2:29  6:08  20:24

MONO Die mit Abstand älteste Einspielung des Vergleiches, übrigens mit sehr geringem Rauschen versehen, irritiert zunächst mit einem stark verzerrten Kornett. Das ändert sich jedoch sehr schnell zum Besseren. Die Streicher klingen präsent, Piccolo und Oboe sogar sehr präsent. Dennoch ist die im Ganzen historisch wirkende Klangqualität nur mit großen Abstrichen genießbar. Die Gran Cassa klingt quasi körperlos und einfach nur ganz flach. Dennoch wirkt der 1. Satz intensiv gespielt, das Piccolo dabei sogar richtig pfiffig.

In der „Romanze“ ist das Cello-Solo geplagt wie ein Wolgaschlepper, so schwer wie dieser ziehen muss, ist das Cello vom Schicksal geplagt. Es dominiert das Duo mit der Bratsche deutlich. Als es dann ein espressivo auflegen darf, geht es ihm gleich wieder besser. Das Saxophon im Duo ist sehr gut zu hören, das Fagott hingegen fast nicht. Die Begleitfiguren sind bisweilen ganz verschwunden.

Die „Hochzeit“ bekommt vom russischstämmigen Dirigenten auch eine sehr stark kontrastiernde Dynamik mit, durchaus deftig. Jedoch wirkt der Satz insgesamt für die damalige Zeit leicht und locker gespielt, ohne aber wie dies bei Dutoit auffällt, ins Glatte abzudriften. Die schnelle, vorantreibende Kutschfahrt im 4. Satz  gefällt mit fröhlichem Schellengeläut. Die wichtigsten Soli kommen präsent und sehr ausdrucksvoll. Die „Beerdigung“ klingt erstaunlich vielschichtig und transparent. Auch hier eulenspiegelt sich Kijé keck und recht lebendig durch die Trauergesellschaft. Nur fünf Jahre nach der Uraufführung könnte dies die erste westliche Einspielung des Werkes sein.

 

 

4

Andrew Litton

Bergen Philharmonic Orchestra

Andrei Bondarenko

BIS

2012

4:16  4:03  2:42  2:47  5:32  19:20

SACD Ähnlich der Einspielung Dutoits wirkt auch die aus dem norwegischen Bergen stammende Littons sehr kultiviert im Orchestralen. Sie wirkt jedoch fülliger im Gesamtklang. Sehr transparent ist sie aber auch, jedoch deutlich dunkelfarbiger. Das Klangbild ist sowohl ziemlich breit als auch weit in die Tiefe reichend. Auch hier wirken die Violinen etwas entfernt. Was nachteilig auffällt ist die fehlende Spritzigkeit. Auch die Dynamik wirkt eingeengt. Für eine so neue Aufnahme wirkt sie sogar wie eingeebnet.

Litton exponiert die Piccoloflöte gut, es pfeift aber lange nicht so herrlich penetrant und nervig wie bei Temirkanov II. Die Gran Cassa klingt wirklich gut, aber zur Imagination von Kanonanschlägen wie es bei Abbado so fulminant gelingt, fehlt noch einiges.

Der Bariton in der „Romanze“ singt sein Liedchen mitleiderregend, aber auch etwas schmalzig, so wie es damals vielleicht die Folkloresänger gemacht haben könnten. Durch seinen eher leichten und beweglich wirkenden Bariton wird das Orchester, auch dank einer aufmerksamen Aufnahmeleitung, nicht zugedeckt.

Die „Hochzeit“ wirkt viel weniger „fetzig“ als beim zuvor gehörten Leinsdorf. Das Schlagwerk agiert sehr zurückhaltend. Die Streicher phrasieren betont exakt. Auch die Artikulation bleibt etwas zu brav. Satirische Übertreibung hört man bei Litton nicht. Leinsdorf war da viel deutlicher. Im 4. Satz wirkt des Sängers Vortrag sehr anschaulich. Das Begräbnis wirkt nur mäßig inspiriert. Die Streicher verlieren bei den komplizierteren Passagen etwas von ihrer gewohnten vollmundigen Konsistenz. Insgesamt eine solide Darstellung auf einem klanglich und orchestral hohen Niveau, die aber nicht überraschen kann. Der Sänger darf als Aktivposten gelten.

