Felix Mendelssohn – Bartholdy
Sinfonie Nr. 5 D-Dur/d-Moll op. 107
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Werkhintergrund:
Das Vorurteil ist eine der größten Erfindungen des menschlichen Geistes. Es spart Zeit und schont die Augen. Ob sich das Präjudiz dabei aus einem negativ-hasserfüllten Reservoir („man sollte sie alle...“) oder aus einer nur scheinbar positiven Euphorie („das ist das tollste überhaupt...“) nährt, ist egal. Beiderseits paaren sich mentale Magersucht und bornierte Bequemlichkeit mit der tiefen Sorge, man könnte bei näherer Inspektion etwas aufspüren, das die eigene kleine Welt ins Wanken bringen könnte oder gar ins Chaos stürzen.
Im Laufe der bisherigen Geschichte erging es dem Werk Mendelssohns häufiger so, damals bei der zeitgenössischen Musikkritik, zwischendurch bei den Nazis und fast die ganze Zeit hindurch bei der Musikwissenschaft. Auch die 5. Sinfonie kam dabei nicht gut weg (wie wir meinen zumeist wegen Vorurteilen) und sogar beim Komponisten selbst fiel sie letztlich durch, was aber mehr den unglücklichen Umständen als ihrer eigentlichen Qualität anzulasten gewesen sein dürfte.
Die Sinfonie entstand im Winter 1829/1830 als zweite der fünf Sinfonien Mendelssohns. Da der Komponist später von seinem Werk abrückte, erschien die Sinfonie erst 1868 posthum im Druck. In einem Brief an Julius Rietz vom 11. Februar 1838 schrieb er: „Die Reformationssinfonie kann ich gar nicht mehr ausstehen, möchte sie lieber verbrennen als irgend eines meiner Stücke; soll niemals herauskommen“. Der zeitgenössischen Kritik missfiel, dass die Ecksätze „mehr kunstvolle Arbeit als Inspiration“ zeigten, „zu viele Fugatos, zu wenig Melodie“ (Ernst Wolff: Felix Mendelssohn Bartholdy. Berlin 1906, S. 77 So argumentierte auch das Orchester des Pariser Konservatoriums, um sie nicht uraufführen zu müssen.
Vom Herausgeber erhielt sie daher die Nr.5, da die später entstandenen, „Italienische“ (1833), „Lobgesang“ (1840) und „Schottische“ (1842), bereits veröffentlicht waren.
Felix wird 1809 in Hamburg in eine bürgerliche, jüdische Familie geboren, die äußerst angesehen ist. Abraham und Lea Mendelssohn lassen indes ihre Kinder christlich erziehen und 1816 in der Folge ihrer Übersiedlung nach Berlin protestantisch taufen. Dem jungen Felix wird als zusätzliches Zeichen der religiösen Neuorientierung zum Familiennamen der christlich geprägte Name Bartholdy hinzugesellt. 1822 konvertieren die Eltern zum Christentum. Für den Komponisten, Dirigenten und Organisten erweist sich das familiäre "Berliner Bekenntnis" als wegweisend für seine Arbeit, sein Engagement und seine Ideen. Besonders manifest wird dies in der Entschlossenheit, mit der sich Mendelssohn Bartholdy für die Schöpfungen Händels und vor allem Johann Sebastian Bachs in die Bresche schlägt. 1829 organisiert der gerade 20-jährige eine Aufführung der praktisch vergessenen Matthäus-Passion Bachs in Berlin. Die Folge: eine Renaissance des großen Leipzigers bis in unsere Gegenwart, eine "Neuentdeckung der ureigenen lutherischen Musik".
Die Hinwendung zum Protestantismus wird, wie sich später zeigen wird den Namen und die Werke Mendelssohns nicht vor antisemitischen Anfeindungen durch das NS-Regime schützen. Daraus resultieren in der öffentlichen Wahrnehmung Irritationen, die den Komponisten und insbesondere seine Reformations-Sinfonie bis heute tangieren. Irritationen, die nicht zuletzt ihre Grundlage in unzureichenden Kenntnissen der Biographie Mendelssohns haben dürften. Heinz Walter Florin, Dirigent, Pianist und Komponist, führt denn auch die relativ geringe Zahl an Aufführungen der Fünften auf die verbreitete Unkenntnis von Werk, Wirkungsgeschichte und Vereinnahmung des Komponisten zurück. Nicol Matt, studierter Kirchenmusiker, ist einer derjenigen, die der Reformations-Sinfonie eine angemessene öffentliche Präsenz wünschen. Den Dirigenten und Leiter der professionellen Formation Chamber Choir of Europe befremdet es, "dass das Werk meist unterschätzt wird". Auch für ein säkular gestimmtes Konzertpublikum biete es keineswegs inhaltliche oder programmatische Vorbehalte. "Mendelssohn", betont Matt, "versteht sein kirchenmusikalisches Werk nie als Verkündigung im Gottesdienst, sondern als eigenständige Kunstwerke für den Konzertsaal und die Kirche." Das Dresdner Amen im ersten Satz etwa sei später auch von Wagner im Tannhäuser und im Parsifal (das Leitmotiv für den Gral, sogar in der Harmonie von Mendelssohn, wenn das mal kein Zeichen der geheimen Wertschätzung Wagners inmitten der massiven Geringschätzung ist!, Anmerkung des Verfassers) sowie von Mahler im Schlusssatz seiner 1. Sinfonie aufgegriffen, ferner auch von Bruckner in dessen 9. (oder /und der 3.?) Sinfonie verarbeitet worden.
Gegen die Annahme, die Reformations-Sinfonie könne als religiös verengte Programm-Musik missverstanden und abgelehnt werden, argumentiert auch Hermann Dechant, der österreichische Dirigent, Flötist, Musikwissenschaftler und Musikverleger: "Religion ist auch ein kulturelles Phänomen. Und gerade der Protestantismus ist aus Deutschland nicht wegzudenken." Insofern, sagt Dechant, von 1960 bis 1973 bei Joseph Keilberth und Eugen Jochum Soloflötist der Bamberger Sinfoniker, halte er die Aufführung der Mendelssohn-Komposition im Konzert "für gut und richtig". Keineswegs handele es sich um ein schwaches Werk, wie das hin und wieder Auguren wegen der religiösen Bezüge glaubten, feststellen zu müssen. "Die Sinfonie befindet sich mit ihren vier anderen Artgenossinnen durchaus auf Augenhöhe", unterstreicht Dechant.
Wir sind sogar der Meinung, dass, wenn man die kirchenmusikalischen Zitate im ersten und letzten Satz weglassen würde, wohl kein Hörer auf die Idee käme, es läge mit dieser Sinfonie ein sakrales Werk vor.
1847 verstirbt der Wegbereiter der deutschen Romantik Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig, in der Stadt, in der er seit 1835 die Leitung des Gewandhausorchesters innehat. Insbesondere dort kennt man praktisch keine Skrupel mit dem Werk. In den Konzertprogrammen des weltberühmten Orchesters sind zahlreiche Aufführungen unter namhaften Dirigenten verzeichnet. Darunter alleine in den letzten Jahren Marek Janowski, Sir Roger Norrington, Philipe Herreweghe und Riccardo Chailly (leider keine CD-Aufnahme!). Kurt Masur nimmt das Werk insgesamt zwei Mal auf Tonträger auf. Das zweite Mal im September 1989, wenige Wochen vor dem Zerfall der DDR. Auch bei einem Gastspiel des Gewandhausorchesters 2007 im Vatikan anlässlich des 80. Geburtstags von Papst Benedikt erklingt Luthers sinfonisches Denkmal. Ein später Ritterschlag, wenn man so will.
Von den fünf Sinfonien des Komponisten, mit dem viele auch heute noch vor allem sein Violinkonzert e-Moll und seine Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum verbinden, gehören jedoch bis heute nur zwei zum Repertoire des heutigen Konzertbetriebs, die Italienische und die Schottische. Dann und wann findet sich auch seine Lobgesang benannte Komposition in den Programmen von Philharmonien und Konzertsälen. Sie erinnert mit ihren drei Instrumentalsätzen und einer Kantate über Bibelpassagen als viertem Satz in der Struktur an Beethovens Neunte. Völlig anders dagegen verhält es sich mit der ominösen Fünften, die in den Ecksätzen mit dem zitierten Dresdner Amen und dem eingewobenen Choral Ein' feste Burg ist unser Gott unmittelbar auf den Anlass ihrer Entstehung Bezug nimmt.
Doch nun wieder zurück zur Entstehungszeit des Werkes. Zum 300. Jubiläum der Confessio Augustana (1530, das ist ein grundlegendes Bekenntnis der lutherischen Reichsstände zu ihrem Glauben) im Jahr 1829 und 30 komponierte Felix Mendelssohn Bartholdy von sich aus (man muss annehmen aus jugendlicher Begeisterung heraus, in jedem Falle aber nicht auf Bestellung einer Institution oder eines Mäzens) ein festliches Werk. Wegen der Unruhen infolge der französischen Julirevolution fanden jedoch keine offiziellen Feierlichkeiten statt. Damit kam auch die geplante Uraufführung der Sinfonie weder in Berlin noch in Augsburg zustande. Auch eine Aufführung in Leipzig scheiterte, weil Noten nicht rechtzeitig kopiert waren. In Paris weigerten sich die Musiker, wie bereits erwähnt, das Werk zu spielen.
Schließlich fand die Uraufführung am 15. November 1832 in Berlin unter der Leitung des Komponisten statt; sie hatte jedoch keinen nachhaltigen Erfolg.
Die Satzfolge lautet:
- Andante. Allegro con fuoco
- Allegro vivace
- Andante
- Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“. Andante con moto – Allegro vivace – Allegro maestoso
Dem Kopfsatz in Sonatensatzform steht eine langsame, sakral und getragen beginnende Einleitung mit geistlichen Bezügen voran, u. a. Zitaten aus dem gregorianischen Magnifikat und dem Dresdner Amen. Zuerst entspringt die Musik den tiefen Streichern in einer feierlichen Überlagerung instrumentaler Eingänge, die als „brillante orchestrale Evokation der Renaissance-Polyphonie“ bezeichnet werden könnte. Als letztes treten die Geigen auf, die leise das traditionelle protestantische „Dresdner Amen“ singen, das Wagner später in seiner religiösen Oper Parsifal nutzte. Es sollte zunächst noch wie eine leise Verheißung klingen. Fanfaren der Bläser betonen die zeremonielle Stimmung. Ein kühnes und militantes aufsteigendes Thema führt in den Allegro-Hauptteil ein, markiert mit "con fuoco" - "mit Feuer" - scheint es ein musikalisches Porträt des kämpferischen Luthers und des heftigen Kampfes zwischen Katholiken und Protestanten im 16. Jahrhundert zu sein. Vielleicht ist es auch lediglich das Aufblühen, je nach Interpretationen mehr oder weniger lustvoll, von Diskussionen über die unterschiedlichen Positionen in Glaubensfragen. Musik ist eben ambivalent. Fanfaren treiben den mittleren Entwicklungsabschnitt an, dessen Volumen und Turbulenzen stetig zunehmen. Dann eine Überraschung: Die Geigen wiederholen leise das „Dresdner Amen“ und Luthers feuriges Thema kehrt zurück, jetzt gedämpft und fast sanft.
Die beiden mittleren Sätze sind besonders wegen ihrer zeitlichen Ausdehnung lyrische Zwischenspiele, die sich von den mehr heroisch anmutenden schwergewichtigeren äußeren Sätzen abheben. In deutlichem Kontrast folgt als zweiter Satz ein Allegro vivace mit Scherzo-Charakter, das Mendelssohn in einem Brief vom 15. Juni 1830 aus München mit einer dort erlebten katholischen Prozession verglichen hat, bei der ganz weltlich »lustige Militairmusik mit Trompeten hineinschallte« und »die bunten gemalten Fähnlein hin und herschwankten«. Also ein robuster, lebenslustiger, deutscher Volkstanz, der knackige Rhythmen betont und in der Mitte eine wunderbar „im Freien liegende“ Trio-Sektion (mit trillernden „Holzbläservögeln“) enthält. Dieser Satz will nach unserer Auffassung nicht so recht weder zum ersten noch zum dritten Satz passen, er wirkt seltsam herausgefallen und böte sich für allerlei Interpretationen an.
Nach diesem fast, je nach Auffassung, volksfestartigen oder schon fast nach einer „Karikatur katholischen Brauchtums“ klingenden 2. Satz, spiegelt das anschließende Andante die spirituelle Versenkung des Einzelnen, die nach Mendelssohns Verständnis im offiziell-kirchlichen Rahmen nicht mehr gewährleistet war. Hier ist der Mensch allein mit seinem Glauben vereint. Für uns ganz subjektiv der eigentliche innige Höhepunkt der ganzen Sinfonie.
Satz drei ist also analog der „Lieder ohne Worte“ ein „Gebet“ für die ersten Violinen mit diskreter Orchesterbegleitung. In der getragenen Melodie könnte man meinen, es handle sich um die musikalische Vergegenwärtigung einer weiteren großen Religion mit dem jüdischen Volkslied „Hevenu Schalom alechem“. (Bekannt auch aus der Jazz-Suite Schostakowitschs, nur etwas anders phrasiert und in etwas schnellerem Tempo.) Musikwissenschaftler bestreiten dies jedoch. Für Mendelssohn vielleicht auch eine Auseinandersetzung oder auch nur Reminiszenz an seine eigenen Wurzeln.
Der 3. Satz führt ohne Pause, je nach verwendeter Edition mit oder ohne erweiterte Flötenkadenz, zur Eröffnung des Finales. Hier schließlich feiert Mendelssohn musikalisch den ‚Sieg‘ des Protestantismus, indem er Luthers Choral „Ein feste Burg“, zunächst nur von einer Flöte gespielt, letztlich zum Hauptmotiv der Sinfonie ausbaut und wie eine Hymne triumphieren lässt. Die Flöte singt dazu zunächst keusch aber doch auch schon voranleuchtend (je nach Interpretation auch noch etwas unsicher und nur vorantastend) Luthers große Hymne „Ein feste Burg“. Allmählich schließen sich andere Instrumente an und lassen die Majestät des Chors anschwellen. Phrasen des Chors in verschiedenen Instrumenten über einen galoppierenden Rhythmus führen zum Allegro maestoso eines Satzes, den man als „eine Mischung aus Sonatenform und Choralvariationen“ bezeichnen könnte. Währenddessen erinnern aufwändige Fugalpassagen an einen anderen großen lutherischen Musiker, J.S. Bach. Eine großartig ausgedehnte Wiederholung von „Eine feste Burg“ durch das gesamte Orchester bringt einen großartigen triumphalen Abschluss.
Auf dem Titelbogen der autographen Partitur vermerkt Mendelssohn als Tonart D-Dur. Tatsächlich beginnt die Sinfonie mit einer Einleitung in D-Dur, das Hauptthema des 1. Satzes und auch die Kadenzführung sind dann jedoch in d-Moll. Da sich die Tonartenbezeichnung einer Sinfonie normalerweise nach dem Hauptthema richtet, wird die Tonart des Werks in vielen Nachschlagewerken musikalisch korrekt als d-Moll angegeben (auch auf der uns vorliegenden Eulenburg-Studierpartitur). Auf manchen CD-Ausgaben wird die Tonart auch einfach – unentschieden – weggelassen.
Auf einen Aspekt mendelssohnschen Komponierens sollte abschließend noch hingewiesen werden, denn obwohl er als Wunderkind galt und seinen Werken zumeist eine gewisse eingebungsreiche Leichtigkeit anhaftet, war es doch von größten Selbstzweifeln geplagt, was sich in vielen Umarbeitungen und infolge dessen auch an der oft unklaren Quellenlage der Kompositionen ablesen lässt.
So gab Christopher Hogwood für Bärenreiter die Ouvertüren und Symphonien Mendelssohns vor einiger Zeit neu heraus. Er schrieb dazu:
„Bevor ich begonnen hatte, Mendelssohns Symphonien und Ouvertüren zu studieren, um neue Urtext-Ausgaben vorzubereiten, war ich der Meinung, dass Mendelssohn wie Mozart, eine kurze Zeit seines Lebens damit verbracht hatte, mühelos eine Folge von brillanten Meisterwerken zu schaffen, die sogleich veröffentlicht und gerühmt wurden. Das wahre Bild erweist sich als völlig anders: Mendelssohn litt, wie er selber sagte, unter der „Revisionskrankheit“ und konnte keine Seite seiner Musik betrachten, ohne getrieben zu sein zu revidieren und umzuarbeiten – sogar gegen den Rat seiner Familie und aller Musikkollegen. Die Folge ist, dass von beinahe jedem Werk mehrere Fassungen existieren, viele von ihnen wurden aufgeführt und dann von Mendelssohn voller Abscheu beiseite gelegt. Selbst bei uns so vertrauten Werken wie der Reformations- und der Italienischen Symphonie verweigerte er die Veröffentlichung und erklärte sogar, sie sollten verbrannt werden!“ Ein Glück für uns Nachgeborenen kam des nicht zu diesem Feueropfer (Anmerkung des Verfassers).
„Im Fall der Reformations-Symphonie erwarten uns noch größere Überraschungen. Beim Versuch, das Werk auf eine Länge zu kürzen, die seinem festlichen Anlass entsprach, strich er einen ganzen Satz vor dem Finale, einen Satz, der sich von der Flötenkadenz aus entwickelt und den Beginn des Choralthemas musikdramatisch engagierter vorbereitet. Auch hier sollten Interpreten und Zuhörer heute die Möglichkeit haben zu hören, was der Komponist ursprünglich vorhatte.“ Einige Dirigenten integrieren den kleinen Satz mit der Flötenkadenz in ihre Aufnahme. Wir meinen durchaus mit Gewinn. Das ist bester Mendelssohn. (neuere Aufnahmen wie die von Botstein, Bosch, Manacorda, Manze und Nézet-Seguin verwenden diese Fassung). Die dramatische Stringenz könnte jedoch zur Version ohne diesen kleinen Satz mit der langen Flötenkadenz raten. So entscheiden sich aus gutem Grunde nach wie vor immer noch Dirigenten, auch wenn Sie der neuen Ausgabe habhaft werden könnten, für die ältere Version ohne die erweiterte Flötenkadenz, z.B. Widmann, Heras-Casado, Fey, Lortie oder auch Paavo Järvi.
„Zusammenfassend zeigt sich, dass nun allmählich ein sehr abweichendes Bild von Mendelssohn entsteht – das Bild eines selbstkritischen, manchmal allzu destruktiven Komponisten, dessen Kompositionen im Hinblick auf ihre jeweilige gesamte Geschichte betrachtet und in zuverlässigen Editionen öffentlich präsentiert werden müssen.“
Darüber hinaus müssen die Interpreten, um den besonderen Charme und die volle Größe der Musik voll erblühen zu lassen, besonders darauf achten, dass sie sich peinlich genau an die detaillierten Anweisungen der Partitur halten. Und das sind enorm viele. Die Formen dienen Mendelssohn mehr zur freundlichen Unterstützung seiner Absichten und stellen keinen Zwang für ihn dar. Daher muss insbesondere der Dirigent noch über ein ausgeprägtes Formbewusstsein verfügen und besonders eine ausgeprägte Klangsensibilität mitbringen, da hierin das besondere Geheimnis der Mendelssohnschen Musik liegt. Weniger große Gesten und viel mehr noch feine Schattierungen und mit äußerster Präzision gesetzte Details lassen den Zauber erst entstehen. Die Interpreten dürfen sich nicht von der perfekten Oberfläche der Musik oder ihrem Unterhaltungswert ablenken lassen, denn sonst übersehen sie die darunterliegende, verborgene Tiefe. Die intimen Wege durch weite Seelenlandschaften (hier insbesondere im 3. Satz).