 

 

4

André Previn

London Symphony Orchestra

EMI

1974

3:58  4:16  5:51  2:51  5:30  19:26

André Previn hat die Suite zwei Mal eingespielt. Dieser Londoner folgte 1987 eine weitere mit der Philharmonikern aus Los Angeles, deren Chefdirigent er damals war. Die Londoner gefällt uns in allen maßgebenden Belangen besser. Das Klangbild verbindet einen vollen, warmen Sound mit Transparenz, einer natürlich wirkenden Räumlichkeit und schönen Klangfarben. Die Dynamik ist gut aber nicht herausragend. Previns Herangehensweise lässt dem Orchester einige Freiheiten, was sich in einem weniger präzisen Spiel bemerkbar macht. Klingt der 1. Satz noch stimmig und klangmächtig, im zweiten dann das Cellosolo noch schön schmachtend, kommt die Viola bei ihrem (1 T. vor Zi. 16) ganz aus dem Tritt. Das Malheur hätte doch leicht korrigiert werden können, das machen andere doch auch. Dass es hier unterblieben ist, zeugt von  einer gewissen Nonchalance der Verantwortlichen. Auch der Ausdruck in diesem Satz hätte besser auf den Punkt gebracht werden können. Bei der „Hochzeit“ macht das Orchesterspiel hingegen wieder mehr Freude. Der Gestus ist hier leichter und lockerer. Das schwere Blech prononciert und exponiert seine Stimmen besonders prägnant. Auf sie ist anscheinend immer Verlass. Auch wenn es hier mitunter um (inhaltliche) Banalitäten geht. Die Kutschfahrt der „Troika“ erfolgt im mäßigen Tempo. Im Duo mit dem Saxophon kann sich das Fagott sehr gut behaupten. In der „Beerdigung“ wird die polyphone Schichtung der Themen sehr aufmerksam dargestellt, wobei man ansonsten das Gefühl hat, dass es Previn einfach zügig laufen lässt. So leicht und locker, dass es fast schon komisch wirkt, angesichts der Umstände.

▼ eine weitere Aufnahme des Dirigenten weiter unten in der Liste

 

 

 

3-4

Tugan Sokhiev

Deutsches Sinfonieorchester Berlin

Sony

2016

4:34  4:34  2:56  2:55  6:04  21:03

Der Klang der neuesten Einspielung des Vergleiches wirkt breitbandig, farbig, gut gestaffelt und er verfügt über einen satten Bassbereich. Jede Härte ist ihm fremd. Angesichts einer so neuen Einspielung könnten die einzelnen Instrumente bzw. Orchestergruppen jedoch deutlich trennschärfer abgebildet werden. Die 56 Jahre ältere Aufnahme Sargents bietet da deutlich besseres, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Gran Cassa im ersten Satz klingt jedoch imposant, das Orchester spielt sauber, aufmerksam und souverän. Was man aber in diesem Satz schon bemerkt ist, dass der Ausdruck seltsam neutral wirkt, die Jugendlichen heute würden wohl so etwas wie „gesoftet“ dazu sagen. Ohne Spannkraft. Auch der 2. Satz klingt ohne persönliche Note. Die „Hochzeit“, auch wieder schön klingend gespielt, beginnt ohne herbe oder prächtige Akzente, wirkt so auch kaum bombastisch übertrieben. Der Vortrag kommt mit weniger starken Kontrasten aus und wirkt irgendwie lasch. Einen Einschlag ins feucht-fröhliche, wie in den russischen Produktionen, vermisst man hier auch. Es soll vielleicht jedem Klischee des Banalen oder volkstümlich-russischen vorgebeugt werden, aber so wirkt es doch allzu gediegen. Die „Troika“ zeigt ein ähnliches Bild, solistisch feingeschliffen, das ganze Orchester ebenfalls, aber im Ausdruck zurückhaltend. Keine Übertreibung, keine Zuspitzung.

Auch bei der „Beerdigung“ überzeugt das Orchester auf ganzer Linie (hervorragendes Horn-Solo, weiche, sinnliche Violinen), der Beginn wirkt gedehnt und auch am Ende wird unser, wenn auch nur imaginärer Hauptdarsteller hier etwas zu sang- und klanglos verabschiedet.

 

 

3-4

Andrew Mogrelia

Tschechoslowakische Staatsphilharmonie Kosice

Naxos

1989

4:07  4:44  2:54  2:55  6:12  20:52

Auch in dieser Einspielung wirkt die Suite transparent. Der Orchester wird auch hier gut gestaffelt und dynamisch dargestellt. Der letzte Schliff fehlt dem Klang jedoch und die Brillanz der Besten fehlt ebenfalls. Im Gegensatz zur Einspielung Sokhievs ist die Ortungsschärfe geglückt. Das Orchester hat die Musik gut erarbeitet und zeigt eine sehr respektable Leistung. Die Gran Cassa im ersten Satz wirkt angemessen eruptiv.  Im 2. Satz  wirken die Soli von Cello und Viola im verträumt wirkenden Andante klanglich etwas dünner als gewohnt, aber ausdrucksvoll. Das langsamere Tempo lässt den Ausdruck echter wirken als in den mehr ironisch gebrochenen Versionen. Das Ende des Satzes wirkt sogar ersterbend. In der Hochzeitsmusik ist ab Zi. 27 keinerlei animato zu spüren. Auch die Kutschfahrt während der „Troika“ wirkt ziemlich gezügelt. Im 5. Satz, der „Beerdigung“, steigert das langsamere Tempo den trauerumwölkten Gestus deutlich. Das espressivo der Violinen ab Zi. 60 wirkt sanft gebrochen und nicht so ausgereizt wie sonst. Diese Gestaltung des Satzes macht einen zutreffenden und sympathischen Eindruck, sogar mit „echtem“ Trauerflor versehen. Allerdings mangelt es den Violinen in den diffizileren (schnelleren) Passagen dann doch deutlich an Homogenität.

 

 

3-4

Jean-Claude Casadesus

Orchestre Philharmonique de Lille

Harmonia Mundi, später auch Naxos

1994

4:07  3:54  2:40  2:45  5:26  18:52

Das Orchester in dieser Einspielung wirkt etwas zurückgesetzt, was die Transparenz etwas reduziert. Es klingt aber recht gut gestaffelt und gut aufgefächert, recht dynamisch, aber klanglich nicht so brillant wie zum Beispiel das LPO beim zuvor gehörten Batiz. Die „Schüsse“ der Gran Cassa klingen im ersten Satz wie aus weiter Ferne, daher auch ohne große Durchschlagskraft. Die Trompeten spielen hingegen agil.  Im 2. Satz ist eine gute Äquilibristik zwischen Cello und Viola gewährleistet. Das calando ist nur marginal zu spüren, es sollte so wirken, als lasse man sich fallen, es sollte also in Dynamik und Tempo deutlicher herauskommen, wie es in anderen Einspielungen ja auch zu hören ist. So, als werde man schwindelig oder hätte einen kleinen Schwächeanfall. Vorbildlich hier: Dorati. Die „Hochzeit“ könnte prunkvoller oder prächtiger beginnen. Den Nebenstimmen fehlt mitunter die wünschenswerte Präsenz. Die Dynamik könnte ausladender wirken. F und p liegen zu dicht beisammen. Insgesamt wirkt der Satz aber immer noch erheblich frischer als bei Alsop.

Auch bei der „Beerdigung“ ist die Präsenz der Nebenstimmen allzu zurückhaltend. Die Piccoloflöte ist hier exponiert, die Trompeten jedoch zu nebensächlich. Man spürt hier keinerlei Überzeichnung, da hilft die Piccoloflöte allein dann auch wenig. Insgesamt ist diese Einspielung etwas zu brav geraten.