Übrigens gibt es anders als in der als nächste folgenden Sinfonie „Lobgesang“ (nebenbei: Mendelssohns Lieblingssinfonie zumindest unter seinen eigenen) keine Metronomangaben in der Partitur, was zur Folge hat, dass die Tempi innerhalb des Angebots an Einspielungen stark schwanken. Gut für die Individualisten, sie können die vorgeschriebene Tempoangabe innerhalb des möglichen voll ausreizen. Die akribischen Dirigenten müssen sehr genau recherchieren. Wie hat es Mendelssohn selbst gemacht? In dem Fall bei nur einer oder zwei Aufführungen würde das wahrscheinlich schwierig werden.
Manche Dirigenten sehen jedoch auch einen Freibrief darin und lassen ihrem Gusto freien Lauf. Wichtig sollte jedoch stets die Realisierung des vom Komponisten beabsichtigten Ausdrucks sein. Aber damit fangen die Probleme eigentlich gerade erst an...
Mendelssohn, das weiß man wohl, verachtete jedoch den plumpen, sich aufdrängenden Ausdruck, das überflüssige Ornament, das exhibitionistische Zurschaustellen der eigenen Gefühle. Vielleicht war er auch einfach zu gut erzogen und zu gebildet, um seine innere Zerrissenheit vor aller Welt unverblümt zur Schau zu stellen? Wirklich keine leichte Aufgabe. Wer meistert sie am besten?
(Text entstanden mit Hilfe eines Artikel aus einem Programmheft des Baltimore Symphony Orchestra aus der Saison 2018/19, dem CD-Beiheft der Aufnahme von Thomas Fey, einem Artikel von Ralph Siepmann „Luthers Sinfonisches Denkmal“ in evangelisch.de, einem Beitrag des Bärenreiter-Verlages zur Neuedition durch Christopher Hogwood und Stefan Gawlicks Artikel „Unter der Oberfläche“ in HiFi & Records 4/09. Das Vorwort der Eulenburg-Taschenpartitur Nr. 554 fand diesmal hingegen keine Beachtung aber der Notentext darin selbst natürlich schon. In dieser Taschenpartitur ist die erweiterte Flötenkadenz noch nicht enthalten. Die meisten Einspielungen folgen aber dem Notentext darin. Somit gehört sie trotzdem nicht zum „alten Eisen“, pardon Altpapier.)
2.5.2021

Felix Mendelssohn-Bartholdy, 1830 zur Zeit der 5. Sinfonie (Aquarell von James Warren Childe)
Die vergleichenden Rezensionen:
Aufnahmen unter Einfluss der historisch informierten Aufführungspraxis unter Verwendung von (mehr oder weniger) alten Instrumenten:
EFK bedeutet: mit Verwendung der erweiterten Flötenkadenz
5
Jörg Widmann
Irish Chamber Orchestra
Orfeo
2015
11:25 4:44 3:51 8:00 28:00
Der ersten Einspielung auf der Liste kommt immer eine besondere Bedeutung zu, daher überlegen wir immer lange, welche denn nun an diesen prädestinierten Ort gehört, zumal sich die beiden (Karajan steht ja auch an erster Stelle) deutlich unterscheiden. Aufgrund ihrer individuellen Ansätze und der allgemeinen Wirkung auf uns haben wir uns in dieser Liste denkbar knapp für die Einspielung Jörg Widmanns entschieden.
Widmann, ein musikalischer Tausendsassa, ist er ja auch noch als Komponist und Klarinettist eine Institution, gelingt eine außerordentlich akribische Detailmodellierung bei gleichzeitig mitreißendem Impetus und vortrefflichen Charakterisierungen der einzelnen Sätze.
Der 1. Satz wirkt außergewöhnlich feinsinnig und kein Detail geht hier verloren. Die Dynamisierung gelingt bewundernswert exakt. Die Proporzionierung der Instrumentengruppen kann als ideal bezeichnet werden. Die Bläser (auch das Holz) sind glasklar ohne jede Anstrengung seitens des Hörers herauszuhören. Die „Dresdner Amen“ werden als denkbar großer Kontrast dargestellt, als kaum erreichbares Sehsuchtsmotiv. Der Gestus des con fuoco wird genau getroffen ohne starr zu wirken, bleibt also geschmeidig in Spiel und Agogik. Verblüffend, hat man doch von dem kleinen irischen Orchester bislang noch gar keine Visitenkarte erhalten. Seine Qualität und Standhaftigkeit im Getümmel ist großartig. Das Stringendo erhält Sogkraft, die Basslinie ist sehr gut zu verfolgen, die Steigerung zum Ende hin absolut mitreißend. Selbst die Fermate des letzten Akkords wird noch gestaltet: So wie sie nachklingt bedeutet dies: Hier ist noch alles offen, trotz der umwälzenden Entwicklungen der letzten zehn Minuten: hier ist nichts aufgelöst. Was bringt der nächste Satz, wie geht es weiter?
Und dann kommt der 2. Satz, wie immer fast ohne jeden Zusammenhang zum 1., nur hier fällt es besonders auf. Eine ganz andere Welt tut sich auf. Durchaus einmal scherzando, lebendig und voller Schwung. Trotzdem auch voller Akkuratesse. Die Perfektion des hierzulande unbekannten Orchesters verblüfft erneut. Die Soli von Oboe, Flöte und Celli sitzen auf den Punkt und sind besonders klangschön. Man kommt dem Ideal Mendelssohns hier wahrscheinlich sehr nah. Im 3. Satz lässt die ziselierte Phrasierung den Gebetscharakter ausgesprochen lebendig werden. Besonders das kleine Rezitativ gelingt sehr ausdrucksvoll. Im 3. Satz hätten wir uns allerdings noch eine paar MitstreiterIinnen bei den Violinen mehr im Orchester gewünscht. Allerdings hat auch die kleine Besetzung mit ihrem intimen Charakter ihre Vorzüge. Extrem lange Fermate.
Der 4. Satz beginnt mit einer lieblich angestimmten Flöte, die den sich vortrefflich entwickelnden anschwellenden bestechend klaren Bläsersatz anführt. Es geht hier nun endlich einmal mit einem wirklich losstürmenden Allego vivace weiter. Wir glaubten schon, dass unsere Partitur einen Fehler hätte, weil kaum einer hier Allegro und schon gar nicht vivace spielen ließ. Das Allegro maestoso lässt dann im stürmenden Impetus nicht nach. Die Fugati erhalten eine beneidenswerte Eloquenz, beredte Bläsereinwürfe wirken hier mitunter als Störenfriede oder Kommentare von außen, die der Entwicklung aber nichts anhaben können. Das alles klingt plastisch wie selten. Das Finale, völlig transparent, klingt begeistert und begeisternd. Bravo.
Sind die im Anschluss losstürmenden Freiburger (und Heidelberger) bei Heras-Casado und Fey vielleicht noch virtuoser, wirkt Widmanns Gestus flexibler, die Phrasierung noch natürlicher. Die Charakterisierung auf eine angenehm-warme, harmonische und ausgewogene Art noch ein Quäntchen stimmiger.
Der Klang ist offen, dynamisch, sehr plastisch, weich und rund, detailreich und sehr klar. Auch auf technischer Seite ist diese Einspielung also sehr gelungen.
5
Pablo Heras-Casado
Freiburger Barockorchester
Harmonia Mundi
2017
10:25 4:49 3:24 7:45 26:23
Diese Einspielung ist die am „ganzheitlichsten“ historisch orientiert, zumindest spielt das Orchester komplett auf Instrumenten der Barockzeit, wobei wir jetzt mal annehmen wollen, dass die auch zurzeit Mendelssohns noch aktuell waren. Man spielt vibratolos und ausgesprochen präzise. Im beginnenden Andante bereits sehr akzentuiert und kontrastreich. Die Bläser sind exponiert, vor allem das Blech. Allerdings treten die Streicher dem gegenüber etwas zurück, was aber keine Auswirkungen auf ihre Verfolgbarkeit hat. Auch hier herrscht glasklare Transparenz. Das Allegro con fuoco erinnert an den Furor bei Thomas Fey erklingt mit eher noch etwas gesteigerter Vehemenz, noch etwas wilder und feuriger. Die Artikulation erfolgt genauestens, wo nötig mit geballter Wucht. Die Pauken sind enorm prononciert. Die gespannten Bögen sind weiträumig die Entladungen der Steigerungsverläufe mitunter krachend. Das Stringendo erfolgt mit soghafter Wirkung, die Streicher spielen sehnig gespannt. Die widerstrebenden Elemente werden sehr spannend und auf elementare Weise dargestellt. So wie vor Jahren das Concerto Köln Mozart „gerockt“ hat, machen die Freiburger das nun mit Mendelssohn.
Der 2. Satz erklingt als echtes Scherzo nach Beethovens Vorbild. Die Gangart ist knackig-frisch, teilweise ungestüm. Die fein ziselierte Artikulation lässt durch den leidenschaftlichen Drive nicht nach. Die äußerste Transparenz lässt auch an das Vorbild im Sommernachtstraum denken (da gibt es ja auch schon ein unvergessliches Scherzo). Im 3. Satz klingen die Violinen recht schmal, auch hier hätten vielleicht ein Paar Pulte mehr nicht geschadet. Die Spielweise ist aber nicht kurzatmig sondern recht ausdrucksvoll, besonders im eindringlichen Rezitativ. Auch hier kommt man wohl dem Ideal Mendelssohns recht nahe, der ja der Überlieferung nach auch schnelle Tempi bevorzugte.
Im 4. Satz klingt die Flöte vorwitziger als bei Widmann. Allegro vivace und maestoso klingen nach einem Sturmlauf. Die Fugati erfrischend und in bestechender Klarheit. Hier ist wirklich nichts mehr angestaubt. Die Artikulation ist rasiermesserscharf. Der Schlusston mit Fermate lässt Heras-Casado wie im Nichts verschwinden. Irgendwie wirkt das so, als ob es doch noch nicht zu Ende wäre. Hier muss wohl noch weiter reformiert werden.
Im Ganzen wirkt diese Einspielung inspiriert und aufrüttelnd. Gegenüber Widman vielleicht eine Spur zu einheitlich und etwas zu durchgängig unter Spannung gesetzt.
Der Klang der Aufnahme (hier als High-Res-File gehört) ist bestechend klar und facettenreich mit hoher Tiefenstaffelung und sehr hoher Dynamik. Die Barock-Rocker sind nach Freiburg umgezogen.
5
Thomas Fey
Heidelberger Sinfoniker
Hänssler
2009
10:03 4:35 3:23 8:55 26:56
Schon in der Einleitung, dem Andante, bekennt Fey Farbe. Die beiden Ebenen Bläser und Streicher werden wunderbar antagonistisch gegeneinander ausgespielt, das Ganze klingt ausgesprochen ausdrucksvoll und prägnant. Der Con-fuoco-Aspekt im Allegro wird auf außergewöhnlich spannende Weise voll eingelöst. Da toben die Gegensätze der rivalisierenden Kirchen mit dramatisierendem Furor. Hier wird die vormals eher blass-klassizistische Ebene ich Richtung Hochromantik verlassen ohne die Ursprünge und Einflüsse Bachs, Mozarts und in diesem Satz vor allem Beethovens zu vernachlässigen. Die sf sind von herausragender Intensität. Das Orchester klingt höchst motiviert. Das Stringendo wirkt absolut mitreißend. Con fuoco kann hier auch mit elektrisierend übersetzt werden.
Der 2. Satz erklingt sehr lebendig, fast überschwänglich. Man meint, dem Scherzo aus dem Sommernachtstraum wird hier noch eins draufgesetzt. Das Orchester, in allerbester Verfassung, musiziert auch diesen Satz voller Leidenschaft. Den Gebetscharakter im 3. Satz trifft Fey hervorragend, nicht zu langsam, was beim vibratolosen Spiel auch schnell einmal „nach hinten losgehen“ kann, aber, was noch schlimmer wäre, auch nicht zu schnell oder gar verhetzt wie bei Krivine. Auffallend ist hier das gespannte Rubato, das eine scharfe Charakerisierung erlaubt und gefühlvoll wirkt aber auch jedwede Larmoyanz verhindert. Die Klagefiguren werden sehr deutlich herausgearbeitet.
Das Andante con moto im 4. Satz wird hier auch bei Fey endlich einmal wörtlich genommen. Der Bläsersatz wirkt sprechend, klar, lebendig, voll, rund und farbig. Auch hier klingt das Allegro vivace mitreißend, wie es sich Mendelssohn vorgestellt haben muss. Das Allegro maestoso, indem das Blech auch einmal frech herausfahren darf wird bestens akzentuiert. Die Fugati sind hervorragend klar und deutlich. Als Ganzes wirkt dieser Hauptsatz wie eine Siegessinfonie. Die Dramaturgie für den letzten Satz ist voll überzeugend, keine Details gehen verloren. Dazu animato überall. Das Ende schließlich, wahrlich mit Pauken und Trompeten, lässt dem Hörer Schauer über den Rücken laufen, wie es nur echte Spitzeneinspielungen vermögen.
Der Klang steht den beiden etwas neueren, zuvor genannten Einspielungen kaum zurück. Er ist sehr transparent, voll, sehr dynamisch, sehr farbig und hat eine außergewöhnlich prononcierte Basswiedergabe.
5
John Elliot Gardiner
London Symphony Orchestra
LSO Live
2014
10:55 4:41 3:36 8:37 27:59
Von Gardiner existieren zwei Einspielungen der Sinfonie die neuere mit dem LSO ist insgesamt der älteren mit den Wiener Philharmonikern vorzuziehen. Beim LSO scheint Gardiner seinen Ansatz leichter und nachhaltiger verwirklichen zu können. Das Orchesterspiel wirkt noch gelöster und freier, auch etwas genauer in Phrasierung und Artikulation, zudem geschärfter und etwas zugespitzter im Ausdruck. Das spirituelle Drama wird selten so rassig und zugespitzt ausformuliert wie hier. Fast eine Klasse besser als in Wien. Das soll nun aber nicht heißen, die Wiener wäre schlecht. Noch immer, obwohl die Wiener Streicher vielleicht nur ungern auf ihr Vibrato verzichtet haben, klingen sie in diesem Fall mit mehr Glanz als ihre Londoner Kollegen. Zu merken ist dies in erster Linie bei den Violinen. Es soll auch nicht verheimlicht werden, dass insbesondere die Freiburger und auch die Heidelberger noch eine kleine Schippe Unmittelbarkeit und Identifikationsvermögen gegenüber den Londonern draufgelegt haben.
Das Renaissancehafte kommt bei Gardiner in London sehr gut zum tragen, die akribische Artikulation ist sauber und bestechend klar, die sf gelingen sehr markant. Im Allegro con fuoco präsentieren sich die Londoner als ein Orchester mit Schneid und Biss. Das LSO hat das Werk verinnerlicht und spielt absolut geschmeidig und virtuos, als ob es schon immer historisierend unterwegs gewesen wäre. In der Durchführung lässt Gardiner „die Fetzen fliegen“. Auch eine feine Agogik gehört hier zu Gardiners Stilmitteln. Jeder Anflug von Starrheit wird vermieden. Zum rassigen Duktus gesellt sich Hochspannung.
Im 3. Satz gelingt der Gesang der Violinen noch etwas flexibler und nachdrücklicher als in Wien. Der rezitativische Mittelteil klingt schön frei. Die Reprise wirkt nochmals leicht intensiviert, während die Bläser im Mittelteil sehr zart und flexibel auf das Vorherige eingehen.
Der 4. Satz, im Andante äußerst klar, im Allegro vivace sehr lebendig und im Allegro maestoso mit vorantreibendem Gestus, haarfeiner Artikulation, glasklaren Fugati, mächtigen ff und einer flexiblen Temponahme, überzeugt bei Gardiner vollends. Der Schlusschoral klingt fast wie mit einem Orgelpleno gespielt. Da wird der kirchliche Bezug wieder besonders greifbar.
▼ eine weitere Aufnahme desselben Dirigenten folgt weiter unten in der Liste
5
EFK
Antonello Manacorda
Kammerakademie Potsdam
Sony
2017
11:15 4:39 3:37 1:56 8:35 30:02
Die Stimmung im Andante des 1. Satzes wirkt bei Manacorda wie von Traurigkeit umwölkt und dunkel. Es wird jedoch glasklar und detailreich artikuliert und der Gestus wird immer nachdrücklicher, heftiger. Keine andere Einspielung hat dies so eingebracht. Die Intonation bei den Bläsern ist hier nicht ganz perfekt. Das „Dresdner Amen“ klingt sehr gefühlvoll. Das Allegro con fuoco profitiert von wieselflinken Streichern, die auch großer Vehemenz fähig sind. Ein paar Mal hörten wir partiturfremde Takte in der Durchführung, wie bereits bei Manze, die der neuern Ausgabe geschuldet sind aber den Fluss, wie wir ihn gewohnt sind, eher stören und die uns redundant erschienen. Das Blech ist auch hier enorm durchschlagskräftig in Szene gesetzt. Obwohl sich auch die Potsdamer voll reinwerfen, klingen die Freiburger, Heidelberger und auch die Londoner noch etwas beherzter.
Das wieselflinke Allegro vivace des 2. Satzes erschien uns für die Imagination eines katholischen Pfarrfest, wie von Mendelssohn im Brief erwähnt, etwas zu hurtig. Das sehr tänzerische Tempo wäre eher für eine Profi-Tanztruppe geeignet. Das Vivace wird hier jedoch voll umgesetzt. Obwohl die schönen Bläser und Streicher im Trio in bester Sommernachtstraummanier artikulieren, kamen uns hier einige Elemente nach dem Trio schon so vor, als würden sie bereits auf Bruckner-Scherzi hinweisen. Im 3. Satz ziehen uns schon alleine die beiden Eingangstakte mit der sehr bewusst artikulierten Abwärtsbewegung mit nach unten. Eine Kleinigkeit mit großem Effekt. Auch ein Beispiel, wie aufmerksam Manacorda mit dem Notentext verfährt. Das Rezitativ wird behutsam und intensiv gesteigert, hinein in Verzweiflung und Ausweglosigkeit.
Die folgende erweiterte Flötenkadenz könnte kaum schöner und ausdrucksvoller gespielt werden, zwischendurch mächtig gesteigert vom ganzen Orchester. Das Allegro vivace wird als großer Aufschwung zum Allegro maestoso gesehen. Hier genießen die Solobläser großen akustischen Freiraum, den sie auch brillant nutzen. Die Fugati werden sehr transparent und deutlich artikuliert. Nicht so burschikos wie bei Heras-Casado klingt der 4. Satz, mehr mit Bedacht und Überlegung.
Der Klang ist ebenfalls sehr transparent, dynamisch und ortungsscharf.
4-5
EFK
Yannick Nézet-Séguin
Chamber Orchestra of Europe
DG
2016
11:29 5:50 3:44 1:46 7:54 30:43
Auch Nézet-Séguin lässt vibratolos spielen und die Pauke mit harten Schlägeln schlagen. Ansonsten scheint das COE keine historischen Instrumente zu nutzen. Trotzdem ist der Streicherklang außerordentlich differenziert und das Blech sehr präsent. Beim „Dresdner Amen“ fehlt jedoch die Aura des Verheißungsvollen, es fehlt die Leuchtkraft. Im exakt ausgeführten Allegro con fuoco hören wir ein geschmeidig klingendes Orchester mit ausgezeichneter Spielkultur, auch hier wieder mit den zusätzlichen Takten der neuen Fassung. Das Feuer des Kampfes ist zwar präsent aber nicht so dominierend wie in den Versionen zuvor. Der Gestus ist hier mehr organisch und frisch fließend, dabei recht spannend. Insgesamt etwas lebendiger als Gardiner mit den Wienern. Das Geschehen wird dramaturgisch noch im Zaum gehalten.
Im Allegro vivace des 2. Satzes stampft es teilweise recht bäuerlich, Nèzet-Séguin scheint sich sorgsam mit frischer, sehr partiturgenauer Artikulation an Mendelssohns Volksfest-Impression zu halten. Das Spiel wirkt sehr inspiriert und macht Freude, die die gelegentlichen elegischen Untertöne nicht schmälern können. Im 3. Satz spielen die 1, Violinen zwar differenziert aber mit relativ wenig Glanz und Leuchtkraft. Das hier eingesetzte Grau scheint aber als Mittel eingesetzt, um die Einsamkeit der Situation zu unterstreichen. Ein einsamer, schwacher Mensch findet sich hier zum Gebet ein, um sein Leid zu klagen. Auf besondere Art ebenfalls bewegend.
Die Flöte in der erweiterten Kadenz klingt mit stark reduziertem Vibrato ganz hervorragend um nicht zu sagen herrlich. Mehr als nur ein Lichtblick nach dem grauen 3. Satz. Hier findet „unser Held“ wieder Mut oder gar Erleuchtung.
Im 4. Satz bewundern wir das herrlich klingende, aber nie aufdringliche Holz. Alles klingt hier kammermusikalisch schlank. Monumentalität kommt zu keiner Sekunde auf. Die Balance ist ausgezeichnet. Kontraste werden durchaus ausgeprägt gesetzt, sind aber nicht aufdringlich, schroff oder gar übertrieben. Die Polyphonie kommt glasklar ins Bild. Die Streicher überzeugen mit ihrem gesanglichen, fokussierten Ton, der aber recht klein dimensioniert erscheint. Die Pauke ist zumeist sehr präsent.
Der Klang ist außerordentlich präsent und erhält eine ausgezeichnete Balance zwischen Trockenheit und Raumklang, Präzision und Natürlichkeit. Die Dynamik ist jedoch bei Fey, Heras-Casado und Gardiner (LSO) größer, die Tiefenstaffelung ist gut.
4-5
John Elliot Gardiner
Wiener Philharmoniker
DG
1996
10:46 4:49 3:42 8:28 27:45
Dieser Einspielung wurde verschiedentlich der Vorwurf gemacht, dass der Dirigent und das Orchester nicht so recht zusammengefunden hätten. Das war auch sicher nicht einfach, prallen hier doch quasi zwei Welten aufeinander. Das Resultat jedoch ist dennoch reizvoll.
Im 1. Satz gelingt eine eindringliche Gestaltung des Andantes. Das Allegro con fuoco erklingt mit großem Ernst, die widerstrebenden Elemente der Glaubensrichtungen und der damit verknüpften Kirchen prallen mit Vehemenz aufeinander. Die Vortragszeichen werden allesamt beherzigt, die Dynamik ist gut, aber nicht ganz ausgereizt. Das Orchester wirkt gegenüber den New Yorkern bei Bernstein etwas schwerfälliger und „dicker“ (genau wie gegenüber dem LSO mit Gardiner, 18 Jahre nach der Wiener Einspielung), aber immer noch beherzt.
Im 2. Satz bleibt Gardiner nah am Scherzo-Charakter, das Orchester bleibt beschwingt und mit erlesener Spielkultur bei ihm. Der 3. Satz gelingt innig und überzeugend mit klarer exakter und vibratoloser Cantabilität.
Im 4. Satz hören wir eine recht bachnahe Darbietung mit Entschlossenheit und durchaus dramatisch aufgeheizt. Die Fugati sind auch hier glasklar mit wunderbar ausgespielten solistischen Beiträgen. Phasenweise lässt Gardiner das Orchester einen Hymnus spielen, getragen auch hier von der wundervollen Gesanglichkeit der Wiener, auch vibratolos gelingt es ihnen also besonders zu klingen. Der Schluss hat eine grandiose Strahlkraft.
Der Klang bietet eine sehr gute Transparenz und eine recht sonore Klangfülle in einem recht großen aber nie halligen Raum. Die Präsenz ist gut.
4
Roger Norrington
Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR
Hänssler
2004
12:34 5:40 3:05 8:17 29:36
Die Einspielung Roger Norringtons macht dieses Mal einen recht heterogenen Eindruck. Die beiden Ecksätze gefielen uns viel besser als die beiden Binnensätze. Doch beginnen wir von vorne. In der Einleitung (dem Andante) hören wir sehr klare (vibratolose) Stimmenverläufe. Das Verhältnis zwischen Streichern und Bläsern ist ausgewogen. Die Blechbläser steuern auch mit herben sf starke Kontraste bei. Die Schmerzmotive und Seufzer werden sehr gut zur Geltung gebracht. Insgesamt wirkt die Darstellung hier fast wie eine Röntgenaufnahme, so transparent. Im weiteren Verlauf gestattet sich Norrington sogar eine subtile Agogik, erreicht aber insgesamt nicht den Drive der Kollegen dieser Liste wie Heras-Casado, Fey oder Gardiner (LSO). Das Stringendo bei H wirkt jedoch mitreißend. Insgesamt wirkt der 1. Satz durchaus leidenschaftlich, vom Norrington verschiedentlich vorgeworfenen Dogmatismus konnten wir nichts entdecken. Die Diktion des Orchesters ist durchweg locker und leicht und von hoher Virtuosität geprägt.
Der 2. Satz fällt dem gegenüber jedoch ab. Auch Norrington, wie viele seiner Kollegen der herkömmlichen Aufführungspraxis, wählt ein zu langsames und wenig lebendiges Tempo. Wenn man seine Haydn-Einspielungen kennt, muss das etwas verblüffen. Hier wird jedoch der Scherzo-Charakter unter den Teppich gekehrt. Vor allem das Trio wirkt etwas durchbuchstabiert. Insgesamt also ein etwas hüftsteifes Tänzchen, an dem die Tänzer wenig Freude gehabt haben dürften. Der 3. Satz hat sogar etwas kaltes und abweisendes, als ob dem verunsicherten Betenden das „wärmende Urvertrauen“ abhanden gekommen wäre. Das ginge als individuelle Sichtweise noch in Ordnung, würde gar von uns begrüßt werden. Irritiert hat uns jedoch das seltsam hüpfende kleine Rezitativ in der Mitte des kurzen Satzes. In Norringtons Phrasierung und Artikulation wäre ein langsameres Tempo wahrscheinlich zielführender gewesen.
Der 4. Satz beginnt wieder (in dieser Liste ist das der Standard) mit einem bestechend klaren Choral. Auch bei Norrington hat das Allegro vivace einen vorantreibenden Gestus. Die Fugati sind selten so klar und in fast vollkommener Vielstimmigkeit zu hören. Die besonders differenzierte Gestaltung macht es möglich. Bei Norrington ist das Blech deutlich exponiert, die Pauke deutlich weniger, es herrschen also andere Klangverhältnisse als bei Nézet-Séguin zuvor. Die schmetternden Naturtrompeten setzen immer wieder lustvolle Akzente und stehen im deutlichen Kontrast zu den meist strähnigen, aber mitunter auch locker dahintupfenden Streichern. Der Schluss gelingt schlank aber mit strahlendem Glanz.
Der Klang ist sehr transparent, prima gestaffelt und sehr dynamisch.
4
Emmanuel Krivine
La Chambre Philharmonique
Naive
2006
10:29 5:07 2:34 7:48 25:58
Das Originalklang-Ensemble aus Paris legt eine Einspielung mit dem typischen (vibratolosen) Klang der bei uns bekannteren Barockensembles vor. In unserem Vergleich kommt es dem Freiburger Barockorchester am nächsten. Die Artikulation ist meist gestochen scharf, auf Feinheiten wird gut eingegangen. Die Balance ist gut proportioniert. Die Streicher erreichen nicht ganz die Perfektion der Freiburger, Heidelberger oder Londoner Kollegen. Die Durchführung gelingt nicht ganz so spannend wie bei den gerade genannten. Das Stringendo 7 T. nach K ist zwar deutlich spürbar, wirkt aber nicht so kampfeslustig oder aggressiv wie in den Einspielungen zuvor. Wenn man das „Dresdner Amen“ gerade zuvor (wegen der Abfolge im Alphabet) mit Karajan gehört hat, fehlen hier Dimensionen. Das abschließende Con fuoco gelingt dann doch auch feurig.
Der 2. Satz ist schön flott und erfreut mit einem schönen Trio mit den herrlichen Klangfarben der alten Instrumente. Im 3. Satz erfreut der „rasende“ Duktus weniger, obwohl gut phrasiert wird. Das Rezitativ in der Mitte hebt sich nicht deutlich genug ab und geht zu glatt durch. Trotz der guten Phrasierung macht dieser Satz einen überaus flüchtigen Eindruck auf uns. An die tief nachempfundene Tragik Karajans darf man hier nicht denken.
Der 4. Satz erfreut wieder mit der „Würze“ der alten Blasinstrumente. Das Andante profitiert deutlich von den unterschiedlichen, die Transparenz fördernden Klangfarben und der flotten Gangart. Das passt gut zusammen. Auch hier sind die beiden Allegros sehr bewegt. Das zweite dabei weniger Allegro maestoso als vielmehr Allegro molto. Die hier verwendeten Serpente liegen mitunter in der Intonation auch ein bisschen daneben und setzen mitunter eine Idee zu früh ein. Die transparenten Fugati lassen von weitem auch an Mozarts Requiem denken.
Außer beim seltsamen 3. Satz hat Krivine sicher nicht viel falsch gemacht in seiner Einspielung. Uns kam seine Version, nachdem uns gerade zuvor Karajan verzaubert hatte, allzu leichtgewichtig vor. Ein schwerer Rotwein und ein Glas Champagner, da braucht man erst einmal mindestens ein halbes Menu dazwischen.
Sehr realistische Räumlichkeit, wobei hier Kammer-Orchester wörtlich genommen wird. Recht dynamisch und transparent. Sehr farbig.
4
EFK
Marcus Bosch
Sinfonieorchester Aachen
Coviello
2009, LIVE
10:58 5:17 3:21 7:56 27:32
Die historische Aufführungspraxis hat sich mittlerweile bis zu den deutschen Mittelstädten durchgesetzt. Auch in Aachen findet man sich auf hohem Niveau bestens damit zurecht. Dazu gehört auch eine sehr genaue Beachtung des Notentextes. Da hat man sehr intensiv in die Partitur geschaut. Der Klang ist ziemlich vibratolos, das Musizieren sehr lebendig und engagiert. Die kämpferischen Kontraste werden gut herausgearbeitet. Die sf kommen prononciert, die Pauke akzentuiert. Das „Dresdner Amen“ wird als Verheißung recht geheimnisvoll gespielt und vor allem auch dynamisch sehr gut zwischen pp und p abschattiert. Die letzte leidenschaftliche Dramatik, die gerade zuvor Bernstein mit den New Yorkern entfachte, bleibt jedoch unerreicht.
Der 2. Satz gelingt ebenfalls gut. Die tänzerische Note bleibt stets gewahrt, man hätte jedoch noch etwas schwebender tanzen können. Das Holz klingt gut, das dolce der Celli ist prima. Rhythmisch wird gut akzentuiert. Der 3. Satz misslingt dagegen ähnlich wie zuvor bei Krivine wegen des viel zu schnellen Tempos. Wo bleibt da das Andante? Zudem gelingt den Violinen kein dolce. Uns blieb unklar und fremd, welcher Gestus hier evoziert werden soll. Auch die Reprise ist überhastet. Wie oberflächlich dahin genuschelt, ohne jede Innigkeit.
Die anschließende erweiterte Flötenkadenz, die bereits in der Spielzeit eingeschlossen ist (!), gelingt hingegen recht ausdrucksvoll, aber auch tendenziell überhastet. An die Flöte des COE bei Nézet-Séguin oder der Kammerakademie Potsdam mit Manacorda kommt diese Darbietung daher nicht heran.
Nach einem nicht sonderlich spannenden Andante con moto zu Beginn des 4. Satzes präsentiert Bosch eine entschlossenes, flottes Allegro vivace und ein ebenso flottes maestoso, das den majestätischen Charakter Lügen straft, denn hier liegt ein flotter ein typischer Finalsatz vor. Wenig wuchtig und kaum singbar wären diese Choräle, wenn der Gemeindechor mitsingen wollte. Aber das soll er ja auch nicht. Am Ende schließlich steht aber auch Boschs Burg wirklich fest. Der Entwicklungsverlauf im 4. Satz wird hier von einer noch unwirklichen zu einer tatsächlichen (festen) Burg sehr plausibel nachgezeichnet.
Das Orchester überrascht mit seiner Agilität, ist aber angesichts der Crème de la Crème, die in dem Vergleich versammelt ist, nicht ganz erste Wahl. Leider hat der in unseren Ohren völlig verfehlte 3. Satz eine bessere Platzierung verhindert.
Der Klang ist sehr transparent, voll und präsent aber nicht sehr großräumig. Er passt sehr gut zur Orchestergröße und zur Interpretation.
4
Jos van Immerseel
Nederlands Radio Filharmonisch Orkest
Brilliant
1992, LIVE
10:04 5:13 3:28 7:37 26:22
Auch Jos van Immerseel versucht den historisierenden Interpretationsansatz bei einem „modernen“ Orchester anzuwenden. Es bleibt aber weitgehend lediglich bei einem Spiel ohne Vibrato. Es werden keine Barockinstrumente verwendet, auch bei den Bläsern nicht und sogar die Pauke nutzt recht weiche Schlägel. Die Dynamisierung des „Dresdner Amen“ gelingt nur sehr schwach. Das Orchester erreicht auch keinen höheren Anspruch an die Virtuosität, den die Aachener immerhin noch angegangen sind. Obwohl die Streicher nicht schwach besetzt scheinen, kommen die Bläser gut durch.
Der 2. Satz erklingt mehr korrekt als temperamentvoll. Es fehlt etwas an klanglicher und spieltechnischer Brillanz. Das Tänzerische kommt etwas zu hüftsteif, zu gerade durch und bieder. Da fehlt etwas die Hingabe.
Dafür gelingt der 3. Satz recht eloquent. Zum bedächtigen Tempo gesellt sich eine sorgsame Artikulation der 1. Geigen. Ihrem echt spröden Klang fehlt es zwar etwas am dolce, die Phrasierung ist jedoch eindringlich. Auch hier wünschte man sich ein paar Geigen mehr im Chor.
Das Allegro maestoso erklingt temperamentvoll, den Streichersatz in den Fugati hat man jedoch schon transparenter gehört. Hauptmangel ist hier die zu einheitliche Dynamik. Es entsteht ein Verlauf in Al Fresko Manier.
Der Veröffentlichung lag sicher eine Rundfunkaufnahme zu Grunde. Sie macht einen etwas unambitionierten, routinierten Eindruck. Ihr Klang verfügt nur über eine eher geringe Präsenz. Das ganze Orchester wirkt etwas nach hinten versetzt. Der trockene Charakter versprüht wenig Glanz, ist aber auch nicht ganz matt. Die Tiefenstaffelung ist recht gering.
3
Paavo Järvi
Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Weihnachtsgabe für Abonnenten der DKP
2013, Live
10:24 Fehlanzeige 3:00 7:31
Auf diese Produktion wäre eigentlich nicht einzugehen, weil man dem 2. Satz die Veröffentlichung versagt hat. Selbst wenn man als Abonnementinhaber die CD zu Weihnachten geschenkt bekam, ist die Veröffentlichungsstrategie zu tadeln. Denn statt weiterer kleinerer Ausschnitte aus heterogenen und zusammenhanglosen Werken zu nehmen, wäre der 2. Satz der Reformationssinfonie bei weitem zuerst an der Reihe gewesen, ein Plätzchen auf der CD zu bekommen. Für den 2. Satz gibt es also eine 0. Die 3 ist also irgendeine imaginäre Quersumme aus ausgelassener Chance, Ärger und Strafe. Bedauerlich ist das besonders, weil eine Veröffentlichung mit Paavo Järvi, idealer Weise mit der DKP, nach wie vor in der Diskographie der Sinfonie fehlt. Sie wäre sicher eine Bereicherung.
Sehen wir noch kurz, was wir haben: Im 1. Satz ist die dynamische Spreizung sehr groß. Das „Dresdner Amen“ erklingt in einem verheißungsvollen, hintergründigen pp. Das Allegro con fuoco wird seiner Satzbezeichnung voll gerecht. Die Entwicklungsverläufe sind von anspringender Virtuosität, locker gespielt, aber nachdrücklich im Ausdruck. Die dynamischen Vorschriften werden akribisch beachtet. Vor dem 3. „Dresdner Amen“, also nach der Durchführung lässt Järvi eine gefühlt sehr lange Pause, die so nicht in der Partitur steht, aber der Hörer hält den Atem an.
Der 3. Satz erhält in einem zügig gehaltenen Andante eine flexible Gestaltung der Arie, während das Rezitativ mit heftigen Akzenten ausdrucksvoll gesteigert wird.
Im 4. Satz mit einem außerordentlich transparenten und exzellent geblasenen Bläsersatz im Andante con moto begonnen, zeigt ein Allegro maestoso mit ganz besonderem Charakter. Diese Majestät hat sich fit gehalten. Sie würde eher zu einem durchtrainierten Hochleistungssportler gehören als zu einem „Hochwürden“. Jede Patina wird hier weggeblasen, wie es Järvi auch schon bei den Beethoven-Sinfonien gemacht hat. Agil und quicklebendig klingt es hier. Durch das moderne Instrumentarium wirkt es aber nicht so (übertrieben?) angeschärft wie bei Heras-Casado. (Ob es bei Heras übertrieben oder ultimativ klingt, muss im Übrigen jeder selbst entscheiden.)
Insgesamt wäre die Einspielung sicher auf irgendeine Weise in die Summa-Cum-Laude-Gruppe gekommen, wenn das Debakel mit dem 2. Satz nicht passiert wäre.
Der Klang tönt sehr präsent und klar. Die Staffelung in die Breite ist gut, in die Tiefe ausbaufähig. Aller Ehren wert, wenn man bedenkt, dass es wahrscheinlich „nur“ ein Mitschnitt für die Belange des Orchesters war oder ein Mitschnitt ohne weitere Ambitionen durch den Rundfunk...