 

 

3-4

Lorin Maazel

Orchestre National de France

CBS - Sony

1981

3:46  4:17  2:59  3:02  5:40  19:44

In Paris klingen die Bläser von weit hinten und im ff wirkt der Orchesterklang leicht verwischt und unklar. So fehlt es hier an der für die geniale Instrumentation des Werkes so typischen Transparenz und Trennschärfe. Ansonsten fehlt es auch an der von (fast allen)  anderen Orchestern bekannten Strahlkraft und Brillanz. Das liegt nicht nur an der Technik, sondern auch am Orchester selbst, dem es auch an der nötigen Präzision im Zusammenspiel fehlt. Das ist angesichts der als besonders präzise bekannten Schlagtechnik des Dirigenten seltsam. Vielleicht wurde einfach zu wenig geprobt? Das Kornett zu Beginn klingt noch sehr schön, aber schon der erste Einsatz der kompletten Streicher 2.T. nach Zi. 3 klingt wattiert und unpräzise, nur knapp am wabbeligen vorbei. Die „Kanonenschüsse“ der Gran Cassa  wirken dumpf und wenig bedrohlich. In der „Romanze“ wird das Duo von Cello und Viola ganz klar von der Viola dominiert. Im Zusammenspiel von Flöte und Saxophon (Zi. 18) deckt das Saxophon die Flöte teilweise zu. Während der „Hochzeit“ ist der Bläsersatz ab Zi. 27 ziemlich unsauber, die Begleitfiguren wenig profiliert. Ansonsten herrschen aber akkurate dynamische Verhältnisse. Maazel scheint jedoch bestrebt, die Banalitäten etwas abzumildern statt sie offensiv zur Geltung zu bringen. Die Wirkung ist ein eher flauer Gesamteindruck des Satzes. Die abwärts gerichtete Figuration, die durch alle Streichergruppen von oben nach unten, quasi durchhuscht (ab 4. T nach Zi. 35 ff bzw. ab Zi. 37) wirkt undeutlich, bereits ab der Violengruppe und verschwindet dann ganz. Der „Troika“ mangelt es an Charakter. Die „Beerdigung“ wirkt insgesamt beiläufig, ein gewisser Ausdruck scheint nicht angestrebt worden zu sein. Lediglich eine störungsfreie technische Realisierung. Nicht jedem gefällt es auf dem Friedhof, verständlich, aber hier nicht gerade professionell.

Die Suite als ganzes wirkt bei Maazel sehr distanziert, die orchestrale und technische Realisierung gelingt nur mittelmäßig.

 

 

 

3

Marin Alsop

Sao Paulo Symphony Orchestra

Naxos

2016

4:14  3:40  2:33  2:38  5:21  18:26

Die mit der Sokhiev-Einspielung zusammen neueste Produktion klingt sehr klar und trennscharf, aber dynamisch stark nivelliert. Der Gesamteindruck ist somit ein besonders unbrillanter, gedeckter. Die Streicher ab T. 2 nach Zi. 3 klingen viel zu leise und schlaff (mf) gegenüber den Oboen, Klarinetten und Trompeten (pp). Ähnlicher Sachververhalt bei 5 T. nach  Zi. 5: Das ff der Bläser klingt absolut genauso laut ihr p. Das fff der Gran Cassa ist so schwach, dass man es im Vergleich als schwindsüchtig bezeichnen muss. Bei Zi. 9 furioso ist dieses gar nicht zu bemerken. Der ganze Satz entbehrt jeder grotesker Wirkung. Im Deutschaufsatz hieße das am Ende: Schön gespielt, alle Noten getroffen aber völlig am Thema vorbei. Hier spielt sich die „Geburt“ von Kije wie unter vorgehaltener Hand ab. Keiner darf was davon mitbekommen. Das wäre noch ein netter Interpretationsansatz, der Wutausbruch des Zaren klingt jedoch wie ein Stürmchen im Wasserglas. Hier wirkt auch der Imperator wie ein Schwächling, vor dem sich niemand fürchten muss. So käme die ganze Geschichte gar nicht erst ins Rollen.