Aufnahmen in herkömmlicher Aufführungspraxis:
EFK bedeutet: mit Verwendung der erweiterten Flötenkadenz zwischen dem 3. und 4. Satz
5
Herbert von Karajan
Berliner Philharmoniker
DG
1972
12:54 6:52 4:24 8:50 33:00
Dass Mendelssohn nicht zu den bevorzugten Komponisten Karajans gehörte ist allgemein bekannt. Sein Repertoire sah anders aus: Beethoven, Brahms, Strauss und Bruckner waren seine Hausgötter, die ständig wiederholt wurden. Es kann angenommen werden, dass Karajan diese Sinfonie sogar nur erlernt und mit dem Orchester eingeübt hat, um seine Gesamtaufnahme der Sinfonien dieses Komponisten zu komplettieren. Vielleicht hatte er auch noch etwas dem Komponisten gegenüber gut zu machen? Vielleicht war genau das aber auch ein Segen, dass die Partitur frisch erarbeitet werden musste, denn das Ergebnis hört sich ebenso ungewöhnlich für das Werk wie auch ungewöhnlich für den Personalstil des Maestro an, nämlich frisch und unverbraucht, individuell, geradezu liebevoll-innig und hingebungsvoll.
Doch eins nach dem anderen. Der 1. Satz erhält großes Format. Sofort bemerkt der Hörer die typische Legatokultur Karajans und der Philharmoniker zu jener Zeit. Die Crescendi und Decrescendi auf jeweils einem Ton, wie ausdrücklich in den Takten 5, 6, 7 und dann wieder in 15, 16, 17 und 18 notiert sind, ignoriert Karajan (allerdings wie viele andere auch). Sie passen wahrscheinlich nicht in seine Vorstellung des linienorientierten Spiels. So hört man im Andante vielleicht mehr Karajan als Mendelssohns Vorbild an dieser Stelle, Palestrina, jedoch ist das Spiel ungemein ausdrucksvoll. Keineswegs unpassend sondern natürlich und bereits ziemlich weit in die Romantik gerückt. Die beiden „Dresdner Amen“ klingen fast wie eine kleine Gralserzählung, nirgends klingen sie so von innen magisch leuchtend schön und unerreichbar wie hier. Wie eine Verheißung. In diesem Stadium darf das auch so sein, denn die Glaubenskämpfe folgen ja erst im Hauptsatz.
Das Allegro con fuoco erklingt energisch und aufgewühlt, nicht in dem Maß wie bei Bernstein oder gar Mitropoulos aber doch für Karajan-Verhältnisse extrem nachdrücklich. Der Geigenklang ist von irisierender Schönheit und kontrastiert vortrefflich zu dem hier meist als Antagonist fungierenden Blech. Die bei Mendelssohn besonders heikle Balance kann man trotz der satten Besetzung der Streicher noch als gewahrt bezeichnen, bilden die Bläser doch ein im Klangvolumen ebenso fülliges Gegengewicht. Das Orchester hat in jener Zeit seinen klanglichen Zenit erreicht. In der Durchführung werden die dynamischen Kontraste durchaus ausgereizt und dramatische Akzente gesetzt. Durch die Durchführung „restlos erschöpft“ wird die Reprise deutlich langsamer begonnen. Der weitere Verlauf wird trefflich gesteigert. Der ganze Satz erscheint unter einen großen Bogen gespannt, aus dem nur die drei „Dresdner Amen“ wie Inseln auratisch hervorscheinen. Die Philharmoniker werden ordentlich gefordert und sind mit großem Ernst und gespannter Virtuosität bei der Sache.
Die beiden Binnensätze gelingen in dieser Einspielung, wenn man vom – wohl von vielen Musikliebhabern möglicherweise als zu langsam empfundenen – Tempo im 2. Satz und was sicher noch wichtiger wäre, von Mendelssohn deutlich schneller gewünschten Tempos einmal absieht in einzigartiger Weise. Nach den Kämpfen im 1. Satz wirkt der 2. nun geradezu unwirklich verspielt, wie aus einer anderen Welt. Karajan lässt ihn extrem klangverliebt und innig spielen. Das betrifft die Phrasierung und die Artikulation gleichermaßen. Das Holz, die Bratschen und Celli sind dabei an Klangschönheit nicht zu überbieten. Das Verhältnis von Streichern zu Bläsern erscheint hier sogar als vollkommen. Im Trio kann man die Spielkultur nur bewundern. (Eine Oboe zum verlieben! In die Celli eigentlich gleich mit.) Man hört hier auch keinen Breitwandsound, der manche der Einspielungen Karajans schwer erträglich macht. Man agiert stilvoll, versiert und ganz fein. Fast ein Wunder, jedenfalls aber ein Hochgenuss.
Der 3.Satz mit einer Cantabilität wie aus einer anderen Welt gelingt anmutig und innig. Er wird mit berührender Akkuratesse gespielt und geht zu Herzen. Das Rezitativ in der Mitte des Satzes lässt an die Jesusrezitative der Passionen Bachs denken und wird ebenso bis zu tiefer Tragik ausgelotet. Keine andere Aufnahme kommt da heran. Allein die Realisierung dieses Satzes würde es schon erlauben, diese Einspielung an Spitze zu stellen. Der 4. Satz glänzt mit meisterhaft gestalteten Übergängen. Das Allegro maestoso wirkt nicht pompös, auch wenn sich das Staccato bei Karajan hier als der kleine Bruder des Legato outet, also die Ähnlichkeit gegenüber der Verschiedenartigkeit deutlich überwiegt. Die Steigerungsverläufe sind toll angelegt, die Celli erneut Sonderklasse, die Klarinette spielt endlich einmal wirklich das geforderte dolce und nicht nur den Standard-Ton und die Fugati sind eine Pracht. Ein Finale mit Glanz und Gloria beschließt die Sinfonie, erhaben und auch nicht ganz ohne Pathos, aber das ist hier doch auch bereits irgendwie mit einkomponiert.
Die ganze Sinfonie klingt einfach so, dass man selbst gerne sofort konvertieren möchte. Vor allem die beiden Binnensätze erreichen eine unerhörte Sensibilität und Ausdruckstiefe. Der Klang der Aufnahme ist voll und saftig, könnte aber durchaus noch etwas transparenter sein. Noch eine Warnung zum Abschluss: Trotz aller hier geschilderten Euphorie seien die Verächter der orchestralen „Vollfettstufe“ und diejenigen, die den Dirigierstil Karajan von vorne herein ablehnen, vor der Aufnahme gewarnt. Agiler und gewissermaßen zeitgemäß „halbfett“ klingen die drei im Folgenden genannten Orchester. Dass die Berliner da auch wieder dabei sind, ist durchaus kein Widerspruch.
5
Leonard Bernstein
New York Philharmonic Orchestra
CBS – Sony
1967
11:46 6:24 3:58 8:59 31:07
Leonard Bernstein hat die Sinfonie zwei Mal eingespielt, wobei die erste mit den New Yorkern die zweite mit dem Israel Philharmonic in jeder Beziehung übertrifft. Sie gelingt emotional packender, anrührender und unmittelbarer. In Punkto Unmittelbarkeit ist sie auch der Karajan-Einspielung überlegen.
Der 1. Satz beginnt schon gleich ausdrucksvoll und spannungsgeladen. Holz und Streicher sind zudem viel enger verzahnt als beim gerade zuvor gehörten Ashkenazy. Die sf haben Saft und Kraft. Die reichhaltige Dynamik wird im Sinne des Spannungsaufbaus eingesetzt und ist keinesfalls Selbstzweck. Der Scan der Originalpartitur, die Bernstein zu dieser Aufnahme nutzte, ist übrigens im Archiv der Philharmoniker unmittelbar einsehbar. Der Gegensatz zwischen pp und ff ist größtmöglich, wenn man einmal von der Aufnahme Heras-Casados absieht. Das Allegro con fuoco begeistert mit Streicherfiguren, die trefflich loderndes Feuer imaginieren. Der dramatische Widerstreit wird eindrücklich erfahrbar. Das Orchester spielt mit stupender Virtuosität, was ihm beileibe nicht in allen Aufnahmen gelingt. Auch hier wird die ganze Palette an Dynamik und Farbe genutzt. Das Tempo wirkt beinahe wie direkt vom Heiligen Geist inspiriert. Das Stringendo gelingt herausragend. Das dritte „Dresdner Amen“ wirkt nach dem Geschehen der Durchführung noch reiner und klarer. Aber auch bei Bernstein, trotz Verwirklichung der überreichen Artikulationsanweisungen und des aufopferungsvollen fulminanten Kampfes, bleibt nur ein die in Bezug auf die Glaubensproblematik unaufgelöstes Satzende. Bis dahin gab es aber kein Nachlassen bei Spannung, Drive und Ausdruckswillen.
Der 2. Satz betont das Rhythmische und Tänzerische mehr als dies bei Karajan der Fall war. Das Ergebnis ist tatsächlich vivace. Die Charakterisierung gelingt minuziös besonders auch durch die exakte Beachtung der Partituranweisung und deren eloquente Umsetzung. Auch hier wirkt die Dynamik anspringend und reichhaltig differenziert. Im kurzen Trio gelingt eine treffliche kleine Schilderung des Landlebens. Gegenüber den Berlinern könnten die New Yorker Holzbläser und die Celli aber noch eloquenter und „schöner“ klingen. Aber die frische „Würze“ der New Yorker hat auch ihre Liebhaber verdient. Für den 3. Satz lässt sich Bernstein die nötige Zeit, um das Gebet zur freien Entfaltung zu bringen. Die Phrasierung gelingt sprechend im Sinne einer Klangrede mit flexibler, innig wirkender bisweilen gar brüchiger Stimme. Die Violinen klingen mit dem vollen, aber fein differenzierten Ton genau richtig, um ein kleines Drama ablaufen zu lassen. Allerdings ist der Einsatz der Flöte 3 Takte nach A als einziges Manko viel zu laut und aufdringlich geraten. Er sollte pp sein.
Zu Beginn des 4. Satzes wird der Choral in allen Nuancen genau ausgehört und jede einzelne Stimme genauestens akzentuiert, wodurch sich ein enorm plastischer Gesamteindruck ergibt. Das Allegro vivace als Überleitung klingt sehr lebendig, die meisten Einspielungen ignorieren hier den Zusatz vivace und verfehlen auch den Allegro- Eindruck. Nicht so Bernstein. Auch im Allegro maestoso duldet er keine gefühlsduselige Frömmigkeit sondern findet zu einem vorantreibenden freudig erregten Duktus. Die Fugati sind bestens durchhörbar. Nur bei 6:40 liegen die Hörner etwas daneben, aber das kann den inspirierten, geistvollen Fluss der Musik nicht hemmen. Der Schluss gipfelt in einem erhabenen Choral voller Saft und Kraft.
Obwohl älter als die zuvor gehörten Einspielungen von Abbado und Ashkenazy klingt die Aufnahme von 1967 voller und runder, zudem auch wesentlich transparenter. Sie ist lebendig, dynamisch und angenehm präsent und bietet ein sehr farbiges, pralles und offenes Orchesterpanorama. Gewarnt werden soll hier noch von einer Pickwick-Duet-Ausgabe, die die Sinfonien 3,4, und 5 vereint aber der gelungenen Interpretation der 5ten mit einem vergleichsweise ausgemergelten, undifferenzierten und verfärbten Klang nicht gerecht wird. Von diesen drei eingespielten Sinfonien gelingt Bernstein übrigens die 5. am besten.
▼ eine weitere Aufnahme desselben Dirigenten folgt weiter unten in der Liste
5
Dmitri Mitropoulos
Kölner Rundfunksinfonieorchester (heute: WDR Sinfonieorchester Köln)
Medici
1957, LIVE
11:20 6:15 3:47 8:55 30:17
MONO Mitropoulos in seinen früheren Jahren Freund in den späten Jahren Konkurrent und Vorgänger Bernsteins um den Posten des Chefdirigenten bei den New Yorker Philharmonikern, könnte diesem die Blaupause zu seiner Interpretation geliefert haben. Sie ähneln sich stark. Leider lag uns die New Yorker Einspielung Mitropoulos´ nicht vor, der direkte Vergleich wäre noch interessanter gewesen. Aber auch die Kölner Aufnahme zeigt Parallelen. Zuerst zeigte das Abhören der Aufnahme einen denkbar großen Kontrast zu den beiden Einspielungen Kurt Masurs. Um wie viel glutvoller gelingt die Sinfonie bei dem Griechen! Denkbar weit ist der dynamische Ambitus, die Artikulation bisweilen schroff und kantig. Das Blech blitzt fast grell immer wieder mal erhaben, mal übermächtig, mal bedrohlich aus dem Gesamtklang heraus. Die Kontraste werden fast expressionistisch ausgereizt, heftiger noch als bei den besten „Historisten“. Beim Allegro con fuoco scheint es im Sendesaal lichterloh zu brennen. Mit voller Gewalt prallen die (Glaubens)Gegensätze aufeinander, wahrlich schmerzliche Auseinandersetzungen sind da zu vernehmen. Diesbezüglich geht Mitropoulos noch über Bernstein hinaus. Die Kölner Musiker scheinen hier über sich hinauszuwachsen. Ihr Spiel ist vollsaftig und zugespitzt und leidenschaftlich sicher bis an die Grenzen des Machbaren. Die Gestaltung führt fast über Mendelssohn hinaus und lässt in ihren existenziellen Graden bereits an Bruckner (besonders an die 9.) denken. Und an Beethovens neunte, beide bekanntlich auch in d-Moll.
Der 2. Satz erklingt eigentlich in einem Tempo das bei anderen zu einer behaglichen Stimmung geführt hätte. Aber das Metrum wird sehr fest beibehalten (es wirkt aber nicht starr) und der Rhythmus wird stark akzentuiert. Hinzu kommen wie heraus gemeißelte sf. Dadurch wirkt der Gestus sehr ernst und fast unheimlich, ein Totentanz? Im Trio klingt die Oboe leider noch mit dem Klang der frühen Jahre, dünn uns recht starr. Sine verspielte Note behält dieser Satz nun nicht mehr. Er passt so ungewöhnlich gut zu seinen Nachbarn. Viel besser als in den leichten, lockeren und buchstäblich tanzbaren Versionen.
Der 3. Satz klingt extrem ausdrucksvoll. Schon die ersten beiden Takte ziehen uns hinab in die Tiefen der Verzweiflung Wenn dieser Betende „seinen“ Gott nicht erreicht, dann schafft es wohl niemand. Bewegender und expressiver geht es kaum noch. Mitropoulos macht sich keine Gedanken, ob das Spiel stilistisch der Frühromantik adäquat ist, er lässt spielen, als sei es seine tiefste Herzensangelegenheit oder als ginge es gar um Leben und Tod.
Im 4. Satz beginnt die Flöte dankenswerter Weise mit sehr wenig Vibrato auch hier sind die Einzelstimmen sehr gut verfolgbar. Auch hier klingt das Allegro vivace toll und auch das Allegro maestoso spannend. Obwohl im gemäßigten aber festen Tempo. Jedes Marcato bohrt sich in das Bewusstsein des Hörers. Der fast statuarische Ernst könnte auch an eine Klemperer-Aufnahme denken lassen. In jedem Fall aber an eine feste Burg uneinnehmbar und wie aus dem vollen Granitstein gehauen.
Seltsam an dieser Einspielung waren nur ein paar zusätzliche Takte vor dem Schlusschoral, die in keiner anderen zu hören waren. Merkwürdig genug klangen sie im Gestus, als wären sie „Wellingtons Sieg“ (Beethoven) entsprungen.
Der Klang der Mono-Aufnahme ist extrem dynamisch, sogar recht transparent aber auch mit einem etwas rauen Gesamtklang versehen.
5
Lorin Maazel
Berliner Philharmoniker
DG
1961
10:29 5:16 3:00 7:50 26:35
Diese Einspielung dürfte zu den erfolgreichsten (Nicht-Karajan-Einspielungen) des Katalogs der DG gehören. Seit ihrem Erscheinen blieb sie immer greifbar, meist gemeinsam mit der Italienischen bisweilen aber auch in Kombination mit anderen Werken (z.B. Francks Sinfonie d-Moll). Im Gegensatz zur Einspielung Karajans beherzigt Maazel die Schwelldynamik in den dort angegebenen Takten ganz genau. Die Einleitung ist durchaus gespannt, das „Dresdner Amen“ jedoch kein Verweis auf Wagner sondern eher schlicht aber auch licht gehalten. Die Aura Karajans wurde wohl auch gar nicht beabsichtigt. Das Orchester nimmt auch hier sofort für sich ein, hat aber unter Karajan noch mehr Feinschliff, Brillanz und auf eine gewisse Weise dieses Mal auch Ausdruckskraft. Das Allegro con fuoco wird von einem jugendlich-ungestümen Vorwärtsdrang geprägt, der kein Pardon kennt. Wie im Sturm wird die letzte Patina hinweggefegt. Die Akzente sitzen „auf den Punkt“ genau. Soweit es der Sturmlauf erlaubt wird auch die Detailarbeit noch hinreichend geleistet. Es werden echte Glaubenskämpfe ausgetragen. Der vorgelegte Impetus lässt sich wohl als ausgereizt aber auch keinesfalls äußerlich bezeichnen. Wie schon beim kürzlich vorgelegten Vergleich des „Capriccio espagnol“ gelingt es Maazel vor allem in den Ecksätzen die Berliner aus der Reserve zu locken und das Spiel mit einer hier fast schon fiebrigen Intensität aufzuladen.
Der 2. Satz kommt dem von Mendelssohn angesprochenen imaginierten Volksfest wohl sehr nah mit dem temperamentvollen Duktus und dem extrovertierten Ton. Das beschwingte Trio überzeugt mit deutlichem Flötengezwitscher. Die Bläser und die angesprochenen Streichergruppen spielen noch nicht mit derselben Leuchtkraft aber mit einer akzentreicheren Phrasierung. Der 3. Satz, erheblich schneller als bei Karajan wirkt durch diese Maßnahme zwar nicht gerade oberflächlich, erhält aber keinesfalls die singuläre Tiefe wie bei Karajan. Der Charakter ist eher liedhaft und gleicht einem Intermezzo. Allenfalls wird im Gebet von einer Glaubenskrise erzählt, sie aber keinesfalls selbst durchlebt oder durchlitten.
Auch im 4. Satz profitiert der Eingangschoral vom farbigen Spiel der Berliner, der sich zu einem kräftigen, sehr transparenten Gemeindegesang entwickelt. Immer mehr Individuen (= Instrumentalisten) schließen sich an. Auch das Allegro maestoso klingt kraftvoll und zielstrebig, wird recht scharf teils gar schroff akzentuiert. Die Fugati klingen hier mehr nach Mozart als nach Bach, aber Mozart war ja auch ein großes Vorbild für den jungen Mendelssohn. Das atemlose Bekenntnis wird spannungsmäßig unter einen weiten Bogen gespannt. Stets fällt aber auch die hohe Transparenz bei der doch schon recht alten Aufnahme ins Ohr. Das Finale wird „mit vollem Werk“ mächtig herausposaunt, dass es dem Hörer fast den Atem verschlägt. Gegenüber Bernstein fehlt die Tiefe des 3. Satzes und bei gegenüber dessen Klangbild die letzte Transparenz.
Der Klang ist aber generell offen, geschmeidig, brillant, voll fast prall. Nur die Transparenz könnte noch etwas besser sein.
4-5
Charles Munch
Boston Symphony Orchestra
RCA
1957
10:38 4:07 3:24 8:47 26:56
Auch als SACD. Charles Munch bildet zwar in seiner Darstellung nicht die Quadratur des Kreises, bildet aber so etwas wie die Quersumme aus den Einspielungen von Mitropoulos, Maazel und Toscanini. Es überwiegt großer Ernst, dieser wird aber auch kombiniert mit einem „Schuss“ sportiver, beinahe zügelloser Virtuosität. Das Orchester klingt besser als die Kölner oder das NBC, an die Klangfülle und den Feinschliff der Berliner bei Maazel kommen die Bostoner hier aber nicht heran. Der brennende Impetus lässt die Einspielung fast an die diejenige Mitropoulos´ herankommen, sie ist aber nicht ganz so drastisch und unerbittlich. Dennoch wird Espressivo hier großgeschrieben. Der Verhältnis Streicher/Bläser wirkt noch ausgewogen, bisweilen drängen sich jedoch die Violinen ungestüm vor, bisweilen gehört die Bühne aber auch dem extrem knackigen Blech. Der Satz wird insgesamt virtuos und mit großer Hingabe gegeben. Mendelssohn interpretiert wie Beethoven oder als Hochromantiker unter vollen Segeln. Da bleibt kein Raum für anämisches Spiel, wie man es allzu oft von Mendelssohn-Aufnahmen kennt.
Der 2. Satz erklingt denn auch mit großem Ernst, fast wie ein Scherzo von Beethoven. Manche Biographen behaupten ja, Mendelssohn wäre einer der wenigen Nachfahren gewesen, die kein Problem mit Beethoven und dem Komponieren von Sinfonien nach ihm gehabt hätten. Mit ihm auseinandergesetzt hat er sich aber bestimmt, das hört man der 5. oft an und in der Darstellung Munchs besonders. Das Tänzerische wird voll ausgespielt, aber viel zu Lachen gibt es hier während des Tanzens nicht. Wahrscheinlich um die Sinfonie auf eine Plattenseite unterzubringen, lässt Munch die Wiederholung der Takte 10 – 62 und die Wiederholung des Trios weg. Eine in diesem Vergleich einmalige (Un)Tat.
Im 3. Satz gestaltet Munch das Gebet erheblich konzilianter als Mitropoulos, aber nicht weniger konzentriert. Es wirkt nun eher wie eine nachdrückliche Bitte. Die Violinen klingen nun erheblich weicher als noch im 1. Satz und auch als die Violinen bei Mitropoulos. Sehr frei und intensiv im Duktus vor allem auch das kurze Rezitativ in der Mitte des Satzes.
Der Anfangschoral im 4. Satz erhält sehr individualisierte und charakteristische Stimmen und lässt sich so transparent gestaltet sehr gut verfolgen. Das Allegro maestoso klingt bei allem Impetus erheblich transparenter als bei Mitropoulos, keine Stimme wird vernachlässigt. Das Orchester spielt stets ausdrucksvoll (fabelhafte Celli) und mit einem reichhaltigen und farbigen Klang, was in diesem Satz oft weniger gut gelingt. An die Berliner (mit Karajan und Maazel) und New Yorker kommt das BSO aber auch in diesem Satz nicht ganz heran. Zudem wirkt der ungemein temperamentvolle Gestus geistreich und inspirierend.
Der Klang ist sehr offen und präsent. Die pralle Dynamik überzeugt. Die Transparenz ebenso. Sowohl beim CD-Layer der SACD als auch bei der parallel gehörten XRCD. Die XRCD wirkte dabei noch urwüchsig-dynamischer, die SACD runder und ausgewogener. Bisweilen verzerren die ungestümen ersten Geigen im ff etwas, vor allem bei der XRCD.
4-5
Leonard Bernstein
Israel Philharmonic Orchestra
DG
1978
11:34 6:23 3:48 8:58 30:43
Das Orchester haben wir noch vom Capriccio espagnol unter Mehta in Erinnerung. Hier klingt es deutlich geschliffener und auch präziser. Die dynamische Spreizung ist zwar immer noch überdurchschnittlich und die Verläufe immer noch spannend, aber an den spontanen und unmittelbar wirkenden Zugriff der New Yorker kommt diese Einspielung nicht mehr heran. Die sf und ssf wirken auch nicht mehr so expressiv. Das con fuoco und stringendo wirken aber immer noch ziemlich mitreißend. Der 2. Satz erscheint rhythmisch noch etwas geschärfter, dennoch nicht mehr so quicklebendig. Man spürt nun mehr Melancholie und nostalgische Erinnerung.
Im 3. Satz wurde die kritisierte f-Stelle der Flöte nicht mehr wiederholt, sie klingt jetzt wie von Mendelssohn gewünscht p. Die ersten Violinen können das Kunststück der New Yorker nicht wiederholen, sie klingen weniger flexibel, voll und ausdrucksvoll. Im 4. Satz hören wir mit den Holzbläsern eine besonders hellhörig und schön herausgearbeitete Harmoniemusik, die dann in Kombination mit dem Blech wie eine Kirchenorgel klingt. Eine gelungene Assoziation, falls sie von Bernstein beabsichtigt wurde. Der Übergang zum Allegro maestoso klingt nun nicht mehr so beherzt und furios vorantreibend. Generell wird der ganze Satz nicht mehr mit der Unbedingtheit und der packenden Dramatik aufgeladen wie noch 1967. Er wird aber immer noch klug disponiert gesteigert und wirkt auch keinesfalls uninspiriert. Entweder Bernstein konnte das Orchester nicht so überragend motivieren oder es kann mit der Qualität der damaligen New Yorker einfach nicht ganz mithalten. Das IPO wirkt generell etwas bemüht und blasser als die aus dem Vollen schöpfenden New Yorker.
Ist die 1967er stilistisch eher hochromantisch orientiert, klingt die mit dem IPO eher nach Klassizismus. Ihren Rang hat sie sich jedoch sehr wohl verdient.
Der Klang der Aufnahme ist weit weniger hallig als der bei der Abbado-Aufnahme desselben Labels und viel besser durchhörbar. Sie klingt aber weniger plastisch und dynamisch und zudem etwas trockener und flächiger als Bernsteins 1967er. Auch in dieser DG-Aufnahme wirkt das Orchester etwas zurückgesetzt, wenn auch nicht so übertrieben wie bei Abbado. Angeblich handelt es sich hier um einen Live-Mitschnitt. Vom Publikum ist aber nichts zu hören.
4-5
Colin Davis
Staatskapelle Dresden
Hänssler
1997, LIVE
12:20 6:45 3:53 9:27 32:25
Von Colin Davis lagen zum Zeitpunkt des Vergleiches zwei Aufnahmen vor. Zu dieser mit den Dresdnern gesellt sich noch eine weitere mit dem Sinfonieorchester des BR. Beide werden, wie wir es von diesem Dirigenten schon mehrmals gehört haben, aus der Ruhe heraus entwickelt. Die Dresdner wirkt dabei bereits im 1. Satz deutlich bewegter als die Münchner, viel mehr, als es die nur etwas kürzere Spielzeit suggeriert. Das Orchester klingt ganz hervorragend und noch etwas „griffiger“ als das Münchner Renommierorchester. Es verlässt auch seine Komfortzone mehr als es Davis bei den Münchnern gelang, denn wir hören ein spannenderes, etwas kontrastreicheres und auch ausdrucksvolleres Spiel. Besonders hervorzuheben ist, dass den Dresdner Musiker „ihr Amen“ besonders leuchtkräftig gelingt, wenngleich sie Karajans Magie nicht ganz erreichen.
Als etwas zu langsam erscheint der 2. Satz. Ein Allegro vivace müsste sich eigentlich flotter und tänzerischer anhören. Immerhin gelingt es hier etwas lebendiger als in München. Aber was für ein Genuss sind die eloquenten und klangschönen, man darf ruhig schreiben „herrlichen Holzbläser“ und die „wundervollen Celli“ der Staatskapelle. Der Satz wird sehr behutsam und mit viel Liebe zum Detail in einer besonderen Kantabilität gestaltet. Ein gefühlvolleres Spiel ist kaum vorstellbar. Ein Scherzo ist es aber nicht, das hier gegeben wird.
Beim 3. Satz gibt es keine nennenswerten Unterschiede zur Münchner Einspielung, hier klingt es eher noch etwas intensiver.
Auch der 4. Satz, natürlich erneut mit den herrlichen Holzbläserfarben, nicht nur zu Beginn, erklingt nun durchweg gespannter als in München. Das Allegro vivace könnte ebenso wie dort jedoch lebendiger sein, das Allegro maestoso wirkt hingegen durch den gesteigerten Impetus deutlich vorantreibender. Die Fugati werden deutlich herausgearbeitet. Das Spiel begeistert, obwohl energischer und spannender geraten als in München, aber ebenso mit viel Feinsinn. Das Finale klingt bei Davis und der Staatskapelle besonders festlich also der ursprünglichen Absicht des Komponisten, wie wir annehmen müssen, besonders gerecht werdend. Leider liegen ausgerechnet vor dem Schlusschoral die Hörner etwas daneben. Live ist eben Live. Eine in sich konsequente und sehr stimmige Einspielung.
Auch der Klang dieser Aufnahme des MDR ist dem des BR überlegen. Er klingt offener, dynamischer und klarer. Man bemerkt hier durchaus, dass sich die Aufnahmetechnik in diesen Jahren weiterentwickelt hat. Der Beitrag des Publikums ist aus akustischer Sicht vernachlässigbar.
4-5
EFK
Andrew Manze
NDR Radiophilharmonie Hannover
Pentatone
2017
11:12 6:00 4:19 2:29 8:11 32:11
SACD Manze, eigentlich von der Barockmusik herkommend und ein Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, wählt hier eine ohrenscheinlich recht opulente Besetzung der Streicher und lässt außer einem ziemlich vibratoarmen Spiel im Resultat eher an die herkömmlichen Interpretationshaltung denken, wobei diese ja auch mittlerweile alles andere als uninformiert war oder ist. Er bildet klanglich so eine Art Schnittmenge aus den neueren Aufnahmen von Fey, Gardiner, Heras-Casado oder Manacorda einerseits und Litton und Gardner andererseits, wobei er den letzteren eher mehr gleicht. Manze verwendet die neue Partiturausgabe mit der erweiterten Flötenkadenz, was die oben beschriebenen Vor- bzw. Nachteile mit sich bringt.
Manze hält auch das Andante im 1. Satz fließend, die dynamischen Kontraste werden ausgereizt aber nicht forciert. Vor dem „Dresdner Amen“ baut Manze eine kurze Pause ein, wahrscheinlich um die Spannung etwas zu steigern. Das Allegro con fuoco geht er mit großer Entschlossenheit an. Die Ergänzungen (einige Takte nur) im 1. Satz erschienen uns eher redundant. Sein Stringendo klingt unwiderstehlich.
Das Klangbild im 2. Satz klingt offener und auch etwas luftiger als im Satz zuvor. Es wird auch für die anderen beiden noch folgenden Sätze beibehalten. Manze lässt hier die Musik wie von selbst fließen, im Trio weicht jeder Druck und es entsteht, wie in einer Miniatur-Pastoralen, ein kleines ländliches Idyll, das Orchester wartet mit einigen berührenden Momenten auf.
Im 3. Satz wählt der Dirigent ein sehr langsames Grundtempo, wie dehnbar doch so ein Andante sein kann...Gekonnt wird hier mit einer bewusst starren und auch relativ harten Artikulation eine kurze aber klare Abrechnung mit dem betreffenden Gott (oder vielmehr der betreffenden Kirche) gemacht. Der zusätzliche kleine Satz mit der erweiterten Flötenkadenz nutzt die Flöte zu einem großen Auftritt, stilvoll und vibratolos. Für unseren Geschmack wirkt das Tempo hier etwas gedehnt.
Auch der 4. Satz beginnt mit einem zwar deutlichen, aber auch gedehnten Choral. Die einzelnen Stimmen (Gläubigen?) müssen sich erst noch sammeln und ihren neuen Glauben in Stellung bringen, bevor das Allego vivace und maestoso mit inspirierten und hellwachen Spiel (besonders die Violinen gefallen dabei) mit ordentlichem Zug die Glaubengemeinschaft mitreißen. Manze gelingt es zwischen warmen Klang und vorantreibendem Impetus die Waage zu halten.
Die Technik sorgt für großräumige Klangverhältnisse und gute Staffelung. Es wird eine sehr natürlich wirkende Konzertsaalatmosphäre erreicht. Voll und üppig klingt das Orchester, also auch nicht gerade historisierend. Empfindlichen Ohren könnte es schon zuviel der Raumwirkung sein und der Hall zu dominant vorkommen.
4-5
Peter Maag
Orquesta Sinfonica de Madrid
Arts
2000
12:15 6:11 4:26 8:22 31:14
Das Orchester aus Spanien geht nicht so verschwenderisch mit dem Klang um. Er wirkt stets eng umrissen und fokussierter als die Klangwolken aus Hannover. Das unterstützt die Interpretationshaltung des Dirigenten merklich. Er befördert im 1. Satz einen tragischen Unterton mit archaischen und statuarischen Blech. Die Temponahme zu Beginn mit dem langsamen Andante unterstützt diese Anmutung zusätzlich, ebenso die außerordentlich nachdrückliche, kontrastreiche Artikulation. Man fühlt sich durchaus zurück ins (fast noch) Mittelalter versetzt. Es folgt ein sehr spannendes, ziemlich rubatoreiches und mit großem Ernst dargebotenes Allegro con fuoco. Die Phrasierung des Orchesters klingt klar und keinesfalls schwerfällig. Anders als beim zuvor gehörten Andrew Litton. Die Spielweise ist jedoch nicht sonderlich frei und locker, vielleicht ein Hinweis darauf, dass Maag es bis an seine Grenzen fordert? Auffallend ist bei der ansonsten wie selbstverständlich wirkenden Beherzigung der Spielanweisungen, dass das „Dresdner Amen“ bei Maag keine dynamische Abstufung erfährt. Insgesamt gefällt die Gestaltung des 1. Satzes mit seiner sehnsuchtsvollen Note, die sonst weniger zu hören ist, sehr gut.
Der 2. Satz fällt dem gegenüber etwas ab. Er wirkt eher exakt als lebendig gegeben. Teilweise gar behäbig. Für ein Gestaltung als Scherzo würde die humoristische (sei es auch bärbeißig wie mitunter bei Beethoven) fehlen. Als Menuett würde er fast eher durchgehen. Im Trio bleibt entsprechend die Flöte gegenüber der Oboe zu weit im Hintergrund, also keine „Zwitscherflöte“. Das angesprochene bayerische Brauchtum würde hier ziemlich bieder rüberkommen.
Das Andante des 3. Satzes wird sehr langsam intoniert. Das kurze Rezitativ in der Mitte klingt zu zurückhaltend und zu starr. Karajan gelang der Satz erheblich anrührender mit dem ihm zur Verfügung stehenden verschwenderischen, hoch emotionalen Orchesterklang an seiner Seite. Maag klingt dagegen trocken. Man denkt unweigerlich eher an eine dunkle, ja düstere Kirche mit wenig Lichtblick. Der 4. Satz beginnt mit einem weihevollen Andante con moto, vielleicht nur um dann im Allegro vivace alles an Beschleunigungsvermögen herauszuholen. Das gelingt nur wenigen Vertretern der herkömmlichen Praxis so überzeugend. Auch das Maestoso wirkt angetrieben, die sf und fp genauestens beachtend und nicht zuletzt darum auch sehr lebendig. Die schlanke Tongebung des Orchesters befördert die Transparenz der Fugati ungemein.
So lässt sich zusammenfassend schreiben, dass sich in Maags Einspieling zwei sehr für dich einnehmende Ecksätze zwei weniger intensiven Binnensätze, die uns nicht so ansprachen, gegenüber stehen. Eine etwas heterogene Angelegenheit. Da war wieder das arithmetische Mittel gefragt (2x5 und 2x4).
Der Klang der Aufnahme ist ebenfalls eher schlank als voll. Das Orchester erhält eine gute Staffelung und Transparenz. Der Kangkulinariker wäre sicher mit Manze besser bedient. Der Asket eher mit Maag.
4-5
Louis Lortie
Orchestre Symphonique de Quebec
Atma
2009
10:00 4:29 3:02 7:25 24:56
Schon wieder ein dirigierender Pianist? Ja, aber warum auch nicht. Der Name ist uns ja noch vom Vergleich der Aufnahmen des 2. Klavierkonzertes von Camille Saint-Saens in bester Erinnerung und er hat auch vor dem Orchester alles im Griff. Das fängt schon mit einem ausgewogenen Verhältnis der Gruppen im Orchester an. Die Bläser erklingen stets sehr deutlich und werden von den Streichern, auch wenn sie in der Durchführung des Hauptsatzes die wildesten Figurationen spielen nicht verdeckt. Die dynamischen Kontraste könnten hingegen etwas mehr ausgereizt werden, vor allem den ff fehlt etwas die geforderte Dominanz. Insgesamt gelingt diese Darstellung jedoch durchaus stimmig, jedoch vermissten wir durch den durchgängig samtweichen und leicht entfernten Klang etwas die „Pranke“ des Kampfes der Gegensätze und den gerne auch einmal scharfen „Biss“ des Blechs.
Der 2. Satz gelingt pointiert mit einem durchaus zugespitzten Verlauf. Der Scherzo-Charakter wird hier konsequent nachgezeichnet, durchaus auch mit Spielwitz und humorig. Auch im 3. Satz gelingt die Darstellung, trotz des zügigen Tempos, sehr intensiv. Mit dem flexiblen Spiel wird der Nerv des Satzes genau getroffen. Auch der Choral und das temperamentvolle Allegro vivace wissen zu gefallen. Das Allegro maestoso klingt leicht und locker mit leuchtendem Geigenklang. Bei den Fugati gefällt das sehr leicht genommene Marcato, der den Bach-Anklängen sogar fast schon Flügel verleiht und beinhae mozartisch klingen lässt. Es klingt wie losgelöst, schwerelos. Das Orchester zeigt sich eigentlich ohne Schwächen.
Dies war keine Zufallsproduktion, kein Füller um die CD noch zu den beiden Klavierkonzerten auf eine ordentliche Spielzeit zu bringen. Mehr scheint es, der Pianist habe sich hier mit großer Professionalität einen Herzenswunsch erfüllt. Im Ganzen wirkt die Sinfonie, gerade auch im Vergleich zu der Maags geradezu leichtgewichtig.
Der Klang zeigt eine sehr gute Transparenz. Die Staffelung gelingt auch in der Tiefe gut. Der Klang kommt wie auf Samtpfoten daher, könnte aber vielleicht noch etwas brillanter und profilierender sein. Durch die etwas distanzierte Dispostion des Klangs geht die rechte Durchschlagskraft im ff etwas über Gebühr verloren.