Diese Tendenz zieht sich durch alle Sätze. Immerhin kommen die Soli meist gut zur Geltung. Das Cello und die Celesta spielen sogar ausdrucksstark, ebenso teilweise Flöte und Tenorsaxophon. Bei Zi. 21 ist erneut keinerlei Unterschied von p und mf zu hören.  Bei Zi. 23 klingt das Flötensolo allerdings gespielt wie für´s kleine, stille Kämmerlein. Die „Hochzeit“ erscheint viel zu behutsam gespielt. Bei Zi. 34 hebt sich das f erneut überhaupt nicht vom p ab. So platt gewalzt klingt die Dynamik noch nicht einmal in den Mono-Oldies. Ganz im Gegenteil. Die „Troika“ ist nur schnell, hat aber überhaupt kein Brio. Die Cellogruppe  bleibt bei Zi. 44 seltsam blass. Die Posaunen klingen bar eines echten Staccato wenig impulsiv.

Insgesamt scheint das Orchester aus Brasilien keine gute Wahl für dieses Werk gewesen zu sein. Die Bemühungen der Dirigentin, falls es sie gab, eine kontrastreichere, lebendigere Darstellung zu erzielen, fallen, wenn wir unseren Ohren trauen dürfen, auf keinen fruchtbaren Boden. Man spielt zwar alle Noten, ein darüber hinausgehendes Verständnis ist jedoch nicht zu bemerken. Ohne jeden Witz, ohne auch nur einen Hauch der Doppeldeutigkeiten zu offenbaren, mogelt sich die Musik dahin. Blass wie eine Karteileiche. Insofern hat sie vielleicht doch ihre Berechtigung, diese Einspielung, die übrigens als Teil einer Gesamteinspielung aller Sinfonien in den Handel kam. Nach der Einspielung Abbados gehört, ergab sich so oder so ein denkbar herber Rückschlag.

 

3

André Previn

Los Angeles Philharmonic Orchestra

Telarc

1987

4:01  4:14  2:59  2:50  5:51  19:55

Die zweite Einspielung André Previns stand unter keinem guten Stern. Insbesondere hat sie ein großes Balance-Problem. Glaubt man dem zu hörenden Ergebnis der Aufnahme, haben sich fast alle Instrumente auf der rechten Seite eingefunden, während die linke fast total verwaist erscheint. Das hat auch gravierende Auswirkungen auf Staffelung und Transparenz. Im ff wird der Gesamtklang zudem auch noch zunehmend dick und klanglich spröde. Nur wenn wenige Instrumente spielen klingt es voll und transparent. Der Komposition und ihrer klaren Instrumentierung wird so ein schlechter Dienst erwiesen. Den aufführenden Musikern natürlich auch. Die Gran Cassa klingt allerdings knochentrocken und mit dem gehörigen Druck. Sie ist aber damit auch das Beste an der gsnzen Aufnahme. Im 2. Satz, der im Prinzip feinfühlig gestaltet wird, fehlt z.B. ab Zi. 15 die komplette Stimme der Violen. Beim normalen Hören sind sie einfach verschwunden, nur wenn man, stutzig geworden, nochmals nachhört bemerkt man, dass sie doch nicht gestreikt haben, sondern ganz diffus und leise mitspielen. Ihre fließende Bewegung ist in allen anderen Einspielungen sehr gut zu hören, denn die Violinen, denen sonst meist die höhere Aufmerksamkeit zukommt, spielen hier gar nicht mit. Arbeitsverweigerung der Bratschen der subtileren Art also? Auch im weiteren Verlauf bleiben etliche Begleitfiguren undeutlich, die Herangehensweise zaghaft (Zi. 16).  Die „Hochzeit“ wirkt müde und lärmend. Sollte unser Held der Ehe etwa schön überdrüssig  sein, bevor sie überhaupt begonnen hat? Die „Troika“ erklingt ohne Biss, fast lustlos. Bei der „Beerdigung“ wirkt der Reichtum der Instrumentation merklich ausgedünnt. Über weite Passagen will sich erst gar kein „Kijé-Feeling“ einstellen. Der Satz wirkt allzu beiläufig. Wenn man André Previn auf seine recht lockere Art mit dieser Suite hören möchte, dann sollte man unbedingt zur älteren Einspielung mit dem LSO greifen. Darauf hört man jedenfalls noch den „ganzen Prokofjew“, der eigentlich auch hier drin sein sollte.

 

 

13.11.2021