4-5
Wolfgang Sawallisch
New Philharmonia Orchestra London
Philips
1966
11:33 5:54 3:29 8:57 29:55
Neben der Maazel-Aufnahme dürfte die Einspielung Sawallischs als Klassiker unter den Einspielungen der Reformations-Sinfonie gelten und vielen dürfte sie als gute Bekannte in bester Erinnerung sein. Sawallisch und sein Orchester zeigen sich kenntnisreich, gut vorbereitet und durchaus inspiriert. Im Andante verzichtet auch er (wie bereits Karajan und andere) auf die Schwelldynamik. Er zieht den geraden Ton vor. Die Bläser kontrastieren den weichen Streicherklang sehr gut. Eindeutig werden sie als Aggressoren dargestellt. Im Allegro con fuoco bemerkt man noch deutlicher, dass das Orchester hier bei Philips viel weicher und runder als bei vielen Klemperer-Aufnahmen klingt. Das Spiel wirkt auch farbiger als die bei den anschließend in der Liste erscheinenden Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Dohnanyi. Auch dramatischer, ohne aber ohne den Zugriff von Mitropoulos, Bernstein oder Munch zu erreichen, wo der Glaubenskrieg an vorderster Front tobt. Sawallischs Darstellung trifft die Mitte. Im 2. Satz wird sorgfältig phrasiert und alles mit einem großen Ton bedacht. Der rhythmische Aspekt erscheint ein wenig zackig, aber noch beschwingt. Es gibt viele schöne Momente zu genießen. Der 3. Satz erklingt solide und gekonnt, die Violinen klingen schön aber ohne die strahlende Homogenität der Berliner unter Karajan, von der Tragik dieser Einspielung ist Sawallisch weit weg.
Im 4. Satz beginnt die Flöte mit erfreulich wenig Vibrato. Das Allegro vivace klingt temporeicher als zumeist. Die Übergänge gelingen geschmeidig. Das Maestoso könnte aber etwas lebendiger sein, hier wird nichts übertrieben. Der Bass wird nicht aus den Augen verloren und klingt erheblich besser durchgezeichnet als beim kurz zuvor gehörten Prohaska. Aber nichts klingt hier majestätisch oder gar bombastisch. Stets bleibt Sawallisch mehr der sachliche Verwalter der Musik Mendelssohns.
Ein konservativer Mendelssohn im besten Sinn erklingt bei Sawallisch, ein Mendelssohn der Mitte. Irgendwie wirkt dies sympathisch auf uns. Man könnte fast glauben, die konservative Ecke wäre vielleicht doch Mendelssohns Platz, wenn uns andere nicht bereits eines Besseren belehrt hätten.
Den Technikern gelingt eine plausible Bühne, die Streicher klingen voll und weich, das Klangbild erreicht den Hörer offen, gut gestaffelt und transparent.
4-5
Christoph von Dohnanyi
Wiener Philharmoniker
Decca
1977
11:28 5:25 3:53 8:19 29:05
Bei dieser Einspielung fällt als erstes der gut gestimmte, reine Klang des Orchesters auf. Rhythmisch präzise und durchaus dramatisch ist die Herangehensweise des Dirigenten. Nichts wird hier aufgebauscht. Das Hauptaugenmerk scheint nicht auf feurig angestimmtes Kampfesgetümmel (seien es auch nur die unerbittlichen inneren Kämpfe) zu liegen sondern darauf nur immer die Ausgewogenheit zwischen Romantik und Klassizismus zu wahren. Dabei wird Mendelssohn dennoch sehr ernst genommen. Die Wiener wirken jedoch nicht als würden sie aus der Reserve gelockt. Ihr Spiel wirkt ausgewogen, aber auch ein wenig trocken. Von Dohnanyi möchte eher absolute Musik darstellen, weniger das hinterlegte Programm, so es denn eines gäbe, was so mancher Musikwissenschaftler schon auszumachen versuchte.
Der 2. Satz erklingt rhythmisch leicht und erneut sehr exakt. Dabei erheblich detailreicher als beim gerade zuvor gehörte Delogu.. Das Musizieren wirkt gewissenhaft und nobel, das Tänzerische aber nicht vergessend. Der Satz wirkt nicht gerade positivistisch, sondern erhält auch eine melancholische Note, einen Unterton der nostalgischen Erinnerung, vielleicht aus einer Zeit, als es die Glaubenskriege von nicht gab? Der 3. Satz, recht zügig genommen, erfreut durchaus mit ausdrucksvollem Violinenklang, hier sogar mit etwas Rubato. Die legendären Wiener Streicher haben wir aber schon durchaus charaktervoller und farbiger spielen hören.
Der 4. Satz profitiert vom geschmeidigen Spiel der Wiener. Die Fugati werden sehr gut gearbeitet, das Marcato wird nicht übertrieben. Insgesamt läuft der Satz aber etwas zu glatt durch. Weniger inspiriert als z.B. bei Bernstein (IPO) oder Davis (Staatskapelle).
Gegenüber diesen beiden, aber natürlich auch den Mitgliedern im 5er Club wirkt Dohnanyis Beitrag zur Diskographie deutlich kühler und technokratischer.
Nach dem zuvor gehörten Delogu hörte sich die Decca-Aufnahme wie ein Labsal an. Besonders klar und deutlich und ohne jede Verzerrung oder Rauhigkeit. Gegenüber den besten jedoch mit wenig Tiefenstaffelung. Die letzte Brillanz oder auch Fülle (wie z.B. bei der Dresdner Einspielung von Colin Davis) fehlt ebenfalls.
4-5
Alfred Wallenstein
Los Angeles Philharmonic Orchestra
Kopie der bei der Bibliothèque National de France gelagerten LP deren Label leider unbekannt blieb
1958 ?
11:21 4:49 2:55 7:50 26:55
MONO Wie so oft beim Download-Anbieter Qobuz sind die Angaben zum betreffenden Download nur rudimentär. Label der Originalquelle, wenn sie eine LP war, werden grundsätzlich nicht genannt. Diesmal lief auch unsere Recherche leider ins Leere. Als Aufnahmedatum fungiert meistens lediglich das Datum, wann die betreffende LP ins Archiv der französischen Nationalbibliothek gewandert ist, hier war es 1958. Da Wallenstein jedoch von 1943 bis 1956 als Chefdirigent des beteiligten Orchesters fungierte, ist das tatsächliche Aufnahmedatum sehr wahrscheinlich in diesem Zeitraum zu suchen. Alfred Wallenstein dürfte den meisten Musikfreunden heute nur noch als Begleiter von Arthur Rubinstein bekannt sein, mit dem er häufig auch im Aufnahmestudio zusammengearbeitet hat. In unseren Vergleichen begegnete er uns gemeinsam mit Rubinstein bereits mit dem 2. Klavierkonzert von Camille Saint-Saens.
Wallensteins Zugriff ist, wie so oft bei Dirigenten seiner Generation, straff, fast eisern. Besonders wichtig scheint ihm gewesen zu sein, dass große Bögen gespannt werden. Liebevolle Detailausgestaltung ist seine Sache nicht. Bei Toscaninis Beitrag im Anschluss finden wir diesbezüglich einen ganz ähnlichen Ansatz. Im getragenen Andante zu Beginn verzichtet er ebenso wie andere seiner Generation auf die bereits genannte „Schwelldynamik“ auf den einzelnen Blechbläserakkorden. Das Allegro con fuoco wird ungleich geschmeidiger artikuliert als bei Toscanini. Die sf bleiben bei ihm jedoch stromlinienförmiger. Und bei ihm ist auch nicht jede Punktierung gleich eine Kriegserklärung wie bei dem legendären Italiener. Wallenstein hat immer die große Linie im Auge. Die Durchführung gelingt ihm aber auch wild und atemlos. Der Eindruck von Kriegsgetümmel stellt sich leicht ein. Das „Dresdner Amen“ wird gut phrasiert, Wallenstein lässt also keineswegs über diesen wichtigen Markstein der Entwicklung hinwegspielen. Das Orchester macht diese Tour de force anstandslos mit. Es spielt dabei durchaus klangschöner als das damals so hoch im Kurs stehende NBC SO Toscaninis.
Der 2. Satz, mit einem wirklich flotten Duktus, stampft fast wie eine Polka, wenn da nicht der falsche Takt wäre. Vielleicht hat Wallenstein auch Bayern mit Böhmen verwechselt, von Amerika aus liegt beides ja eng beieinander (kleines scherzando des Verfassers). Jedenfalls verliert er das Tänzerische nicht aus den Augen. Und er heizt den Tanzenden richtig ein, falls er denn ein Dorffest (oder Pfarrfest) suggerieren wollte. Der 3. Satz trifft den Gestus eines Gebetes sehr gut, wie zu erwarten hier auch zügig und nicht sonderlich inständig. Eher wie ein einseitiges Gespräch unter Gleichen auch hier mit nur relativ wenig Liebe zum Detail.
Im 4. Satz wird der Dirigent dem Allegro vivace voll gerecht, warum drängen da nur so wenige Interpreten so wie er? Viele lassen das Allegro weg und schleppen, andere vergessen völlig, was vivace bedeutet, nicht so Wallenstein. Auch das Allegro maestoso erhält einen drängenden, wie befreit wirkenden Gestus, so wie er Mendelssohn vorgeschwebt haben müsste. Die Philharmoniker spielen auch hier lebendiger als das NBC SO unter Toscanini. Gegen Ende imaginiert das Spiel eine spiralförmige Steigerung, als ob man sich nach oben begeben würde (gen Himmel?). Der Aufbau dieses Satzes wirkt konzise, das Tempo atemberaubend. Wallenstein bietet so etwas wie eine ganzheitliche Sicht auf die Sinfonie, spannend und atemlos, nicht gerade detailversessen, aber die Patina im Sturmwind wegblasend.
Die Crux bei dieser Einspielung ist ihr Klang. Zwar hört man so gut wie keine Laufgeräusche der alten Scheibe, (kein Rauschen, kein Knacken, kein Knistern), aber es wird nur eine enges Frequenzband bedient und auf eine räumliche Anmutung darf der Hörer auch nicht hoffen. Die Transparenz ist noch hinreichend.
4-5
Arturo Toscanini
NBC Symphony Orchestra
RCA
1953, LIVE
10:34 5:28 3:08 10:15 29:25
Wir sind hier Zeuge einer echten Live-Übertragung mit all ihren Unwägsamkeiten. Das Orchester ist mental noch nicht ganz „da“. Es wackelt ein wenig im Zusammenspiel und die Intonation des Blechs wirkt unsicher. Teilweise auch bräsig. Toscanini verlangt ihm zu Beginn jedoch die „Schwelltöne“ ab, was Wallenstein zuvor unterließ. Im Allegro con fuoco klingen die sf hart und unerbittlich, das Blech bringt seine Punktierungen wie eine Kriegserklärung, die Pauke hört sich an wie Geschützfeuer. Die Streicher brennen ihre Figurationen lodernd mit dem typischen Toscanini-Furor ab. Ihr Klang ist dabei jedoch recht „strohig“. Das „con fuoco“ gelingt hochdramatisch und aufgewühlt.
Der 2. Satz ist außergewöhnlich gestaltet. Er klingt zwar vital, aber auch voller Biss. Da gibt es nichts zu tanzen. Da stimmt was nicht, die Tanzpaare bekämen es wohl mit der Angst zu tun. Da wird zugespitzt und mit festem Zugriff musiziert. Das Trio immerhin klingt dann doch wiegend mit einer schalmeienhaften Oboe. Der 3. Satz hingegen wird gesanglich und fließend dargestellt, wie eine „Lied ohne Worte“, das Rezitativ in der Mitte jedoch ausdrucksvoll gesteigert.
Im beginnenden 4. Satz stört die Oboe den Bläsersatz doch ungemein, statt gleiche unter Gleichen zu sein, kann sie sich richtig laut und unangenehm in den Vordergrund spielen. Im späteren Verlauf hört man sie auch noch sehr präsent, wenn eigentlich das Blech mit einem gesunden Forte dominieren sollte. Sie hat sich wohl einen besonderen Platz vor dem Mikrophon gesichert. Im Allegro maestoso geht es deftig, bisweilen auch etwas ruppig aber auch inbrünstig zu, als ob sich Toscanini als Jünger Luthers verstünde. Der missionarische Eifer berührte uns ungemein, auch wenn es bisweilen ungeschliffen oder gar etwas ungelenk klang. Die Botschaft ist Toscanini offensichtlich wichtiger.
Toscaninis individuelle, vielleicht auch dem noch nicht lange zurückliegenden Krieg mit geschuldete Lesart hätte eigentlich schon in den frühen 50ern das vorherrschende Image der Sinfonie konterkarieren können. Jedenfalls zeigt sie großes Potential dazu.
Wie bei Wallenstein ist der Klang das Manko der Einspielung. Sie klingt dynamisch ziemlich eingeschränkt, dazu kommt noch, dass sie zum Scharfen hin verfärbt ist und auch noch erbarmungslos trocken klingt.
4-5
Bernard Haitink
London Philharmonic Orchestra
Philips
1978
11:08 5:54 3:54 8:13 29:09
Haitinks Auseindersetzung mit Mendelssohn krankt ein wenig an der leicht aus der Balance geratenen Besetzung. Besonders die 1. Violinen dominieren etwas das Geschehen, während die Bläser etwas benachteiligt wirken. Die Techniker hatten die Balanceprobleme zuvor bei Sawallischs Einspielung besser lösen können. Vielleicht war auch die Besetzung der Streicher einfach etwas zu stattlich. Ansonsten wirkt das Spiel des Orchesters klar, stets spannend, sauber, kontrastreich, vital und engagiert. Haitink hält sich dabei nicht allzusehr mit akribischer Artikulation auf, aber der Gestus stimmt. Im 2. Satz ist das Spiel nicht ganz so schlackenlos wie zuvor bei Gardiner oder Dohnanyi (beide WP), aber farbiger. Der Scherzo-Charakter geht eher verloren. Tänzerisch ist er schon noch, aber nicht beschwingt. Eher nachdenklich und besonnen als humorig oder aufgedreht. Das Trio gelingt schön schwebend. Auch der 3. Satz gelingt gut, ein „richtiges“ Andante, ausdrucksvoll, sowohl in den beiden gesanglichen Außenteilen, als auch im rezitativischen Mittelteil. Der 4. Satz kämpft etwas mit dem sehr zurückhaltenden wenig lebendigen Vivace, dafür gelingt das Allegro maestoso fast schon stürmisch. Nichts wird hier aber übertrieben, nicht erscheint unterbelichtet, auch die Fugati oder das Marcato nicht. Die Einspielung wirkt in sich konsequent und bodenständig, ja sie hat sogar „Zug dahinter“ und wirkt stringent. Man merkt: Haitink ist die Sache sehr wichtig. Über feine Details geht er jedoch mitunter nonchalant hinweg.
Der Klang zeigt eine gute „Mischung“ von Präsenz und Raumanmutung. Er ist recht körperhaft und dynamisch, klar und recht frisch. Viel präsenter als er z.B. bei Abbado gelang.
4-5
Riccardo Muti
Philharmonia Orchestra London
EMI
1979
12:07 6:34 4:09 8:57 31:47
Riccardo Mutis Einspielung ist derjenigen Karajans nicht unähnlich. Mitunter könnte man sogar an einen Kopierversuch denken. An reiner Opulenz des Klanges überflügelt das Philharmonia Orchestra hier sogar die Berliner Philharmoniker. Die Orchesterleistung ist ebenfalls sehr gut, der „Sound“ makellos geschliffen. Kaum jemand würde hier noch an den Orchesterklang Klemperers erinnert werden. Der 1. Satz erhält aber auch eine beeindruckende Geschlossenheit. Die Expressivität eines Mitropoulos oder Munch erreicht Muti jedoch nicht. Er zirkelt im Vergleich etwas mehr auf Größe und Erhabenheit ab, ohne es dabei jedoch an Intensität mangeln zu lassen.
Im 2. Satz klingt das Philharmonia ähnlich vollmundig wie die Berliner, ebenfalls weich und abgerundet, klar artikulierend und durchaus auch detailreich und schwebend aber etwas zu behaglich und weit entfernt vom Charakter eines Scherzos. Das Trio, etwas nostalgisch und verträumt klingt gar einschmeichelnd. Die Leuchtkraft und Fokussierung des Klangs, die Maazel und noch mehr Karajan von seinem Orchester bekommt, kann das PO nicht bieten. Das Gebet im 3. Satz wirkt hingegen etwas larmoyant, zwar sehr, sehr schön gespielt aber es zählt hier nur die Oberstimme. Die Begleitung scheint gänzlich zu verschwinden, jedenfalls klingt sie viel zu leise. Bei Muti hat dieser Satz nichts erschütterndes, kein Aufbegehren, keine Inbrunst. Der Bass klingt allerdings außergewöhnlich satt.
Der 4. Satz mit einem andächtigen Choral zu Beginn, schwillt bis zum Allegro vivace schön zu einem prächtigen ff an. Das Allegro maestoso klingt aber lange nicht so transparent wie beim zuvor gehörten Munch. Durch den opulenten Bass und das schwere Marcato bekommt Mutis Darstellung hier einen Hang zur Monumentalität. Die Soli gelingen sehr klangschön. Die Dynamik wirkt durch das wenig beherzigte pp etwas einseitig zum Lauten hin verschoben. Das Animato bei M ist, erstaunlich für Muti, nur schwach ausgeprägt. Das Finale klingt sehr breit, fast schon etwas zu monumental.
Muti gelingt insgesamt eine klangsatte Version der Sinfonie auf sehr hohem orchestralem Niveau realisiert und nicht ohne Empathie gespielt, aber auch ohne besondere Einfälle.
Der Klang bereitet dem Hörer ein wohliges, voluminöses, sehr weiches und angenehmes Klangbild bei dem es sich behaglich aufgehoben fühlen kann. Auch durch den satten Bass wirkt es auffallend dunkel timbriert. Es ist aber zu hoher Dynamik fähig.
4-5
Edward Gardner
City of Birmingham Symphony Orchestra
Chandos
2013
10:54 5:10 3:28 7:53 27:25
SACD Das Andante zu Beginn wirkt bei Gardner hochromantisch ausdrucksvoll aber auch sehr weich konturiert. Bei den zuvor gehörten Gardiner-Einspielungen wirkte alles deutlich klarer. Das Allegro con fuoco, etwas zahmer und weniger rhythmisch akzentuiert als bei Bernstein (NY), Fey oder Gardiner (vor allem LSO) lebt vor allem vom warmen und blühenden Klang der Streicher (natürlich besonders der Violinen). Trotz der gewählten großen Besetzung spielen sie detailreich, auch klanggewaltig vor allem gemeinsam mit den Kollegen der Bläserfraktion. Im 2. Satz fällt auf, dass die Dynamik lange nicht so im Vordergrund der Betrachtung steht und viel weniger anspringt als bei den vorgenannten. Auch das Tempo, im mittleren Bereich des Vergleiches, wirkt tendenziell behaglich. Wenig Scherzo-Brisanz also gegenüber den beiden Vorgängern im Alphabet (Fey und Gardiner). Der 3. Satz wird dem Charakter eines Gebetes durchaus gerecht, auch hier wieder in einem mittleren Tempo und sehr gesanglich gegeben. Nicht erschütternd, aber auch nicht oberflächlich. Gardner strebt hier eher einen Intermezzo-Charakter an. Der 4. Satz beginnt mit einem sehr flotten und dynamischen Andante con moto lässt dann aber im Verlauf wenig Unterschied zwischen sf und fp erkennen. Mit dem leichten orchestralen und gestischen „Speckansatz“ wirkt das alles etwas zu leicht und glatt. Es fehlt die Tiefe, die Bernstein auch noch mit dem IPO erreichen konnte.
Das Klangbild wirkt farbenreich, sehr klar, rund und differenziert. Die Ausgewogenheit zwischen Präsenz und Raumklang kann man als nahezu perfekt bezeichnen. Der bassstarke Klang wirkt hingegen dynamisch eher ausgewogen als aufmüpfig.
4-5
Christoph Poppen
Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern
Oehms
2007
11:11 5:35 4:24 7:28 28:38
Diese Einspielung erfolgte innerhalb einer Gesamteinspielung der fünf Sinfonien Mendelssohns als erstes großes Aufnahmeprojekt für die CD als frisch fusioniertes Orchester. Das Orchester hatte noch nicht ganz wieder die Homogenität der Bruckner-Einspielungen des Vorgänger-Orchesters (Rundfunksinfonieorchester Saarbrücken) mit Skrowaczewski erreicht. Im ruhig genommenen Andante verzichtet Poppen auf die bereits mehrfach angesprochene Schwelldynamik auf den einzelnen Tönen der Blechbläser. Er bleibt im Andante etwas blass, weniger klanglich als dramaturgisch gesehen. Dem „Dresdner Amen“ gibt er jedoch einen warmen Klang. Im folgenden Allegro con fuoco agieren das Orchester bzw. die Streicher agil, mit einer bereden Artikulation, konzentriert und wenig Vibrato. Durchaus profiliert, wenn auch lange nicht so wild wie beim zuvor gehörten Munch, nicht so jugendlich frisch wie bei Maazel oder klanglich vollendet wie bei Karajan. Auch der Dynamik, durchaus genau beachtet, fehlt ein berstendes ff. So fehlt ein wenig die existenzielle Dimension des Glaubenstreites. Er klingt zwar beachtlich aber nicht drastisch bis zum überhaupt Möglichen ausgespielt.
Im 2. Satz hören wir einen recht ernsten aber energischen Tanz, etwas zu beherrscht und daher zu wenig vivace, zu wenig überschwänglich. Im Trio erfreuen die bewegliche Oboe, die trillernd auf sich aufmerksam machende Flöte und die sonoren Celli am meisten. Nach dem Trio wird der Duktus etwas beherzter.
Der 3. Satz entspricht einem sehr ruhigen Andante, etwas schwer, fast ein wenig lastend. Die ersten Violinen könnten hier durchaus etwas mehr dolce und Homogenität verströmen, aber der introvertierte, hier fast traurige Gestus des Gebetes ist treffend erfasst und stimmungsvoll umgesetzt, sehr viel mehr als zuvor bei Paul Paray. Auch das Rezitativ klingt sehr gesanglich.
Der Choral im 4. Satz klingt sehr transparent, das Allegro vivace zu Beginn eher träge. Aber wie so oft geht hier mit dem crecendo auch ein kleines accellerando einher. Das Allegro maestoso wird sehr schnell, leicht und recht locker genommen, eigentlich sogar beschwingt und mit Esprit. Der Bläserklang überzeugt, auch die Klarinette, der als eine der wenigen hier mit einem schönen dolce aufwarten kann. Die Fugati klingen sehr durchsichtig und ausdrucksvoll. Der Schlusssatz überzeugt am meisten, insgesamt gelingt Poppen im Vergleich eine stimmige Darbietung.
Der tendenziell schlanke Klang bietet eine sehr gute Transparenz, ist aber nicht sonderlich voll. In gewisser Weise ist er das Gegenteil zu den zuvor gelisteten Einspielungen von Muti und Gardner. Der Raumklang ist gut aber nicht gerade ausladend. Tendenziell klingt es eher trocken und der Orchesterklang könnte von einer etwas brillanteren Technik durchaus profitieren.
4
Claudio Abbado
London Symphony Orchestra
DG
1984
12:06 5:46 3:45 9:03 30:40
Sowohl die hellhöriger und sorgfältige Interpretation als auch das hochklassige Spiel des Orchesters hätten eine bessere Platzierung verdient, wenn die DG eine weniger waberndes, die Strukturen tendenziell verschleierndes Klangbild hervorgebracht hätte. Die klare Artikulation des Orchesters erscheint so nachhaltig konterkariert. Die Dynamik verpufft im Raum, das Nacherleben der Musik wird durch die weite Entfernung des Geschehens vom Hörer stark erschwert. Statt satter Klangfarben hört man nur pastell. Von körperhaftem Klang kann keine Rede sein, er erscheint trotz noch guter Differenzierung im Einzelnen ziemlich flächig. Doch nun zurück zur Musik. Das beginnende Andante führt uns zwar zurück ins Jahr 1530 mit den Plaestrina-Anklängen, die einschüchternde Schwelldynamik auf den einzelnen Tönen wird jedoch eher halbherzig ausgespielt., aber immerhin angedeutet. Im Allegro con fuoco verschwimmen die engagierten Streicherfiguren im Londoner Akustik-Nebel, trotz präzisen und impulsiven Spiels. Das stringendo 6 T. vor K gelingt Abbado überzeugend, das con fuoco 12 T. nach O angemessen vorantreibend.
Auch im 2. Satz werden dem präzisen Spiel der Londoner durch den langen Nachhall Klangfahnen zugegeben, die sie hinter sich herziehen. Man könnte meinen, das könnten die Fähnchen der Prozession sein, die Mendelssohn in seinem Brief angesprochen hat, aber soweit ging das Gespür der Techniker, wie wir meinen, nicht. Wir glauben vielmehr, dass da ein Klangideal im Spiel war, das sich nicht durchgesetzt hat. Gemeint war das von Abbado eher idyllisch, leicht und fast ungetrübt, ein Stück Sommernachtstraum inmitten der Reformation. Im 3. Satz werden die sf nahezu eingeebnet, er scheint uns im Ganzen zu laut und etwas zu flott. Auch für Abbado scheint der 3. Satz eher einen leichten Intermezzo-Charakter zu haben. Im 4. Satz vermeidet das LSO durch leichtes und lockeres Spiel jeden Anflug von unangemessener Monumentalität. Die Fugati klingen deutlich, wenngleich Abbado die Marcati eher etwas überprononciert und lange durchzieht. In den leiseren Partien zeigt die se Einspielung ihre Stärken, wenn der Klang von der Technik unbeeinflusst durchatmen kann. Ansonsten fühlt man sich bisweilen vom Klangcharakter her in eine Kathedrale oder an einen Dom versetzt. Ob dies Mendelssohn als passend erschienen wäre? Angesichts dieser Rahmenbedingungen standen Abbado und das LSO im Londoner Nebel nahezu auf verlorenem Posten.
4
Felix Prohaska
Orchester der Wiener Staatsoper
BnF, Vanguard
1952
10:42 4:30 3:53 8:51 27:56
MONO Diesmal konnte das genaue Aufnahmedatum und das Original – Label der Einspielung, die dem Download zugrunde lag, ermittelt werden. Die Platte zeigte kaum Laufgeräusche und einen recht guten, sehr dynamischen Mono-Klang. Es gab keine Verzerrungen und die Klangfarben erschienen ziemlich realistisch. Auch Prohaska verzichtet im Andante auf die schon oft angesprochene Schwelldynamik. Das Blech kommt ausgezeichnet zur Geltung und überhaupt scheinen die heiklen Verhältnisse der Orchestergruppen gewahrt. Durch die kräftigen Akzente des Blechs und die intensiven Figuren im Hauptsatz werden die Wogen im Hauptsatz ordentlich hoch getrieben, die Unerbittlichkeit eines Munch oder gar Mitropoulos wird jedoch nicht erreicht. Prohaska treibt die Wiener aber ordentlich an und fordert sie in der Durchführung mehr als Dohnanyi, mit zunehmender Dauer immer zugespitzter. Er schreckt auch vor Grellheiten nicht zurück. So weist der Satz eine stetig steigende Spannungskurve auf.
Im 2. Satz gelingt Prohaska ebenfalls mittels hellhöriger Lesart, kraftvollen Blecheinsätzen und flottem Tempo ein sehr aufgeweckter, frischer, gar aufmüpfiger Gestus. Ein Tanz auf heißen Sohlen. Im Gegensatz zum 3. Satz, dessen Diktion sehr zurückhaltend anmutet, mit fast zahm wirkenden sf. Hier vermisst man auch eine cantable Klanglichkeit, die vor allem den Violinen hier abgeht. Der Gestus zeigt kein Aufbäumen, kein Anklagen, wirkt eher wie ein Gespräch zwischen guten Bekannten. Der 4. Satz wird klar durchgezeichnet und zeigt großen Ernst. Echte Freude über die „feste Burg“ will jedoch nicht so recht aufkommen. Die Basslinie wird nicht so gut wiedergegeben, was den Fugati etwas Deutlichkeit nimmt. Der Darstellung fehlt als Ganzes etwas die Feinzeichnung, die klare Sicht auf, das, was die Sinfonie ausmacht ist gewährleistet.
4
Raymond Leppard
English Chamber Orchestra
Erato
1977
11.25 4:52 2:56 8:25 27:38
Nicht überall wo Kammerorchester drauf steht, ist auch Kammerorchester drin. So klingt diese Einspielung durchaus großformatig. Di Streicher dominieren sogar die Holzbläser, auch wenn beide Gruppen die gleiche Lautstärke zu spielen haben. Der letztlich in diesem Satz noch unentschiedene Kampf der und um die Glaubenrichtungen wird gut dargestellt, aber nicht explizit zugespitzt und erbittlich, wie bei den besten. Es stellt sich jedoch durchaus eine einnehmende Klanglichkeit ein. Erheblich leichtgewichtiger als z.B. bei Karajan oder Davis. Der 2. Satz gelingt sehr farbig, tänzerisch-beschwingt und temperamentvoll. Nicht besonders einfallsreich, nichts überzeichnet, nichts pauschal, aber es passt einfach. Das flotte Andante schnurrt ein wenig unbekümmert ab, man meint, Leppard könnte sich ruhig etwas mehr Zeit lassen, um sich richtig auf die Tiefen des kleinen Satzes einzulassen. Er macht aus der kurzen Seelenschau eine etwas zu unbedeutende Episode. Dafür weiß er den 4. Satz auf treffende Weise anzupacken. Das Andante trifft sehr gut den Choralcharakter. Im Allegro vivace muss man sich erst sammeln, bevor langsam aber stetig das Allegro maestoso losstürmt. Nebenstimmen erhalten hier jedoch mitunter nicht die Prägnanz wie in anderen Beitragen zur Diskographie. Auch das Zusammenspiel könnte hier noch etwas präziser sein.
Der Klang wirkt – wie bereits erwähnt – großräumig und transparent, er wirkt warm, farbig und offen. Die Staffelung ist ebenso gut, die Dynamik exzellent. Man glaubt hier eine der sehr guten, vollmundigen Philips-Aufnahme vor sich zu haben. Wahrscheinlich wollte man der etwa zeitgleichen Haitink-Einspielung keine Konkurrenz im eigenen Hause zur Seite stellen.
4
Colin Davis
Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Orfeo
1984
12:40 7:02 4:19 9:41 33:42
Zu Beginn stören hier kleinere Intonationsprobleme bei den Bläsern und unpräzises Zusammenspiel den erst später sehr guten, dann sogar glanzvollen Eindruck vom Orchester. Das „Dresdner Amen“ wir auch hier sehr schön als Verheißung intoniert. Der Antagonismus Bläser gegen Streicher wir gut ausgespielt. Nach der Durchführung klingt das „Dresdner Amen“ übrigens deutlich inbrünstiger und noch sehnsuchtsvoller als zuvor. Trotz der relativ zurückhaltenden Tempogestaltung fehlt dieses Mal die gemütliche Attitüde, die wir bei diesem Dirigenten schon mehrmals festgestellt haben. Das Klassizistische bleibt gegenüber dem hohen dramatische Druck anderer Einspielungen hier jedoch ein klein wenig dominant. Dem recht langsamen 2. Satz geht die tänzerische Komponente ziemlich ab. Hier klingt das Scherzo eher wie eine Prozession (allerdings keine langweilige). Dafür entschädigt etwas das mit schönen Holzbläserfarben und schönen Cantilenen gesegnete Trio. Sehsuchtsvolle Steigerungen lassen diese Sommernachtstraumidylle hier seltsam doppelbödig wirken.
Für den 3. Satz lässt sich Davis viel Zeit. Sie wird zu einem inbrünstigen Gebet genutzt, das von den wunderbaren Violinen des Orchesters liebevoll ausgestaltet wird. Die sf klingen hier sehr sanft. Im 4. Satz könnte der tatsächliche Unterschied zwischen den Tempi Andante und Allegro vivace wirklich größer sein. Alles wird auch sehr cantabel gespielt. In den Fugati wird das Marcato nur angedeutet. Das unaufgeregte Tempo wirkt hier nun doch etwas zu beschaulich. Hier könnte vielleicht die ganze Gemeide gleich mitsingen. Der Choral am Ende klingt festlich, fast monumental. Dies Burg steht unerschütterlich. Davis verzichtet in seiner ersten Deutung auf jede Verschärfung und Zuspitzung. Er sorgt so für eine „runde Angelegenheit“ für die Hörer, die genug Zeit mitbringen.
Der Klang der Aufnahme ist ziemlich weiträumig, aber nicht hallig, weich, rund und etwas gedeckt. Es fehlt etwas an anspringender Brillanz und Präsenz. Der Klang ist angenehm und gut konsumierbar. Die Dresdner Aufnahme ist dieses Mal in allen Belangen etwas überlegen.
4
Andrew Litton
Bergen Philharmonic Orchestra
BIS
2007
11:24 5:42 3:24 8:37 29:07
SACD Littons Einspielung hebt in erster Linie auf gediegene Brillanz ab. Das Orchester klingt prima, die Gegensätze werden jedoch nicht ausgereizt. Das Stringendo bei K klingt jedoch ziemlich mitreißend. Der Bläsersatz im 2. Satz, erneut sehr homogen und wohlklingend, kann nicht verhindern dass Litton aus dem Scherzo kein Funken schlagen kann. Den 3. Satz lässt er als einen sanftmütigen Klagegesang strömen, noch etwas fülliger im Klang als bei Gardner, der aber die Violinen etwas mehr zum leuchten bringt. Das Rezitativ klingt etwas starr. Der 4. Satz wird zwar dynamisch gut aufgebaut und unter einen Boden gestellt, krank jedoch etwas unter einem zu zurückhaltenden, wenig freudigen Impetus. Das Finale wird feierlich zelebriert.
Der Zugriff wirkt auf uns etwas zu entspannt und schwer. Das wirkt alles grundsolide, wir haben jedoch die Sinfonie schon atmosphärischer uns aussagekräftiger und leidenschaftlicher gehört. Die Dynamischen, artikulatorischen und agogischen Differenzierungsmöglichkeiten werden nicht ausgeschöpft.
Das Klangbild wirkt homogen, fast gedeckt und sehr milde und weich getönt. Es könnte etwas luftiger, brillanter und transparenter sein. Das gilt zumindest für den hier abgehörten CD-Layer.
4
Vladimir Ashkenazy
Deutsches Sinfonieorchester Berlin
Decca
1995
11:32 4:48 3:10 9:34 29:14
Auch Ashkenazy lässt die einzelnen Töne und Akkorde bei den Bläsern nur anschwellen, verzichtet aber auf das ebenfalls notierte Leiserwerden im beginnenden Andante. Die Durchführung wirkt weniger spannungsvoll als bei Abbado und beim Stringendo weniger zugespitzt. Das LSO spielte auch selbstverständlicher, lockerer und virtuoser. Das Tempo im 2. Satz wirkt gegenüber Abbado etwas angezogen, dynamisch könnte das Spiel aber kontrastreicher sein. Im 3. Satz verfügen die Violinen nicht über denselben Schmelz wie die Londoner Kollegen. Auch hier wirkt die Dynamik zu einheitlich, die Artikulation etwas unentschieden. Das Gebet wirkt so wie dahin genuschelt. Im 4. Satz begenet uns Einheitslautstärke. Auch die sf wirken nivelliert. 11 Takte nach H wirken die Staccati der 1. Violinen nur wenig griffig. Von L bis M fällt es Ashkenazy schwer, die Spannung zu halten. Der Klang der Decca-Aufnahme ist erheblich klarer als bei der von Abbados Einspielung und auch etwas präsenter. Er übertrifft aber die fast 20 Jahre ältere aus dem gleichen Haus unter von Dohnanyi keineswegs.
4
EFK
Leon Botstein
American Symphony Orchestra, New York
Eigenlabel des Orchesters
2013, LIVE
11:30 5:19 2:34 1:23 7:52 28:38
Der gebürtige Schweizer Leon Botstein und das Orchester, dem er seit 1992 als Chef vorsteht, bieten im 1. Satz eine sauber, dynamisch und klangschön gespielte, großformatige Gestaltung. Durchaus auch kontrasreich und spannend. Das „Dresdner Amen“ ist jeweils zu laut und ohne Geheimnis (kein geheimes Versprechen, keine Verheißung) gespielt und wirkt veräußerlicht. Das Tänzerische im 2. Satz kommt hingegen tempomäßig und auch durch hochklassiges Spiel gut zur Wirkung. Im 3. Satz könnte das Rezitativische des Mittelteils flexibler und nachdrücklicher herausgearbeitet werden, es geht zu geradeaus und zu glatt durch. Die Flötenkadenz wird ein wenig al Fresko und zu hurtig durchgepeitscht. Wir hätten uns diese Passage gefühlvoller gewünscht. Im 4. Satz intoniert Botstein das Andante bereits schnell, als sei die Burg schon zu Beginn des Chorals fest und stabil. Erst mit Eintritt aller Stimmen bildet sich die Festigkeit jedoch erst aus. Tempomäßig gelingt dann keine Steigerung mehr zum Allegro vivace. Das Allegro maestoso wird dann sehr schnell genommen, aber dabei viel zu wenig dynamisch differenziert Ein pp wird hier zum mf.
Insgesamt liegt hier eine Temporeiche Darstellung vor, die aber zu wenig auf die Charaktere der einzelnen Sätze eingeht und dynamisch etwas zu paushal und undifferenziert (pauschal) vorgeht.
Der Klang ist in Breite und Tiefe sehr gut differenzeirt, offen und brillant, zudem sehr transparent und dynamisch.
4
Kurt Masur
Gewandhausorchester Leipzig
Teldec
1989
9:56 5:11 2:45 7:31 25:23
Kurt Masur hat unserer Kenntnis nach als einziger der Nachfolger Mendelssohns als Gewandhauskapellmeister die 5. Sinfonie nicht nur für den Rundfunk eingespielt, sogar zwei Mal. Die neuere vom Jahr der Wiedervereinigung ist dabei die bessere. Die Dtreicher, insbesondere die Violinen klingen hier deutlich seidiger und frischer als 1972. Aber an aktuellere Aufnahmen mit Blomstedt oder Chailly kommt die Orchesterleistung bei weitem noch nicht heran. Uns kam das Spiel stets leicht flüchtig und immer noch relativ wenig detailliert vor. Dem Blech fehlte es demgegenüber auch etwas an profunder Strahlkraft und der Kampf der Kräfte erscheint lediglich als Sparring in dem es um nichts wirklich Existenzielles geht. Die Bläser rücken gegenüber den Violinen meist ins zweite Glied. Masur übertrifft das Temo seiner älteren Aufnahme, kann aber keinen Spannungsgewinn oder Funken daraus schlagen. Andere konnten den Kopfsatz der Sinfonie schärfer profilieren.
Den 2. Satz hält Masur im natürlichen Fluss. Er gelingt nun mit etwas mehr Esprit. Das Trio erklingt mit noblen Bläserfarben und schön herausgearbeitetem „Flötengezwischer“, das sich nun etwas besser vom Gesamtklang abheben kann. Das Orchesterspiel ist ist nun deutlich lockerer und geschmeidiger als 1972. Im 3. Satz bleibt Masur seiner Linie treu. Für ihn ist er nur ein Lied ohne Worte mit einem fast lieblichen Grundgestus. Er scheut hier das Inständige oder gar Inbrünstige zu intensivieren. Die Gestaltung erschien uns jedoch liebevoller ausgestaltet als noch 27 Jahre zuvor.
Im 4. Satz beginnt die Flöte mit zu viel Vibrato. Das Allegro vivace ist träge und ohne Biss. Das Maestoso stürmt dann ziemlich unmotiviert los. Die Fugati gelingen deutlich transparenter und auch etwas bewegter als noch zuvor. Trotz des objektiv schnellen Tempos kann aber der letzte Satz auch nicht voll überzeugen. Das Spiel wirkt vom Impetus her immer noch recht verhalten und zu routiniert. Die Spielzeit gegenüber seiner älteren Einspielung ist übrigens im 4. Satz auf die Sekunde gleich.
Der Klang der neueren Version ist deutlich luftiger und transparenter, farbiger, sehniger und brillanter als zuvor.
▼ eine weitere Aufnahme desselben Dirigenten folgt weiter unten in der Liste
3-4
Paul Paray
Detroit Symphony Orchestra
Mercury
1958
10:26 5:33 3:39 8:00 27:38
Parays Beitrag weist im 1. Satz eine sehr nivellierte Dynamik auf. Ein richtiges p oder gar pp gibt es nicht. So werden auch die Kontraste verschliffen bzw. gänzlich verschenkt. Die Streicher spielen fast historisierend mit sehr wenig Vibrato. Die Balance im Orchester ist zu ihren Gunsten verschoben. Nur wenn die Bläserstimme ganz offen liegt ist sie gut zu hören. Sie spielen meist leichtfüßig aber zumeist auch tendenziell dünn. Den 1. Satz hat man aber schon viel dramatischer und detailreicher gehört. Erst nach dem dritten „Dresdner Amen“ klingen die Violinen einmal richtig weich und auch sehnsuchtsvoll. Erst ab 12.Takte nach O (mit con fuoco) wird der Gestus mitreißender. An die damals in direkter Konkurrenz stehende Living Stereo mit Charles Munch kommt diese Einspielung in keiner Weise heran.
Im 2. Satz erscheint die Aufnahme besser eingepegelt worden zu sein, jedenfalls wirkt sie nun wesentlich dynamischer und die Violinen klingen nicht mehr so kreischend (übersteuert) und weicher. Die Oboe im Trio klingt ausgemergelt, die Celli wissen es aber wieder mit herrlichem Klang wettzumachen. Der Gestus wirkt flexibler und tänzerischer als bei zuvor gehörten Norrington. Im 2. Satz stimmt auch die orchestrale Balance viel besser und es wird mit mehr Anteilnahme musiziert. Der 3. Satz erklingt schlicht und einfach, quasi in aller Bescheidenheit. Den Violinen fehlt es deutlich an Glanz, nicht aber am Ausdruck. Fast hört es sich nach früher historisch informierter Aufführungspraxis an, nur sind hier mehr Pulte besetzt.
Der 4. Satz beginnt mit einem geradlinigen Choral, offen und mit schneidigem Blech intoniert. Das Allegro maestoso, nun geschwind und erneut mit scharf würzendem Blech garniert fällt wieder in die Untugenden des ersten Satzes zurück. Es gibt wieder kein pp oder p, die Violinen klingen wieder sehr angestrengt und rau. Die Celli hingegen bekommen ihr dolce sehr schön hin. Die Hörner mit ihrem indirekten Schalldruck sind hier im Bläsersatz die Verlierer, die Posaunen die Trümpfe. Ausgewogen klingt anders.
Während die Mittelsätze bei Paray noch überzeugen können, erscheinen die Ecksätze weniger gut durchgeformt und teilweise etwas zu grob und hemdsärmelig.
Klanglich sehr präsent rauscht diese Einspielung vernehmlich. Sie könnte bei aller Präsenz jedoch durchaus transparenter sein, was auch an der teilweisen Dominanz der Streicher liegen könnte, die zudem auch noch meist hart klingen. Diese Aufnahme fällt gegenüber der gleichzeitig entstandenen Living Stereo deutlich ab.
3-4
Claus Peter Flor
Bamberger Symphoniker
RCA
1990
11:28 5:25 3:11 7:25 27:29
Die Polyphonie zu Beginn könnte deutlicher intoniert werden. Akzente werden einer sanften Diktion untergeordnet. Das „Dresdner Amen“ wird jedoch für sich genommen einnehmend gestaltet. Die Dynamik wirkt nicht sonderlich kontrastreich. Meist wird an der ersten Violinstimme entlang musiziert. Die Durchführung wirkt eher harmlos. Das Stringendo 7 T. nach K gelingt ganz gut. Das ff bei L ist wenig durchdringend. Die das Existenzielle berührende Ausdruckskraft eines Bernstein oder Mitropoulos sucht man hier vergebens.
Das zuvor noch etwas entfernt wirkende Orchester rückt im 2. Satz etwas näher an den Hörer heran und klingt nun präsenter, was vor allem für die Bläser gilt. Sie können sich nun mit sonorem und einschmeicheldem Klang profilieren. Auch die Streicher zeigen nun ihr Potential an Cantabilität. Mehr moderato als vivace wird der tänzerische Charakter gerade noch gewahrt, mehr solide als inspiriert.
Der 3. Satz, hier ein schreitendes Andante, leidet ein wenig unter der starren Artikulation. Das könnte sprechender klingen, dynamisch ausdrucksvoller. Ingesamt wird das Potential des Satzes nicht ausgeschöpft.
Zu beginn des 4. Satzes wird das Andante zu einheitlich durchgezogen, der Eindruck eines Al Fresko drängt sich auf. Ein Eindruck, der sich auch im flott genommenen Allego maestoso nicht ändert. Die barocken Elemente, von den Studien an der Musik Bachs, deren Renaissance Mendelssohn ja herbeiführte, sehr bekannt und geläufig, hätten einer transparenteren Behandlung bedurft.
Der Klang wirkt meist leicht entfernt. Vor allem die Bläser könnten deutlicher aus dem Gesamtklang herauszuhören sein. Das Klangbild ist streicherlastig. Die Klangfarben mehr pastellfarben als kräftig, mehr gedeckt als brillant. Zu Beginn klingt es gar wie wattiert, wie durch und durch weichgezeichnet und daher auch weniger transparent.
3-4
Alfred Scholz
London Symphony Orchestra
Pilz, VMS, Digital Concerto, Elap, Aurophon, Classical Gold, Onyx, Selected Sound, Rondo Classic
Als P Angaben von 1988 bis 1994
11:02 5:21 3:15 8:35 28:27
Der Dirigent und Produzent Alfred Scholz, der von sich behauptete Schüler von Hans Swarowsky gewesen zu sein und eigene Aufnahmen auch gerne unter Pseudonymen herausgegeben (z.B. Alberto Lizzio) und Aufnahmen anderer Dirigenten mit Fantasienamen versehen hat, wurde auch in Sachen Mendelssohn tätig. Eine stattliche Anzahl Labels veröffentlichten die Einspielung der 5. Sinfonie Mendelssohn, zumeist zusammen mit der Italienischen aber auch in anderen Zusammenstellungen. Ein Aufnahmejahr konnte auf keiner entdeckt werden. Da wir dem seltsamen Geschäftsgebaren hier nicht auf den Grund gehen wollen, wenden wir uns lieber dem Musikalischen zu. Wenn Herr Scholz auch gerne denselben Lehrer wie Abbado, Mehta, Gelmetti, Jansons, Sinopoli oder Ivan Fischer gehabt hätte oder tatsächlich hatte, kann er doch nicht ganz mit deren dirigentischen Fähigkeiten mithalten, zumindest was diese Sinfonie anlangt. Das Musizieren an der 1. Violinstimme entlang ist ohrenfälliger als üblich. Der „Sound“ des LSO, eines der besten Orchester weltweit, ist zwar solide aber erheblich schlanker und braver als der das New Philharmonia beim gerade zuvor gehörten Sawallisch. Von furioso findet man bei Scholz keine Spur. Das Spiel ist weder kontrastreich, noch besonders zugespitzt (z.B. beim stringendo). Lasch ist es aber auch nicht und den Eindruck einer soliden Leistung gewinnt man schon, zumal sich das Orchester nicht unmotiviert anhört. „Bäume“ reißt es aber nicht gerade aus. Bei Abbado klang es jedoch erheblich finessierter. Gegen Ende des 1, Satzes kommt es sogar noch richtig in Fahrt, ohne aber in tiefere Ausdrucksregionen vorzustoßen. Im 3. Satz könnte etwas genauer artikuliert werden, ein Unterschied zwischen dolce in den Außenteilen und dem Rezitativ in der Mitte ist nicht zu erkennen. Die Flöte hätte etwa gebändigt werden müssen. Auch im 4. Satz beginnt sie mit zu viel Vibrato. Das Allegro vivace ist lahm, die Pauke wird mit mahnender Wucht geschlagen, wobei uns die Funktion dieser Maßnahme an dieser Stelle nicht klar wurde. Im Allegro maestoso, das in schlanker Tongebung erklingt, hören wir recht deutliche Fugati, die sich hier mehr nach Mozart als nach Bach oder Mendelssohn anhören. Die Basslinie könnte deutlicher sein. Die dynamischen Gegensätze klingen halbherzig. Der Klang der Aufnahme ist recht präsent und ziemlich transparent. Die Klangfarben sind in Ordnung. Insgesamt nur eine Durchschnittsproduktion.
3-4
Mario Bernardi
Calgary Symphony Orchestra
CBC Records
1992
11:32 6:43 3:40 8:58 30:53
Diese Einspielung auch Kanada wurde mit größerer Sorgfalt produziert. Wir hören hier ein sonores, sehr gut differenziertes Klangbild, plastisch und recht klangfarbenstark. Das Orchester macht einen guten Eindruck. Die diffizile Dynamik besonders im Andante des 1. Satzes wird jedoch etwas eingeebnet, insbesondere die sf erscheinen sehr zahm. Gegenüber dem gerade danach gehörten Bernstein fehlt der dramatische Zugriff überdeutlich. Stringendo und con fuoco lassen viel Spielraum nach oben, wenngleich sie auch noch nicht lasch wirken.
Der 2. Satz wirkt noch tänzerisch aber beschaulich, zu wenig vivace. Im 3. Satz wäre das richtige Tempo gewählt worden, die Diktion ist jedoch zu gleichförmig, um das „Alleinsein“ in der Situation eines Gebetes zu zeigen. Der nur ganz leicht spröde Klang der 1. Violinen könnte noch ein klein wenig ausdrucksvoller klingen.
Im 4. Satz wirkt der Zugriff teilweise zu unbeteiligt und betulich. Der dramatische Zugriff fehlt fast gänzlich. Kaum wird einmal eines der zahlreichen sf zu Gehör gebracht.
3-4
Reinhard Seifried
National Symphony Orchestra of Ireland
Naxos
1994
12:40 6:50 4:52 8:43 33:05
Auch Seifrieds Einspielung kann eine gewisse Nähe zur Karajan-Version nicht leugnen. Allerdings lässt er die Schwelltöne innerhalb eines fast auratischen, extrem getragenen Andantes sehr deutlich hören. Fast hat man den Eindruck, er möchte sein Vorbild noch übertreffen, indem er das „Dresdner Amen“ im Nichts verschwinden lässt. Eine Fata Morgana? Die schnellen Streicherpassagen gelingen (nicht zuletzt wegen des Halls in der Aufnahme) nur undeutlich und verschwommen. Die Legato-Kultur der Berliner lässt sich nicht ohne weiteres kopieren. Das con fuoco ist sehr weit vom Siedepunkt entfernt, die sf eher sanft und weich. Der Kampf wirkt, als würden die Kontrahenten gar nicht erst richtig von der Leine gelassen. Da fehlt einfach die „Pranke“, also ein Schuss Aggressivität oder ein mitreißender Zug im Spiel.
Der 2. Satz klingt viel zu gemütlich. Das ist kein Allegro und auch kein vivace. Auch hier wird wohl versucht, das Tempo und auch den Gestus Karajans nachzuahmen, aber das Resultat ist doch unterschiedlich. Bei Seifried wirkt es lange nicht so detailverliebt und stilvoll. Dem Orchester fehlen die genialen Solisten der Berliner, die den Gestus erst plausibel und lebendig werden lassen. Die Iren geben sich hörbar alle Mühe und spielen auch schön, es fehlt jedoch das gewisse Etwas.
Das Gebet im 3. Satz (sehr langsam), auch auf Karajans Pfaden wandelnd, gerät zu einer eher meditativen Angelegenheit und wirkte auf uns fast schon weinerlich. Davon war Karajans Drama weit entfernt.
Der 4. Satz beginnt allzu getragen, dem maestoso wird die hallige Aufnahme fast zum Verhängnis. Sie verschleiert die Konturen nachhaltig, noch nicht ganz, wenn nur die Streicher und das Holz gemeinsam agieren, sondern wenn zudem auch noch das Blech einsetzt. Seifried kann hier auch kaum Spannung aufbauen. Er pendelt zwischen aufdringlichem Auftrumpfen und blassem frömmeln. Trotz des eigentlich passenden Tempos fehlt es an Biss. Man vermisst auch den großen Bogen und den energischen Zug. Das Beste an dieser Einspielung ist das Andante im 1. Satz, dem der Dirigent eigenständiges Profil verleiht.
Der Klang ist nur im Andante des 3. Satzes angenehm gerundet und zu Beginn des 1. Satzes noch transparent. Bei höheren Lautstärken wirkt er jedoch zu hallig und verunklart die Strukturen.
3
Kurt Masur
Gewandhausorchester Leipzig
RCA
1972
10:22 5:03 2:32 7:31 25:28
Die Balance innerhalb des Orchesters ist zuungunsten der Bläser verschoben, besonders das Holz zieht dabei den Kürzeren. Die Violinen dominieren den Gesamtklang über Gebühr, noch mehr als in der späteren Einspielung. Das nimmt dem Satz viel seines Profils. Obwohl Masur eines der schnellsten Tempi überhaupt vorgibt, fehlt es entschieden an Intensität. Auch scheint die Homogenität und das Zusammenspiel mitunter gefährdet, was dem Spiel einen oberflächlich und gehetzt wirkenden Gestus verleiht. Masurs Konzept geht unserer Ansicht nach nicht auf. Man hat den Satz schon viel besser gespielt, tiefer empfunden und inspirierter gehört.
Der 2. Satz gelingt demgegenüber etwas besser, wobei auch er flexibler und detailreicher gestaltet werden könnte. Zu gerade und ohne Spielwitz wird er durchgespielt. Im 3. Satz spielen die 1. Violinen in einem schnellen, relativ ungerührten Tempo ihre Stimme, ohne gestische Intensivierung. Das Rezitativ gelingt etwas eindringlicher. Alles wirkt „sehr“ einfach, uninspiriert und nur den Noten folgend.
Im Andante con moto des 4. Satzes liegt ein zu homogenes Klangbild vor, das zu wenig von der Faktur der Komposition erkennen lässt. Die einzelnen Stimmen laufen in einem gemeinsamen Strom, ohne etwas von ihrer Individualität preiszugeben. Das Allegro vivace wirkt träge, ohne jede Zuspitzung und nicht als Übergang zum Allegro maestoso, das so unmotiviert und wie von der Tarantel gestochen losspurtet. Das erste Fugato könnte differenzierter gegeben werden, da dominiert der etwas zu hektische Gestus. Dass das Orchester auch damals schon gute Musiker hatte und schön spielen konnte, zeigen vor allem die Celli. Das zweite Fugato wirkt wie hingenudelt, wie auch der anschließende Entwicklungsverlauf. Fast hat es den Eindruck, dass sich Masur noch schnell für den 100 m-Lauf der im Jahr der Aufnahme stattfindenden Olympiade in München qualifizieren wollte. Es fehlt schmerzlich an liebevoller Detailmodellierung bei Dynamik und Artikulation, es dominiert ein uninspiriertes Al Fresko. Wenn Masur, sollte der Musikfreund zu seiner neueren Teldec-Produktion greifen.
Auch vom Klang her kann diesmal keine Wunderaufnahme vom VEB-Schallplattenkombinat vermeldet werden. Es fehlt an räumlicher Tiefe, Transparenz und Brillanz.
Die Einspielung vermittelt leider nur eine enttäuschende Begegnung mit Mendelssohns damaligem Statthalter in Leipzig.
3
Gaetano Delogu
Tschechische Philharmonie, Prag
Supraphon
1977
11:07 5:24 3:21 8:14 28:06
Delogus Einspielung wird von ihrem Klang korrumpiert. Es fehlt ihm an natürlicher Rundung und er wirkt nicht sonderlich transparent. Der Klang wirkt über weite Strecken, obwohl die Quelle eine CD war, als sei der Abtaster einer Schallplatte übermäßig mit Staub kontaminiert. Die Tendenz zur Härte und Schärfe trifft vor allem die Violinen. Der Gesamteindruck wirkt matt, eigentlich für eine so späte Analog-Aufnahme desaströs. Die uns wohlbekannte hohe Qualität des tschechischen Vorzeigeorchesters ist, wenn überhaupt, nur ganz rudimentär zu erkennen.
Musikalisch hat die Einspielung einiges mehr zu bieten. Delogu lässt den Kopfsatz ähnlich Toscanini intonieren. Schroffe Akzente in der Einleitung, zupackendes, anspringendes Temperament in der stürmischen Durchführung. im 2. Satz, tänzerisch und rhythmisch prononciert, klebt der Klang förmlich an den Instrumenten fest, es kommt zu keinem Gesamtklang. Das Orchester spielt engagiert, mitunter gar zugespitzt. Der Klang aber wirkt so extrem ausgezehrt, dass der Hörer unwillkürlich auf Distanz geht. Auch im 3. Satz fehlt dem Orchester jeglicher Glanz. Die Violinen spielen hier ohne jede Emphase. Hier könnte ausdrucksvoller und detailreicher phrasiert werden. Die trefflicheTemponahme hätte dies ermöglicht. Auch im 4. Satz gefällt die Tempogestaltung. Die Fugati könnten aber deutlicher sein. Eigentlich liegt hier eine im Großen und Ganzen recht stimmige Einspielung vor, die durch die desolate Überspielung fast unanhörbar gemacht wird. Delogu lässt es aber auch an feiner Detailaushörung fehlen.
10.6.2021